Mensch trifft System – Interview mit Georg Tafner

Mensch trifft System

Interview mit Georg Tafner

Tafner
Georg Tafner ist Hochschulprofessor für Bildungsforschung und sozioökonomische Bildung an der PH Steiermark und Leiter des Bundeszentrums für Professionalisierung in der Bildungsforschung. Er lehrt an der Karl-Franzens-Universität Graz und der Humboldt-Universität zu Berlin.

Herr Tafner, abstrakte komplexe Gebilde werden heute schnell als Systeme bezeichnet, ohne zu wissen, was darunter genau zu verstehen ist. Ganze Wissenschaften erforschen Entstehung, Entwicklung, Einfluss und Beeinflussung von Systemen. Was bringt uns das Nachdenken über Systeme?

Ein soziales System – und nur davon schreibe ich hier – besteht aus Elementen, die miteinander in Beziehung stehen und ein gemeinsames Ganzes ergeben, das sich von der Umwelt, also dem Nicht-System, durch eine bestimmte Logik unterscheidet, aber dennoch mit der Umwelt in Beziehung steht. System ist demnach das Betrachtete und alles andere ist Umwelt. Umwelt und System sind dadurch von der Betrachtung abhängig und ändern sich mit der Perspektive. Das Nachdenken über Systeme ist häufig ein Nachdenken über diese bestimmte Logik eines Systems mit seinen Regeln, die zur Erklärung oder gar zur Legitimation von Handlungen führen kann.
In Ihrer Frage liegt schon der Hinweis auf die Antwort: Das Denken in Systemen geht oftmals mit Funktionalismus einher, der von Zweckrationalität und Nutzen gespeist wird. Das Argument System ist dann die Antwort auf die Frage, wie wir uns verhalten sollten, damit unser Handeln etwas bringt. Der Begriff System taucht heute vor allem im sozioökonomischen Kontext auf und wird oftmals zu einer normativen Setzung, indem der vermeintlichen Logik des Systems zu folgen sei. Obwohl die Beziehungen als Kommunikation beschrieben werden, wird kaum davon gesprochen, dass die Elemente immer Menschen sind. Der Mensch als Ganzes ist immer Individuum und Gemeinschaftswesen, er ist in seinem Verhalten bedingt frei und kann im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, innerhalb der vorgegebenen Bedingungen, selbst entscheiden, wie er sich verhält. Auch wenn die Logik des Systems entweder unser Denken über Alternativen oder tatsächliche Handlungsspielräume eingrenzt, die bedingte Freiheit, wie sie Peter Bieri beschreibt, gibt es dennoch. Systeme sind Konstrukte und daher veränderbar: sowohl in unserer Wahrnehmung als auch in ihrem vermeintlichem oder echtem Sein.

Woran bemerkt man Systeme im Alltag? Sind Sie in Ihrem Leben einmal einem System begegnet, haben sich daran gestoßen oder wurden dadurch gar unterstützt? Wie sind Sie damit umgegangen?
Soziale Systeme sind, wie oben beschreiben, Konstrukte, nichts Natürliches. Sie sind Erklärungsversuche. Ich treffe deshalb Systeme in meinem Kopf. Dort können sie meine Handlungen erleichtern oder erschweren, indem sie mir in meinem Kopf eine Logik vorgeben. Was wir tatsächlich mit positiven und negativen Gefühlen wahrnehmen, sind Regeln, die unser Zusammenleben strukturieren. Solche Institutionen können regulativ in Form von Gesetzen, normativ in Form von Werten, Konventionen oder Moral sein oder auch Selbstverständlichkeiten. Selbstverständlichkeiten strukturieren unser Leben am stärksten, weil sie durch Nachahmung weitergegeben werden und sie uns gerade wegen ihrer Selbstverständlichkeit nicht bewusst sind, sondern implizit wirken. Institutionen spüren wir, wenn wir oder andere sie überschreiten. Dann spüren wir sie körperlich, dann hat das mit positiven oder negativen Gefühlen zu tun. Ähnlich verhält es sich mit Macht. Macht und Institutionen führen zu Strukturen, die dann auf höherer Ebene m.E. als Systeme bezeichnet werden. Macht und Regeln können wir positiv oder negativ wahrnehmen. Der Umgang mit Macht und Ohnmacht sowie dem Ermöglichen oder Verunmöglichen durch Institutionen zeigt Grenzen und Bedingungen auf. Die Kunst ist es, dennoch darin frei zu bleiben und zu unterscheiden, was ich als Einzelner verändern kann und was meine Möglichkeiten einfach übersteigt. Das ist immer eine Einzelfallentscheidung in einer ganz bestimmten Situation.

