Alles wird infrage gestellt werden – Günter Wallraff im Interview

Alles wird infrage gestellt werden

Interview mit Günter Wallraff

 

Herr Wallraff, der Begriff der Arbeit ist eng mit der Vorstellung von gesellschaftlichem Zusammenleben, von Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie verbunden. Hängt in einer Gesellschaft letztlich alles davon ab, welche Rolle der Arbeit zugesprochen wird, wie sie definiert und praktiziert wird? Was ist Ihre Definition von Arbeit?

Günter Wallraff ist durch diverse Reportagen über deutsche Großunternehmen bekannt geworden. Nach der zehnten Klasse verließ er das Gymnasium und begann eine Buchhändlerlehre, die er 1962 abschloss. Aufgrund seiner beharrlichen Weigerung eine Waffe in die Hand zu nehmen, wurde er beim Militärdienst zehn Monate lang schikaniert. Wallraff führte Tagebuch, aber die Bundeswehr verlangte von ihm, jegliche Veröffentlichung zu unterlassen. Als er das ablehnte, wurde er in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie des Bundeswehrlazaretts Koblenz eingewiesen. Nach einigen Wochen wurde er, wie er sagt, mit dem „Ehrentitel abnorme Persönlichkeit, für Frieden und Krieg untauglich, Tauglichkeitsgrad 6” wieder in die Freiheit entlassen. Die Veröffentlichung seiner Tagebücher aus der Zeit beim Militär war seine erste Enthüllungsgeschichte.

Arbeit sollte kein Selbstzweck sein – wie es in unserer Gesellschaft inzwischen leider Realität geworden ist. Das endet in Arbeitszwang, in „Arbeit um jeden Preis“ und führt dann dazu, dass diejenigen, die keine Arbeit haben, jede Arbeit verrichten, um dazuzugehören. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die den Menschen danach beurteilt, was er leistet und nicht, was er erleidet. Zugleich hat sich die Bewertung von Leistung und Arbeit ins Gegenteil verkehrt, so dass die Menschen, die oftmals am meisten leisten, die größten Entbehrungen auf sich nehmen, die eigentlichen Dienste an der Allgemeinheit leisten, dafür auch noch verachtet und in der gesellschaftlichen Rangordnung nach unten gedrängt werden – dies betrifft zum Beispiel die Pflegeberufe. Das ist eine Schieflage, die die ganze Gesellschaft ruiniert, die die Demokratie unterhöhlt. Wir leben in einer Situation, in der sich eine schmale Gesellschaftsschicht über die anderen erhebt, sich selbst Vorbildcharakter zuspricht, sich selbst feiert und mit dem Rest der Gesellschaft nichts mehr zu tun hat. Sie definieren Arbeit nur als wertvoll, wenn sie ihnen die Taschen füllt – den Gebrauchswert, den Gehalt, den sinnstiftende Charakter von Arbeit kümmert sie nicht.

Sie sprechen von einer Spaltung der Gesellschaft: auf der einen Seite die, die immer mehr haben …

Ich spreche von einer Kastengesellschaft. Man sprach in Deutschland bisher von der Klassengesellschaft, aber diese wandelt sich gleichzeitig immer mehr in eine Kastengesellschaft. Schließlich ist es bereits heute schon so, dass die Mitglieder der Oberschicht nur noch untereinander verkehren, untereinander heiraten, ihre eigenen Clubs und Rituale pflegen und sich letztlich als etwas Besseres dünken und auf die anderen herabblicken. Der Gegenpol dieser Kaste ist eine abgehängte Schicht, in der Armut vererbt wird. Hier werden Kinder in Armut hineingeboren und haben dann kaum mehr Chancen ihr zu entkommen.

 

In einer Talkshow haben sie einmal ein Beispiel für die Abgehobenheit der Oberschicht angeführt: Bei einer exklusiven Charity- Veranstaltung für die angesehene Stiftung „Menschen für Menschen“ von Karl-Heinz Böhm blieben nach Abzug der Kosten zehn Euro Spende pro Teilnehmer übrig…

Da wurde unter dem Siegel „Event-Charity“ bei Hummer und Kaviar geschlemmt. Das Ergebnis zeigt, wie sozial solche High-Society Veranstaltungen tatsächlich sind. Der frühere Finanzminister Peer Steinbrück hat es in seinem Buch Unterm Strich als Insider treffend ausformuliert: „Von einer Parallelwelt darf auch mit Blick auf eine prosperierende Oberschicht gesprochen werden, die sich in einer eigenen Wirklichkeit eingerichtet hat. Sie teilt paradoxerweise das Gefühl der Unterschicht, nicht mehr dazuzugehören, nur aus anderen Gründen… Das Biotop an der Spitze zeichnet sich durch ein asoziales und amoralisches Verhalten aus, das deshalb so ärgerlich stimmt, weil diese Schicht über alle Voraussetzungen verfügt, zum Wohl des Gemeinwesens beizutragen. Ich bin in all den Jahren als Minister und als Privatperson Maklern, Investmentbankern, Beratern und Jungunternehmern begegnet, die von einer erschreckenden Dünkelhaftigkeit, Selbstbezogenheit und Herablassung gegenüber dem ‚gemeinen Volk’ waren.“*

