„We are nature defending itself“ – Auf dem Weg zu einem neuen Naturverhältnis

„We are nature defending itself“

Auf dem Weg zu einem neuen Naturverhältnis

von Christoph Sanders und Martin Krobath

 

Die Kamera wackelt und zoomt näher an eine erschöpfte junge Frau im Wald. Eine Stimme bittet sie: „Magst du erzählen, was gerade passiert ist?“ Winter, so steht ihr Name unter dem Videoclip, ist offensichtlich gerade von Polizisten aus ihrem Baumhaus im Hambacher Forst geräumt worden. In voller Kampfmontur, die Frau an Körpergröße weit überragend, stehen zwei Polizisten neben ihr. Sehr bewegt und mit großer Bestimmtheit erklärt sie in die Kamera, warum sie sich gegen die Rodung des Waldes einsetzt:

„Und sie denken wahrscheinlich, sie hätten gewonnen, aber sie können nicht gewinnen, weil sie den Wald genauso brauchen […]. Sie werden nie verstehen, wie es ist, mit Menschen zusammenzuleben, denen es scheißegal ist […], was du für’n Schulabschluss hast, dass wir hier versuchen hierarchiefrei zu leben, uns gegenseitig zu respektieren ohne Geld […]. Dass wir jeden Morgen aufgewacht sind und wissen, dass wir am richtigen Ort sind […] und dass das die schönste Zeit meines Lebens war hier und ich so viel gelernt hab’, alles das, was ich draußen in der Gesellschaft nie hätte lernen können; dass ich die ganze Scheiße, die mir die Gesellschaft eingetrichtert hat, erst wieder vergessen muss – mich mit anderen Menschen zu vergleichen oder zu konkurrieren, was angeblich wichtig ist, wie wir aussehen […].“ (https://youtu.be/uYfW2LogrAs) „We are nature defending itself“ – Auf dem Weg zu einem neuen Naturverhältnis weiterlesen

Gedankenspiel – 08.04.2051

08.04.2051

Liebes Tagebuch,

seit fast einer Woche hatte ich mir keine künstlichen Erinnerungen mehr eingespielt. Und ich musste feststellen: Mein realer Alltag war doch ziemlich eintönig. Um also mal wieder etwas zu erleben, hatte ich eine Elefanten-Tour in einem Naturschutzgebiet im Norden der thailändischen Provinz gebucht.

Heute morgen habe ich dann die frühe Hyperloop-Verbindung nach Chiang Mai genommen. Eigentlich wollte ich während der zweistündigen Fahrt ein wenig Schlaf nachholen, aber ich wurde derart mit Werbung beschallt, dass ich kein Auge zubekam. Hier ein Angebot für eine regenerative Koronarbehandlung, dort ein Angebot für ein bionisches Auge mit Zehnfach-Zoom und Makro, dazu ein Hinweis auf eine Schweinefarm, in der schon eine neue, auf mich abgestimmte Bauchspeicheldrüse wuchs. So ging das in einer Tour.

Am Zielbahnhof angekommen, ließ ich mich von einem autonomen Pod ins Naturschutzgebiet fahren. Es ging vorbei an gigantischen Indoor-Farmen von Pfizer, in denen Pharmapflanzen angebaut wurden. Vermutlich Tabakpflanzen, in denen Impfstoffe, Hormone oder Krebsantikörper heranwuchsen. Dann passierten wir ausgedehnte Grasplantagen von Rio Tinto. Dort wurden natürlich keine gewöhnlichen Gräser angebaut, sondern spezielle Hyperakkumulatoren, die Platin, Palladium oder Germanium aus dem Boden zogen. Gedankenspiel – 08.04.2051 weiterlesen

Europa braucht ein Ziel – Interview mit Walter Kohl

Europa braucht ein Ziel

Interview mit Walter Kohl

Herr Kohl, allerorten macht sich Orientierungslosigkeit breit: Wohin mit der EU? Haben wir den Glauben an Leitbilder verloren, die früher Orientierung boten?

Walter Kohl
Walter Kohl ist der älteste Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers, sowie Redner, Autor und Coach.