Perspektiven und Meinungen junger Menschen werden in systemrelevanten Entscheidungen – sei es in der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft etc. – kaum berücksichtigt. Von systemverursachten Krisen hingegen sind sie besonders betroffen (Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Rentenausfall, Umweltzerstörung). Welchen Rat geben Sie dieser Generation?

Ihre Frage ist eine lebensweltliche, weshalb ich auch so antworte: Wir haben drei Kinder, wobei die beiden Älteren am Sprung in die Selbstständigkeit sind. Unsere Erziehung lief dabei immer in eine Richtung: Sie müssen ihren Weg finden; sie sollen das machen, was ihnen Freude und Erfüllung bereitet. Nicht in egoistischer Form, sondern im Bewusstsein des Eingebunden-Seins des Menschen in die Gesellschaft: Selbstbestimmungs- und solidaritätsfähig, wie Wolfgang Klafki das nennt. Nicht immer wird dieses Ideal zu erfüllen sein, aber das Ideal ist notwendig, um Motivation und Volition aufzubringen. Einbringen können sie sich als mündige Bürgerinnen und Bürger, indem sie die aktiven und passiven Möglichkeiten der Demokratie auf unterschiedlichen Ebenen von der Schule bis zur Europäischen Union nutzen und sich, wenn sie das wollen, in Vereinen engagieren. Und noch etwas: Angst ist selten ein guter Begleiter und Zukunftsangst bringt niemanden weiter. Gelassenheit und Unterscheidung sind für die Kontingenzbewältigung notwendig – um hier paradoxerweise auf einen Begriff Luhmanns im Kontext von Religion zurückzugreifen, den ebenso Hermann Lübbe verwendet. Zum Ausdruck kommt diese Kontingenzbewältigung in einem sehr bekannten Gebet: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,  den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“


Seit Luhmanns Systemtheorie glaubt niemand mehr daran, dass sich soziale Systeme von Einzelpersonen verändern lassen. Trotzdem wächst das Unbehagen gegenüber Systemen, wie dem Wirtschaftssystem oder dem Staatssystem. Mal utopisch gefragt: Kann es eine systemfreie Zukunft geben?
Allaussagen, wie sie z.B. in dieser Frage definiert ist, sind immer falsch. Und dennoch blitzt in der Frage Wahres durch: Seit Luhmann „glaubt“ niemand mehr an Veränderungen durch Personen. Richtig ist das Wort „glauben“ in diesem Kontext, denn es scheint für manche, einige, viele, aber sicher nicht für alle unmöglich zu sein – im Positiven wie im Negativen. Systeme scheinen systematisch das Potential von einzelnen Personen und Kontingenzen zu unterschätzen.
Kaum jemand wird m.E. so einseitig interpretiert wie Luhmann. Er spricht über seine Systemtheorie als eine Beschreibung zweiten Grades. Was aber passiert mit seinen Beschreibungen? Sie werden heute gerne normativ interpretiert, vor allem von bestimmten Vertretern der Ökonomie und Ökonomik. Der Idee der Subsysteme folgend, wird auf die autonome Wirtschaft geschlossen. Damit wird ein Modell aufgestellt, das rein ökonomisch funktioniert. Dieses Modell wird wohl als wertfrei verkauft, doch wird es als Handlungsanleitung empfohlen und als Ethik verstanden. Aus der Beschreibung Luhmanns ist damit Normatives geworden: Aus dem durch die Luhmann’sche Brille Beobachteten wurde Normatives – ein naturalistischer Fehlschluss. Das Modell wurde zur Ethik, reifiziert sich und wird zur Wirklichkeit. Das an der Systemlogik des reinen Selbstinteresses und Nutzenmaximums ausgerichtete Handeln wird zur Richtschnur nicht nur in der Ökonomie und schon gar nicht nur in der Ökonomik! Aber: Der Mensch ist gar nicht so zweckrational, so egoistisch und nutzenorientiert, so konsequentialistisch, wie die Standardtheorie besagt. Ein solches Handeln ist – wie auch Philosophen und Soziologen ausführen – mehr Legitimation nach außen als tatsächliche Handlungsstruktur. Nach außen geben Menschen als Individuen oder Vertreter von Organisationen vor, so zu sein, um der Richtschnur – oder dem System? – scheinbar zu entsprechen. In Wahrheit handeln Menschen auch wertrational, affektiv und traditionell oder verhalten sich unbewusst oder bewusst irrational, geben aber nach außen vor, rein zweckrational gehandelt zu haben. Beobachtet (!) wird damit ein Tun, das als rein zweckrational und nutzenorientiert erscheint. Luhmann scheint bestätigt zu sein. Dieser Schein blendet viele, scheint zu einem Kern unserer Kultur selbst geworden zu sein. Anders gesagt: Unser Handeln ist weniger systemkonform als wir glauben. Ist das utopisch?