 

Glauben Sie, dass die Probleme innerhalb des bestehenden Systems zu lösen sind? Oder brauchen wir eine Revolution?

Ich warne davor, ein Paradies zu entwerfen, in dem plötzlich alles radikal anders, vollendet und perfekt ist. Alle Heilsversprechen, die mit dem besten aller Gesellschaftsmodelle winken, sind gehörig daneben gegangen; zudem stellten solche radikalen Veränderungen „Versuche am lebenden Menschen“ dar. Es geht dar- um, unsere demokratischen Strukturen zu erhalten und von innen, von unten – netzwerkähnlich – auszubauen und mit Leben zu füllen.
Der erste Artikel des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Darauf bauen alle weiteren Artikel auf. Das Problem ist aber, dass die Art und Weise, wie die Parteien zurzeit mit dem Grundgesetz umgehen, einer basisdemokratischen Entwicklung vielfach entgegensteht. Zusätzlich erdrücken und ersticken gewisse Medien positive Entwicklungen. Diese Manipulationsmaschinerie verwirrt nicht nur die Menschen, sondern hält sie unmündig und lenkt sie in Richtungen, in denen sie sich selbst abhanden kommen. Das Ausmaß an Desinformation und Nicht-Information in den „sozialen“ Medien hat beängstigende Ausmaße angenommen.

 

Für Ihre Undercoverrecherchen sind sie in die unterschiedlichsten Rollen geschlüpft: Braucht es für solch eine radikale Identifikation mit der „Rolle“ ein besonders stark ausgeprägtes Ich oder eher eine relativ schwach ausgebildete Persönlichkeit?

Zunächst glaube ich, dass ein überentwickeltes Selbstwertgefühl für die Identifikation mit anderen, zumal Schwächeren, eher hinderlich ist. Wer völlig von sich selbst überzeugt ist, ist nicht in der Lage, sich selbstkritisch zu hinterfragen und mit Empathie in andere hineinversetzen zu können. Ich glaube, der ursprüngliche Beweggrund, sich voll und ganz mit einer Rolle zu identifizieren, liegt in einer Verletzung, die einem alles Bisherige weggerissen und alles Sichere in Frage gestellt hat. Für mich bieten „Rollenspiele“ die Möglichkeit, Extremsituationen zu suchen, in denen ich meinen – oft auch den herrschenden – Ängsten nahe komme und mich so von eigenen Ängsten befreien kann. So habe ich mich von einem eher introvertierten, sogar identitätsschwachen Menschen zu einem selbstbewussteren, angstfreieren entwickelt. Ich habe aber nach wie vor ein sich befragendes Selbstbewusstsein – weshalb ich weiterhin lernfähig bin. Ich würde auch nicht sagen, dass ich eine endgültige Zugehörigkeit gefunden habe. Am ehesten fühle ich mich weiterhin Entrechteten, Schwächeren zugehörig.
In einem Gedicht aus meiner Jugend heißt es: „Ich bin schon tot/ und steh’ noch da/ mein eigener Schatten an der Wand/ und weiß nicht/ wie und wo und wann/ – ich glaube kaum/ dass ich je war“. Das war sozusagen mein Identitätsverlust, so fing das an. Durch meine Kriegsdienstverweigerungszeit bei der Bundeswehr wurde ich wachgerüttelt. Durch diese auf Befehl und Gehorsam aufgebaute Welt habe ich Macht und Ohnmacht an mir selbst erfahren müssen. Dieses Schockerlebnis war der Beginn meiner eigentlichen Arbeit. Ein Tagebucheintrag aus dieser Zeit, den Wolf Biermann mal als Lied zur Gitarre komponiert hat, brachte es auf den Punkt: »Ich träumte/ das Leben sei ein Traum/ und wachte auf davon/ und da war das Leben/ gar kein Traum/ und da schlief ich/ nie wieder ein.«
In einer anderen, ganz frühen Tagebucheintragung, die ich erst viel später wiedergefunden habe, schrieb ich: „Ich bin mein eigener heimlicher Maskenbildner/ setze mir ständig neue Masken auf/ um mich zu suchen/und in einem vor mir zu verbergen. Wenn ich mich gefunden habe/ werde ich mich verlassen.“ Das war alles schon sehr früh angelegt – verrückt! Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal beruflich umsetzen würde.

