Foto: Janusz Czech
Choose Your Destiny!
Text: Janusz Czech
Im Juli fertigte der Warschauer Künstler Simpson ein Mural, ein Wandbild, an der Ostfassade des Alfons-Kern-Turms (dem Sitz des A.K.T;) in Pforzheim an. Das zehn mal fünfzehn Meter große Bild trägt den Titel Choose Your Destiny. Im Zentrum des Bildes steht das Nolan-Diagramm, ein Modell des politischen Spektrums, das Ideologien auf zwei Achsen nach ihrer Einstellung zu staatlicher Einflussnahme im wirtschaftlichen und im privaten Bereich klassifiziert. Diese Einteilung symbolisiert das Problem der politischen Entscheidungen, die über das Ausmaß der individuellen Freiheit im Staat bestimmen.
Auf dem Mural sieht man an entgegengesetzten Ecken „He-Man“ und „Skeletor“, die Hauptfiguren der Action-Figuren-Serie Masters of the Universe. Sie sind Erzfeinde und stehen für die Gegensätze innerhalb des politisches Spektrums, in den Begriffen des Nolan-Diagramms: libertär versus autoritär. Der Esel mit dem Horn in der Mitte des Diagramms symbolisiert den Glauben an ideale Welten, die mit politischen Mitteln durchgesetzt werden sollen. Die Karotte, die über ihm hängt, symbolisiert den Populismus, der den Wähler*innen falsche Lösungen vorgaukelt. Unterhalb des politischen Spektrums gibt es nur Anarchie, angedeutet durch einen Amboss. Das Mural wurde zwar von einem zeitgenössischen polnischen Künstler gefertigt, aber es steht für gesellschaftliche Fragestellungen, die uns alle herausfordern. Choose Your Destiny ist das erste Werk, das für die Ausstellung Im Osten nichts Neues realisiert wurde und wird die Außenfassade des A.K.T; dauerhaft schmücken.
Während meines Besuchs im südpolnischen Częstochowa habe ich andere Wandbilder des Künstlers gesehen. In Gegensatz zu den vielen schönen und beeindruckenden Murals, mit denen die Stadt um Tourist*innen wirbt, zeigten seine Werke eine gesellschaftspolitische Haltung. Sie reflektieren gesellschaftspolitische Themen und hinterfragen die Vergangenheit genauso wie die Gegenwart. Sie regen dazu an, über unsere eingeübten Formen des gesellschaftlichen Lebens nachzudenken. Weil sie im öffentlichen Raum für alle sichtbar sind, stellen sie Anstöße zum Diskurs dar, die bestimmt auch irritieren können. Die Bilder thematisieren auch spezifische Fragen, mit denen die Bevölkerungen osteuropäischer Länder ringen. Es ist daher keine Überraschung, dass Simpson nach der Umsetzung seines Murals In State We Trust in Częstochowa von der Polizei verhört wurde.
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Ich muss gestehen, dass ich überrascht war, als ich Simpsons Werke gesehen habe. Częstochowa gilt als die geistliche Hauptstadt Polens. Sie ist wegen des Marienbildes der Schwarzen Madonna im Paulinerkloster auf dem Hügel Jasna Góra weltberühmt, und jedes Jahr strömen Millionen Pilger*innen in die Stadt. Als ich bei meinem Besuch den Hügel betreten habe, konnte ich auf den hohen Mauern des Klosters die riesigen Transparente in den polnischen Nationalfarben nicht übersehen. Auf ihnen steht, „tu bije serce narodu w sercu matki“, was übersetzt bedeutet: „Hier schlägt das Herz einer Nation im Herzen ihrer Mutter.“
In der Klosterkapelle, in der sich das Marienbild befindet, finden tagsüber durchgehend katholische Messen statt. Auffallend ist, mit welcher Hingabe die Menschen hier beten: sie legen sich zum Beispiel mit ausgestreckten Armen auf den Boden, wie ein Kreuz. Hier werden auch viele Schulklassen durchgeschleust, die auch an den Gebeten teilnehmen. Die jungen Leute wirken jedoch meist weit weniger motiviert. Ich bin in Polen geboren und habe als Jugendlicher die ambivalenten katholisch-kommunistischen Erziehungsmethoden gut kennen gelernt. Dadurch kann ich den Motivationsmangel der Jugendlichen nachempfinden. Sie sind dort, weil sie dort sein müssen. Weil der Ort nicht nur als ein Ort der Spiritualität funktioniert, sondern auch der Herstellung der nationalen Identität dienen soll.
Als ich das Kloster besuchte, musste ich an eine Reise nach Russland denken. 2015 durchquerte ich auf der Reise nach Irkutsk in Sibirien große Teile Russlands mit dem Zug. Auch dort war mir die enorme Zuwendung zur orthodoxen Kirche aufgefallen. Mit dem Unterschied, dass die Religion in kommunistischer Zeit in Russland nicht erlaubt war, in Polen aber von der Regierung geduldet werden musste. Zwar war die Kirche in Polen ein Ort des Widerstands gegen den Kommunismus und damit dem Regime ein Dorn im Auge, aber sie war auch der Ort der Erinnerung an die nationale Unabhängigkeit.