Das letzte Vierteljahrhundert, also aus deutscher Sicht die Zeit nach der Wiedervereinigung und dem Ende des kalten Krieges, hat eine solche Vielzahl von Veränderungen gebracht, dass es uns heute oft schwerfällt mit dieser neuen Komplexität und den damit verbundenen Herausforderungen umzugehen. Beispielhaft seien hier genannt: die Globalisierung, die digitale Revolution (die sich immer mehr beschleunigt und immer mehr Branchen und Lebensfelder erreicht), ein multipolares Machtsystem aber auch Finanzmärkte, die sich weitgehend von der Realwirtschaft abgekoppelt haben und scheinbar haftungsfrei agieren können. Daher geht es meiner Meinung nach nicht so sehr um abstrakte Leitbilder oder gestrige Orientierungen, sondern vielmehr um konkrete Herausforderungen, die (häufig in Vernetzung zueinander)  gelöst werden müssen. Es geht um Realpolitik, um Agieren, um Gestalten.
Wir werden ein starkes, geeintes Europa brauchen – oder wir laufen Gefahr uns in neuen Kriegen zu verzetteln. Wir brauchen eine EU, die wichtige Rahmenbedingungen schafft und weiterentwickelt, z. B. eine europäische Armee, eine europäische Polizei gegen Drogenhandel, Geldwäsche, organisierte Kriminalität etc., gemeinsame europäische Umweltstandards, eine einheitliche Flugüberwachung, etc. nur um einige Beispiel zu nennen. Was wir nicht brauchen, ist ein bürokratischer Wasserkopf, der sich in tausende, lokale Projekte einmischt, der Subventionitis betreibt und der zu einem Bazar des gegenseitigen Schacherns verkommt.
Europa braucht ein Ziel, das gerade junge Menschen in seinen Bann zieht. Neben der Friedens- und Wohlstandssicherung wünsche ich mir, dass Europa auch emotional als ein Zuhause anerkannt wird, dass Menschen sagen können: Ich bin Franzose, Deutscher, Belgier, Slowake oder Pole und ich lebe in Europa. Europa braucht ein Ziel – Interview mit Walter Kohl weiterlesen

Europa … verzweifelt gesucht – Interview mit Richard David Precht

Europa … verzweifelt gesucht

Interview mit Richard David Precht

Im Jahr 2014 führten wir ein Interview mit Richard David Precht für unsere Ausgabe zum Thema Europa. Vor dem Hintergrund der anstehenden Wahl zum Europäischen Parlament am kommenden Sonntag, möchten wir Ihnen gerne Auszüge aus diesem Interview präsentieren.

Herr Precht, von geografischen Definitionen abgesehen: Was bedeutet Ihnen Europa?

Ich habe kein starkes emotionales Verhältnis zu Europa. Ich halte es auch für zwecklos, Europa über einen besonderen Wesenszug definieren zu wollen. Ohne Zweifel wurde Europa durch die Aufklärung geprägt. Aber dieses Erbe ist für mich kein Grund, in Begeisterung auszubrechen, denn es ist genauso wunderbar wie fürchterlich. Europa hat so viel Unheil über sich selbst und die Welt gebracht, dass ich jeder Form von romantischer Verklärung skeptisch gegenüberstehe. Für mich ist Europa, ein geeintes Europa, ein sehr nützliches Werkzeug, um gewaltige Zukunftsprobleme zu lösen. Das ist mein Verhältnis zu Europa. Europa … verzweifelt gesucht – Interview mit Richard David Precht weiterlesen

„Wir haben einen unmöglichen Ort geschaffen“ – Das Château d’Orion

„Wir haben einen unmöglichen Ort geschaffen“

Das Château d’Orion ist ein Gästehaus inmitten der südwestfranzösischen Provinz zwischen Biarritz und Pau. Hier sind die Pyrenäen atlantisch, Surfer treffen auf Pilger, Frankreich und Spanien laufen zusammen. 2003 übernahmen Elke und Tobias Premauer das Landschloss aus dem 17. Jahrhundert und gründeten hier einen Ort der Begegnung, der Impulse für ein Europa der Regionen schafft. Es ist die Suche nach einem gelingenden Leben, die Sehnsucht nach einem Raum zum freien Denken sowie das Interesse an Menschen und ihren Geschichten, welche die ehemalige Journalistin und den einstigen Manager hierher getrieben haben.

Das Chateau d’Orion ist mitten in der Natur. Dort veranstalten Sie sogenannte Denkwochen. Ist das Kalkül oder Zufall, dass Sie fernab der Zivilisation zum Denken einladen?