 

Wie kommt es, dass mehr und mehr Menschen an solchen Identitätskrisen zu Grunde gehen? Dass immer mehr Leute unter Stress und psychischen Belastungen leiden – ein Burn-out mit 30 ist keine Seltenheit mehr. Liegt das an der „sinnentleerten“ Arbeit, von der oft gesprochen wird?

Bei meinen Recherchen habe ich erlebt, dass Menschen nicht nur durch die Arbeit und auch nicht nur durch die Arbeitsbedingungen per se ausgelaugt werden und ihre Lebenskraft verlieren; häufig passiert so etwas auch dann, wenn sie sich gegen die teilweise katastrophalen Bedingungen wehren. Wenn sie sich für Kollegen einsetzen, sich als Betriebsräte engagieren und deshalb von einer bestimmten Sorte von Unrechtsanwälten, systematisch mittels Psychoterror mürbe gemacht werden und bis ins Privatleben hinein verfolgt werden. Ich hatte mit einem Betriebsrat zu tun, einem gestandenen Mann, der das Vertrauen der Kollegen hatte. Dem wurde über Jahre hinweg systematisch, bewusst und gezielt übel mitgespielt. Er hat nicht aufgegeben und sich nicht mit Geld kaufen lassen. Bis er zuletzt in seiner Firma zusammengeschlagen wurde – auch da war einer dieser Betriebsratskiller tätig. Er musste sich daraufhin in psychiatrischer Behandlung begeben. Ich habe viele durch solche Methoden traumatisierte Menschen erlebt – ein anderer hat danach einen Selbstmordversuch unternommen.
Es ist für mich absolut unverständlich, wie solche „Rechtsanwälte“ im Fernsehen auftreten und Werbung für sich machen könnten; dass es Menschen gibt, die sagen: „Die brauchen wir; die bringen für uns diejenigen zur Strecke, die uns Geld kosten.“ Bis zu einer Million Euro „Kopfgeld“ zahlen Firmen dafür, wenn ein aktiver Betriebsrat rausgekickt wird.

 

Sie haben einmal gesagt, dass die Utopien von gestern die Errungenschaften von heute sind. Wie sieht Ihre Utopie bezüglich der Errungenschaften von morgen aus?

In Anlehnung an Martin Luther King: Ich habe einen Traum von Menschen, die Äußerlichkeiten hinter sich gelassen haben; die ein neues Wertesystem leben; die stimmig und umweltbewusst leben. Ich träume davon, dass die Menschen es nicht mehr für nötig halten, sich durch Protz und Statusgehabe zu definieren. Ich träume von einer Gesellschaft der Menschen, die sich selbstlos für andere einsetzen und darum kein Aufheben machen.
Auch in den Parlamenten sollte eine Demokratie geschaffen werden, in der die repräsentativen Berufsstände wieder im Parlament sitzen – so wie es einst auch von den Urhebern des Grundgesetzes vorgesehen war. Wo gibt es noch einen Arbeiter, Pfleger oder etwa Paketfahrer im Parlament?

Herr Wallraff, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


* Siehe auch Günter Wallraff im Nachwort seines Buches Aus der schönen neuen Welt.

Die aktuelle Ausgabe versammelt Gespräche, die wir in den letzten neun Jahren mit unterschiedlichen Persönlichkeiten geführt haben.

Mit dabei sind u.a.:

RICHARD DAVID PRECHT  – MARGARETE MITSCHERLICH – ULRIKE HERRMANN – FRITHJOF BERGMANN – HANNA PODDIG – HEINZ BUDE – GESINE SCHWAN – REINHOLD MESSNER

 

Sie ist hier versandkostenfrei erhältlich.

1 Gedanke zu „Alles wird infrage gestellt werden – Günter Wallraff im Interview

  1. […] „Man sprach in Deutschland bisher von der Klassengesellschaft, aber diese wandelt sich gleichzeitig immer mehr in eine Kastengesellschaft. Schließlich ist es bereits heute schon so, dass die Mitglieder der Oberschicht nur noch untereinander verkehren, untereinander heiraten, ihre eigenen Clubs und Rituale pflegen und sich letztlich als etwas Besseres dünken und auf die anderen herabblicken. Der Gegenpol dieser Kaste ist eine abgehängte Schicht, in der Armut vererbt wird. Hier werden Kinder in Armut hineingeboren und haben dann kaum mehr Chancen ihr zu entkommen.“ ↗agora42.de […]

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