Am Ausgang der Klosteranlage befindet sich ein riesiger Shop mit allen möglichen Andenken, unter anderem auch einer Bibel als Minecraft-Version – damit soll wohl die Jugend erreicht werden.
Nach dem Besuch des Klosters traf ich Angehörige der Stadtverwaltung und junge Künstler*innen aus der Streetart-Szene. Sie berichteten über ihr (ambivalentes) Verhältnis zum Kloster sowie zur Kirche im Allgemeinen. Wir sprachen auch über das problematische Verhältnis der Kirche zum Staat, über die Vereinnahmung der Religion für politische Interessen und populistische Themen. Schnell war herauszuhören, dass sich das Land noch mitten in der Bewältigung seiner Geschichte befindet und sich mit der rasanten Geschwindigkeit der gegenwärtigen Veränderungen schwer tut. Die Komplexität der Gegenwart scheint eine große Herausforderung zu sein, denn: Wie soll mal eine europäische Identität finden, wenn man seine historische Identität noch nicht mal aufgearbeitet hat.
Ich denke, dass die Themen, die mir in Częstochowa begegneten, im Ganzen osteuropäischen Raum die Menschen bewegen: Die Bewältigung der eigenen Geschichte, die Suche nach Identität, nach Zugehörigkeit, nach Halt, nach Sicherheit und die Hoffnung auf eine blühende Zukunft, sind gerade in den osteuropäischen Ländern existenzielle Themen, die nicht so einfach zu lösen sind, wie man sich das mitunter in Westeuropa vorstellt. Die Grenzen unserer Verständnisfähigkeit und Wahrnehmung werden uns momentan durch den Ukrainekrieg bitter vor Augen geführt. Das ist für Menschen in osteuropäischen Ländern vielleicht auch deshalb so eine erschütternde Erfahrung, weil der Zweite Weltkrieg historisch doch noch nicht richtig aufgearbeitet wurde.
Mit diesen Inhalten und Fragestellungen arbeiten junge Künstler*innen auch im Baltikum oder auf dem Balkan usw. Das sowjetische Erbe scheint für sie aus Altlasten zu bestehen: Generationsfragen, gesellschaftliche Hierarchien, Patriarchat, das Verhältnis von Kirche und Staat sowie die Frage der Rechtstaatlichkeit. Hinzu kommen aktuelle ökonomische und ökologische Fragen. Das ist zum Beispiel in der mehrteiligen Installation Siphonie von Vladimir Frelih und Dragan Matić zu sehen, in der es um das Verhältnis von Mensch und Natur geht, aber auch um psychologische und ökonomische Fragen. Im Videowerk Tajkun derselben Künstler sieht man einen Geschäftsmann mit Aktenkoffer, der auf einem Riff inmitten eines Sees gestrandet ist und nach Land Ausschau hält. Der Geschäftsmann wirkt wie ein Fremdkörper mitten in einer grandiosen Landschaft. Er muss mit seiner Hilflosigkeit klarkommen und seine Situation reflektieren. Dieses Video beschäftigt sich wie andere Werke der Ausstellung auch mit der Bedeutung von männlichem Machtverlust in einer Gesellschaft, in der das Patriarchat immer noch eine große Rolle spielt. Die Künstler stammen aus Kroatien und Serbien, aber das Video wurde in Mazedonien aufgenommen.
Die Ausstellung Im Osten nicht Neues will eine Plattform bieten, auf der die Herausforderungen und Fragen diskutiert werden können, mit denen der osteuropäische Raum im Kontext der europäischen Einigungsprozesse ringt. Es geht um gesellschaftliche Themen wie Identität, Beziehung und Einstellung zur EU, Generationenkonflikte, Ökonomie, Ökologie, Gleichberechtigung, historische Aufarbeitung und viele mehr. Worum es dabei geht, hat Simpson in seinem Mural auf den Punkt gebracht: Choose Your Destiny! ■
Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 4/2023 LEBEN IN DER KLIMAKRISE in der Rubrik WOZU KUNST? erschienen. WOZU KUNST? entsteht in Zusammenarbeit mit dem A.K.T; und dem EMMA – Kreativzentrum Pforzheim. Der A.K.T; ist ein Ort für gesellschaftliche Diskurse und ein interdisziplinäres Labor der Zukunft. Aktuelle Fragestellungen werden im A.K.T; aus dem Blickwinkel des Designs und der Kunst beleuchtet und die gesellschaftliche Relevanz von Kunst und Design sichtbar gemacht.
Janusz Czech hat Malerei, Grafik und konzeptuelle Kunst an der Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe sowie an der Akademie der Bildenden Künste in Wien studiert. Er ist Redaktionsmitglied bei agora42 und seit 2019 Künstlerischer Leiter am A.K.T;. 2021 war er Stipendiat an der Cité Internationale des Arts Paris sowie der Stiftung Kunstfonds. Seine mehrteilige Installation „Anarchie-Tektur“ wurde 2022 von der Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland erworben.
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