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Befreiung vom schlechten Leben
Sechs Thesen zur Überwindung der Übermacht der Ökonomie
Text: Michael Hirsch | online veröffentlicht am 08.08.2024
Warum eigentlich schaden wir uns selbst? Warum unterwerfen wir uns einem unnötig harten Dasein mit unnötig harter Arbeit? Warum ändern wir nichts, obwohl insgeheim die meisten spüren, dass irgendetwas falsch ist? Und womit könnte der Bruch mit dem schlechten Leben beginnen?
These 1: Freiheit bedeutet Befreiung
Warum nützt die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen seit Langem mehr der Rechten als der Linken? Diese Frage steht seit einiger Zeit latent im Raum. Sie zu beantworten würde erfordern, dass sich die politischen wie intellektuellen Kräfte links der Mitte fragen, was sie ideenpolitisch und gesellschaftspolitisch falsch machen. Nur dann könnten wir uns vielleicht von dem langweiligen Schauspiel befreien, dass die liberale, linke, grüne und rechte Mitte ohnmächtig und letztlich selbstgerecht dem Schauspiel rechter und linker Populismen zuschaut. Deren Essenz doch nur darin besteht, der Unzufriedenheit der Menschen Ausdruck zu verschaffen und die von ihr ausgelösten Affekte gezielt zu bewirtschaften – anstatt die Gründe der Unzufriedenheit politisch anzugehen. Ein emanzipatorisches Projekt hingegen würde nicht, wie es rechte und linke Populisten tun, eine Apologie der „hart arbeitenden Leute“ betreiben, sondern fragen, was Freiheit heute heißen könnte. Meine These ist: Der erste Schritt wäre die Befreiung von der irrationalen Bereitschaft, uns einem unnötig harten Dasein mit unnötig harter Arbeit und einem unnötig schlechten Leben zu unterwerfen. Und das betrifft eben auch die intellektuellen Eliten selbst (die sich zu sehr daran gewöhnt haben, Gesellschaft nur abstrakt von außen zu betrachten, anstatt auch ausgehend von der eigenen Person und dem eigenen Leiden an den Verhältnissen).
These 2: Gewöhnung ist die Hauptbedrohung
Theodor W. Adornos These lautet ja, dass der Faschismus nachlebt, weil seine objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen nachleben. Die antidemokratischen Affekte und Wahnvorstellungen von Faschismus und Rechtspopulismus resultieren, so Adorno, aus einem sehr realen Ohnmachtsgefühl der großen Mehrheit der Menschen angesichts einer ökonomischen Ordnung, die sie abhängig macht von Gegebenheiten, die sie nicht beeinflussen kann. Die sozialpsychologische Grundthese lautet: Die Verhältnisse und der Kampf ums Dasein verlangen uns so viele Opfer ab, dass die Ideen von demokratischer Selbstbestimmung und einem mündigen Selbst wie Hohn wirken und sich irgendwann gegen sich selbst kehren. In dem Vortrag Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit von 1959 führt Adorno aus, dass die Notwendigkeit permanenter Anpassung sowohl Demokratie wie autonome Subjektivität aushöhlt, zur „Identifikation mit Bestehendem, Gegebenem, mit Macht als solcher“ anhält und damit ein faschistisches Potenzial schafft:
„Es wird verstärkt von der Unzufriedenheit und der Wut, die der Zwang zur Anpassung selber produziert und reproduziert. Weil die Realität jene Autonomie, schließlich jenes mögliche Glück nicht einlöst, das der Begriff von Demokratie eigentlich verspricht, sind sie indifferent gegen diese, wofern sie sie nicht insgeheim hassen.“
Von der älteren kritischen Theorie aus (von der im deutschen Sprachraum inzwischen die Universitäten, aber auch Verlagshäuser wie Suhrkamp, die sie einst beherbergt hatten, recht gründlich gesäubert wurde), wäre die Einsicht ernst zu nehmen, dass die Anpassungszwänge vor allem auf dem Arbeitsmarkt die Einzelnen chronisch zermürben. Am Ende, so Adorno, können sie ihr Selbst eigentlich nur noch erhalten, indem sie auf es verzichten. Dass sich, wie in kritischen Theorien behauptet, die ökonomischen Verhältnisse längst aus demokratischer Kontrolle verselbstständigt haben, ist inzwischen so sehr zum Common Sense geworden, dass aus dieser ursprünglich kritischen These der kritische Stachel zu verschwinden droht. Meine These ist: Die Gewöhnung an das schlechte Leben ist das eigentlich Bedrohliche in unserer Gesellschaft, sowohl für die Individuen wie für die Demokratie. Schwindet die fortschrittliche Hoffnung auf ein besseres Leben für alle, dann wird die Übermacht der Ökonomie gleichsam zur zweiten Natur. Dann haben wir tendenziell nur noch die Wahl zwischen Resignation und kalter Wut.