Ja, das war und ist beabsichtigt, weit weg vom Alltag, abgelegen einen Raum zu schaffen der grenzenloses Denken zulässt. Die Idee der Denkwochen basiert ja genau darauf, dass wir uns mit Fragen beschäftigen, zu denen wir in der Hektik des „normalen“ Lebens nicht kommen. Auch wenn wir uns mit literarischen Themen wie Dr. Faustus und die Musik beschäftigen, geht es immer darum, was hat das mit der heutigen Gesellschaft zu tun, welche Prozesse sind darin erkennbar. Wie werden festgefahrene Meinungen, die wir uns in der Regel aus Erfahrungen oder selektiven Wahrnehmungen angeeignet haben Haltungen und Erkenntnisse, die denkbar vernünftig und fühlbar sind. Die Ausschließlichkeit liegt im Argen, das sowohl als auch zu erkennen, das soll in einer Denkwoche erlebbar werden. Und dazu ist es gut, sich auf den Weg zu machen. Außerdem liegt Château d’Orion in einer reichen Kulturlandschaft mit vielen Brüchen, deren Irritation die Wirren des Lebens deutlich machen und in unsere Reflexionen integrierbar sind. Nicht die schiere Idylle wird hier erlebt, sondern Inspiration und Irritation. Wissen allein genügt nicht, wir müssen den Willen zur Transformation haben. „Wir haben einen unmöglichen Ort geschaffen“ – Das Château d’Orion weiterlesen

Pflegeethik Initiative e.V. – Pflege ist mehr als Versorgung

Pflegeethik Initiative e.V.

Pflege ist mehr als Versorgung

Früher oder später trifft es jeden: Eigene Fähig- und Fertigkeiten versagen ihre Dienste und man ist auf die Hilfe und Pflege anderer Menschen angewiesen. Die Zahl der dementen Pflegebedürftigen steigt – Demenz ist die Hauptursache für Pflegebedürftigkeit geworden. Für den Menschen im Kontroll- und Hochleistungszeitalter, der Körper und Geist gerne seinem Willen unterstellt, ist der Verlust der Entscheidungsfreiheit der blanke Horror. Die Angst vor der Vergesslichkeit und Verwirrtheit ist so gewaltig, dass alle etablierten Parteien das Thema Pflege lieber ganz im Wahlkampf meiden. Mit fatalen Folgen für unser menschliches Miteinander: Denn Krankenkassen, Wohlfahrtsverbände, sowie private oder kommunale Leistungsanbieter zahlen nur noch für eine effiziente technokratisch-medikamentöse Versorgung, nicht aber für ausreichend Zuwendung. Dies führt dazu, dass Pflegebedürftige zu Kunden werden, die jede Abwechslung als „Einzelmaßnahme“ buchen müssen. Pflegeethik Initiative e.V. – Pflege ist mehr als Versorgung weiterlesen

Natur, Kapitalismus und das Neue – Reinhard Loske im Interview

Natur, Kapitalismus und das Neue

 Interview mit Reinhard Loske

 

Herr Loske, welche Bedeutung hat die Natur in der Wirtschaft?

In der Ideengeschichte der Ökonomie gibt es ganz verschiedene Naturvorstellungen. Die Physiokraten waren der Meinung, dass die Natur der einzige produktive Faktor ist: Nur Grund und Boden können der Ursprung des Reichtums eines Landes sein. Demgegenüber ist die Natur im Marxismus wie auch im Kapitalismus auf die Funktion der Quelle und der Senke reduziert, wird also bloß als Ressource oder als Aufnahmemedium für Abwässer, Abgase und Abfälle begriffen. Der Gedanke, dass die Wirtschaft auf die physischen Grundlagen bezogen ist, ist also bei den Physiokraten viel stärker ausgeprägt. Der Marxismus und der Kapitalismus neigen systematisch dazu, die Rolle der Natur bei der Wertschöpfung zu reduzieren oder gar auszublenden. Man kann also von einer Naturvergessenheit der ökonomischen Theorie der Moderne sprechen.

Ist es dann zu begrüßen, wenn die ökonomische Bewertung der Natur immer mehr an Bedeutung gewinnt?

Das ist ein schmaler Grat. Auf der einen Seite ist es zu begrüßen, wenn man sich bewusst macht, dass die Natur uns zahlreiche Güter und Dienstleistungen gratis zur Verfügung stellt – stabiles Klima, gutes Wasser, saubere Luft, produktive Böden, biologische Vielfalt etc. Doch man läuft auch Gefahr, dass man sich in diese instrumentelle beziehungsweise utilitaristische Sichtweise verrennt. Dann geht das Unwägbare in der Natur verloren, all das, was eine besondere Saite in uns zum Schwingen bringt. Das ist ein echtes Defizit. Insofern braucht es eine umfassendere Ökonomie, die auch dieses Unwägbare miteinbezieht, ohne es direkt in Wert zu setzen oder ihm eine Dienstleistungsfunktion zuzuschreiben. Natur, Kapitalismus und das Neue – Reinhard Loske im Interview weiterlesen

Editorial der Ausgabe 02/2019

Natur – was ist das?

Natürlich sind das die im Wind wogenden goldgelben Weizenfelder, die Sandsteinfelsen über dem Nebelmeer, die der Wanderer entrückt betrachtet, der Schmetterling, dessen Farbenpracht im Sonnenschein aufleuchtet. Aber Natur ist auch die riesige Tsunamiwelle, die nicht mal mehr Zeit für den Gedanken lässt, dass es jetzt vorbei ist, oder der Heuschreckenschwarm, der ganze Landstriche verwüstet. Natur ist überdies Rohstoff, den es zu formen, zu veredeln gilt, und wieder andere sprechen von der Mutter Natur und sehen in natürlichen Kreisläufen und Gleichgewichten den Schlüssel zu einem Leben jenseits von Zerstörung, Ausbeutung und Ungerechtigkeit.

All das stimmt natürlich und Gründe, sich mit Natur zu beschäftigen, gibt es so viele, wie es Menschen, wie es Situationen gibt. Schließlich existiert die Natur nur durch den Menschen – als Vorstellung einer wie auch immer gearteten Ordnung der belebten und unbelebten Umgebung des Menschen. Deswegen ist es auch so schwierig, eine natürliche Ordnung als Vorbild zu nehmen, denn erstens findet sich in der Natur ein Beispiel für jede Ordnung (beziehungsweise Unordnung) und zweitens ist jede dieser Ordnungen eine Interpretation des Menschen. Editorial der Ausgabe 02/2019 weiterlesen

agora42-Blogserie zum Thema Langsamkeit

agora42-Blogserie zum Thema Langsamkeit

Der Einzelne wähnt sich so fest im Geschwindigkeitsgriff, dass er Selbstausbeutung mit Selbstbestimmtheit verwechselt und übersieht, dass Gesundheit und Glück auch daraus erwachsen, Raum und Zeit für Besinnung, Wertebildung oder echtes Miteinander zu finden.  Wir eröffnen deshalb eine Online-Kolumne, die in den kommenden Monaten den einen oder anderen Besucher unserer Website zum Widerstand gegen die Kultur der Eile inspirieren möchte:

Andrea S. Klahre hat auf der Suche nach Visionären Künstler, Wissenschaftler und Querdenker gefunden, die Impulse geben, Richtungen weisen, in jedem Fall bereichern, bestenfalls erfreuen. Freuen Sie sich unter anderem auf: agora42-Blogserie zum Thema Langsamkeit weiterlesen

Unruhe – Ralf Konersmann über ein Leitbild der Moderne

Unruhe

über ein Leitbild der Moderne

von Ralf Konersmann

Lange Zeit war der Begriff des Leitbildes verpönt. Der 1967 von Theodor W. Adorno für eine Sammlung philosophischer Essays gewählte Titel Ohne Leitbild war Programm. Keinesfalls durfte der Lauf der Dinge durch die Befangenheiten des Augenblicks behindert werden, die Zukunft sollte offen sein.

Geschichtsphilosophisch war der Verzicht konsequent, aber er war auch unpolitisch. Die Absage ignorierte die Tatsache, dass die Gegenwart ihre Leitbilder längst schon besitzt und dass diese von den Leitmedien und der Politik, von Wissenschaft und Werbung ständig in Anspruch genommen werden – Leitbilder im Übrigen, die kaum jemals als solche ausgewiesen sind und, weil sie sich gleichsam von selbst verstehen, umso überzeugender wirken.

Zu dieser Art Leitbilder, die in ausgesuchten Momenten machtvoll aufscheinen, ansonsten aber im Bereich des kulturell Unbewussten zu Hause sind, gehört die Unruhe. Die Unruhe ist da, sie ist überall, tritt aber kaum jemals rein als solche hervor. Und doch wissen wir alle nur zu gut, was es heißt, dass wir vorwärtskommen müssen, dass wer nicht kämpft, schon verloren hat, dass wir die Hände nicht in den Schoß legen dürfen und öfter mal was Neues anfangen müssen. Die alltagssprachlichen Echos der Unruhe sind uns allen vertraut, und es wäre falsch zu meinen, hier geschähe etwas heimlich oder im Verborgenen. Der Konsens der Unruhe ist mit Händen zu greifen und braucht, eben weil das Einvernehmen total ist, weder überprüft noch gerechtfertigt zu werden. In diesem Klima fragloser Akzeptanz dient uns das Abc der Unruhe als eine Art Kompass, der uns durch den Tag führt und der uns die Stichworte liefert, wenn es gilt, das Leben so zu leben, wie es heute gelebt sein will. Unruhe – Ralf Konersmann über ein Leitbild der Moderne weiterlesen