These 3: Demokratie ist der Auftrag zur Veränderung
Die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen nützt also so lange mehr der Rechten wie der Linken, wie die Linke weiterhin darauf verzichtet, glaubwürdig an Fortschrittsnarrativen und Fortschrittsmodellen zu arbeiten. Es ist zu wenig, die Demokratie gegen Angriffe von rechts zu verteidigen. Dazu ist es notwendig, beim Lebensgefühl der Einzelnen anzusetzen. Am konkretesten zeigt sich das Lebensgefühl und die latente Gefahr der Resignation vielleicht darin, dass die große Mehrheit der heute tätigen jungen und mittelalten Menschen durchschnittlich deutlich mehr, sowohl intensiver wie länger, arbeiten muss als die Generationen vor ihr, und dafür eher weniger Einkommen, weniger Anerkennung und weniger Lebensqualität erhält sowie zu mehr sozialer Ungleichheit und mehr Ressourcen- und Umweltverbrauch beiträgt. Die forcierten Leistungswettbewerbe der letzten Jahrzehnte haben zwar auf der einen Seite die Anpassungsbereitschaft und die Identifikation mit den bestehenden Verhältnissen zwecks Selbsterhaltung in ungeahnte Höhen getrieben. Sie haben aber auch die latente Wut und Angst verstärkt, dass hier irgendetwas nicht stimmen kann. Insgeheim spüren die meisten ja, dass hier etwas falsch ist.
Woher wir unseren Maßstab zur Bewertung einer Lebensweise als besser oder schlechter nehmen? Mit den demokratischen Verfassungen ist nach Adorno eine Idee von demokratischer Mündigkeit und Selbstbestimmung verbunden, von Glück, das direkt den realen, vor allem aber auch den gefühlten gesellschaftlichen Lebensrealitäten entgegensteht. Die Idee der Demokratie appelliert also an unsere Macht, schlechte Verhältnisse zu ändern, insbesondere die irrationale Übermacht der Lohnarbeit und der von ihr ausgehenden Zwänge (Postdemokratie wäre dann also der Name für die diesbezügliche Ohnmacht).
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These 4: Befreiung muss das eigene Leben einschließen
Fortschrittlich sein bedeutet, sich persönlich wie politisch für Veränderungen einzusetzen, an deren Ende nicht mehr die Unterwerfung unter unnötig harte Kämpfe ums Dasein steht, sondern ein besseres Leben für alle. Die Bereitschaft gerade auch intellektueller Eliten, sich den diversen Anpassungszwängen in ihrem Arbeitsumfeld zu fügen und das Begehren nach einem besseren Leben zu unterdrücken, korrespondiert in vielen Fällen mit einer großen ideen- und gesellschaftspolitischen Einfallslosigkeit, einem Unglauben an demokratische Veränderungen.
Gerade im Feld der Kultur, von Wissenschaft, Kunst und Publizistik, stellt sich die Alternative besonders deutlich: Soll man weiterhin dem Cruel Optimism (Lauren Berlant) folgen, der einen wider besseres Wissen einem Lebensstil der permanenten Mehrarbeit unter Bedingungen eher zurückgehender Belohnungen für die meisten folgen lässt – oder soll man einer Theorie und einem Begehren der Befreiung folgen, die nicht nur allgemein „die Gesellschaft“ meint, sondern auch die eigenen Arbeitsverhältnisse und das eigene Leben? Das erfordert einen Bruch mit dem gegenwärtig herrschenden „professionellen“ Habitus und Berufsethos dominanter Teile des Kulturapparats. Es erfordert, die rote Linie zu überqueren, jenseits derer auch das eigene Leben und die eigenen Wünsche politisiert werden. Dafür braucht man Fantasie, man braucht die Vorstellung eines anderen möglichen Lebens. Zu dieser Fantasie hat man nur einen Zugang, wenn man mit dem herrschenden Professionsethos und Habitus zumal von Wissenschaft und Publizistik bricht (die den Einzelnen nicht nur eine normative Askese bei ihren politischen Wertungen, sondern auch die Unterdrückung eigener Bedürfnisse zugunsten eines „professionellen“ Funktionierens auferlegen). Nur dann kann man die praktische Fantasie entwickeln, die nötig ist, um sich ein anderes (auch eigenes) Leben und einen anderen Wertmaßstab für ein gelingendes Leben vorzustellen, und sich glaubwürdig für eine solidarische Umverteilung von sozialen Gütern und Chancen einzusetzen.
Wissenschaft und Journalismus (Rundfunk wie Zeitung gleichermaßen) sind ja Paradebeispiele für extrem verwilderte Arbeitsmärkte. Wo sich um einen kleinen Kreis von fest Angestellten und Etablierten konzentrische Kreise von „Freien“, Prekären, Selbstständigen und Werkverträglern gruppieren – mit der Folge, dass diese strukturelle Ungleichheit allen Beteiligten die Bereitschaft zur permanenten Mehrarbeit und eine vorauseilende „Identifikation mit Bestehendem, Gegebenem, mit Macht als solcher“ (Adorno) abpresst.
These 5: Das Kulturprekariat und die Jüngeren sind entscheidend
Der Kampf gegen das schlechte Leben hätte also meines Erachtens für die Protagonisten der intellektuellen Debatte zuallererst bei ihren eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen anzusetzen. Entscheidend wird hier die Rolle sein, die zwei Gruppen spielen:
Zum einen die prekär und irregulär im Kulturbereich Beschäftigten (schließlich stellen sie in den meisten Feldern der Kultur die große Mehrheit). Identifizieren sie sich weiterhin mit dem jeweiligen Professionssystem, unterdrücken ihre Unzufriedenheit und verschreiben sich der Hoffnung, dereinst selbst zu den wenigen Etablierten und Privilegierten zu gehören? Oder lösen sie sich aus dieser Identifikation mit den etablierten „Leistungseliten“ im Namen der emanzipatorischen Idee eines besseren Lebens? Welches ja ein besseres Leben auch für die Privilegierten selbst wäre, die ihrerseits auch unter der Last steigender Leistungserwartungen ächzen. Die dies aber schon alleine deswegen nicht offen meinen aussprechen zu dürfen, weil dieses Eingeständnis des schlechten Lebens die symbolischen Hierarchien der Professionssysteme kollabieren ließe und obendrein die relativ Privilegierten wie Zyniker dastehen ließe, die weniger Privilegierte verhöhnen. Die systematische Ungleichbehandlung von gleicher Arbeit, ihre Unterteilung in unterschiedlich bewertete Kategorien, „Feste“ und „Freie“ (wie es zum Beispiel in Zeitung und Rundfunk heißt), legt den „Festen“ eine besonders intensive Unterwerfung unter die Anpassungszwänge ihres Professionssystems nahe. Schließlich haben sie es ja besser, haben das im Vergleich zu den freien Mitarbeitern bessere Leben.
Zum anderen wird die Rolle entscheidend sein, die die jüngeren Generationen spielen. Hier zeichnen sich gegenwärtig ja immer mehr Tendenzen einer Aufkündigung des stillschweigenden Paktes von Mehrarbeit und Selbstopfer ab – der Artikulation des Wunsches nach einem besseren, weniger von Lohnarbeit bestimmten Leben als desjenigen, das bisher als normal galt.
Die Generation der Jüngeren und die altersmäßig heterogene Gruppe der Prekären könnten eine fortschrittliche Kraft werden, wenn sie den Pakt der sinnlosen Mehrarbeit und der zermürbenden Kämpfe ums Dasein aufkündigt, an deren Ende meist ja ohnehin nicht die versprochene Belohnung winkt, sondern die deprimierende Botschaft: Es war immer noch nicht genug! Mit dem herrschenden Pakt des schlechten Lebens bricht man, wenn man die Angst vor dem sozialen (Todes-)Urteil verliert, das einem droht, wenn die anderen, die Älteren und Etablierten, dem eigenen Wunsch nach einem besseren Leben entgegenhalten: „Ihr seid zu faul! Ihr müsst verzichten lernen!“
Die Befreiung vom schlechten Leben beginnt mit dem Bruch mit dem herrschenden Sadomasochismus. Dieser ist Adornos klassischer Einsicht über den autoritären Charakter zufolge eben der Kern der herrschenden repressiven Sozialmoral: Masochistisch in der Bereitschaft zur Selbstzurichtung, zum Verzicht auf ein gutes Leben; sadistisch in der Bereitschaft, dies anderen ebenfalls anzutun und darauf zu achten, dass es ihnen nicht besser geht als einem selbst.
These 6: Der Vorrang der Lohnarbeit muss zuerst gebrochen werden
Am Anfang der Befreiung steht der Bruch mit dem zeitlichen und symbolischen Vorrang der Lohnarbeit in unserem Leben; die soziale, kulturrevolutionäre, feministische und ökologische Idee einer neuen Aufteilung gesellschaftlicher Arbeit, ausgehend von der Senkung der Normalarbeitszeiten. Darum liegen in Bestrebungen nach einer generellen Verkürzung der Arbeitszeit auf eine 30- bzw. 25-Stunden- oder 4-Tage-Woche vielleicht die wichtigsten emanzipatorischen Potenziale heute. Hier zeichnet sich für die Zukunft eine mögliche Allianz zwischen fortschrittlichen Gewerkschafter*innen, Politiker*innen von Parteien links der Mitte und aufgeklärten Unternehmer*innen ab. Ob daraus eine neue Befreiungsbewegung vom falschen Leben wird, hängt nicht zuletzt von den intellektuellen Arbeiter*innen in Parteien, Gewerkschaften, Medien und Kulturinstitutionen ab. Können sie die gesellschaftlichen Debatten um eine Überwindung der (Un-)Kultur von Mehrarbeit und Selbstausbeutung auch auf ihre eigenen Professionen und ihr eigenes Leben beziehen? Können sie sich vorstellen, auch ihren eigenen Arbeitsbereich, ihr eigenes Leben zu ändern? Oder verhalten sie sich weiterhin, wie zum Beispiel der Philosophieprofessor Christoph Menke in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung zu seinem Buch Theorie der Befreiung, eher resignativ dazu, dass man zwar in seiner Theorie die „Fähigkeit, neu anzufangen“ und das „Staunen“ zum Kern einer ästhetischen Befreiung erklärt, das in seinem eigenen Leben aber nicht beherzigt: „Selbstverständlich muss man sich die Zeit dafür nehmen, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, was wir erstaunlich selten tun. Zumindest bei mir ist das so. Meistens ist man gedanklich irgendwo anders.“ Was, wenn in Zukunft nicht mehr das Rollenmodell des überbeschäftigten Professors kulturell maßgeblich wäre, der selbst kaum als Modell seiner eigenen Befreiungstheorie taugt? Sondern das des vielfältigen, sich um sich selbst und andere sorgenden Menschen, des Flaneurs, der unter anderem auch erwerbstätig ist, aber in seiner Identität und seinem Alltag davon nicht mehr primär bestimmt wird? ■
Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 1/2024 FREIHEIT erschienen.
Michael Hirsch ist Philosoph, Politikwissenschaftler und Kunsttheoretiker. Er lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Siegen und lebt als freier Autor in München. Zuletzt von ihm erschienen: Kulturarbeit. Progressive Desillusionierung und professionelle Amateure (Textem, 2022), Richtig falsch. Es gibt ein richtiges Leben im falschen (Textem, 2019) und Überwindung der Arbeitsgesellschaft. Eine politische Philosophie der Arbeit (Springer VS, 2016).
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Sach-/Fachbuch:
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Peter Kurzeck: Der vorige Sommer und der Sommer davor (Schöffling & Co., 2019)
Film:
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