Das Irrationale ermöglicht einen Perspektivenwechsel

„Das Irrationale ermöglicht einen Perspektivenwechsel“

Interview mit Aga Trnka-Kwiecinski

 

Frau Trnka-Kwiecinski, die Bildungslandschaft wird heutzutage immer mehr zu einem Ausbildungsbetrieb. Warum ist es nach wie vor wichtig, Bildung gegenüber der Ausbildung zu stärken?

AGA TRNKA-KWIECINSKI ist Lehrgangsleiterin für das Masterstudium Provokationspädagogik und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Donau-Universität Krems.
 

Das Paradox ist, dass Bildungseinrichtungen einem ökonomischen Denken unterworfen sind, das unsere gesamte Gesellschaft durchzogen hat. Nicht das Lernen als (überaus sinnliches – im Verständnis von „mit allen Sinnen“ zu erfahrendes) Erlebnis steht im Vordergrund, sondern das messbare Ergebnis, das zum Gradmesser des Erfolges wird. Absurderweise sowohl für die Lernenden als auch für die Lehrenden. Aber: Intelligenz ist auch so viel mehr, als das Ergebnis eines standardisierten Tests, auf den man sich letztlich immer besser vorbereiten kann, und wo lediglich ein Segment abgefragt wird, wonach Rückschlüsse auf die Intelligenz eines Menschen gezogen werden. Dabei ist es viel interessanter, sich anzusehen, was durch solche Tests NICHT abgedeckt wird.

Genauso ist es mit Bildungseinrichtungen: Da passiert so viel mehr, was in Noten und Zeugnissen überhaupt nicht erfasst werden kann. Alle, die in der Schule waren, wissen fast nichts mehr vom Stoff, aber sie wissen ganz genau, WIE es war, in einem Fach zu lernen, wie die Beziehung zur Lehrkraft war, und welche Freude oder welcher Stress mit der Aneignung von diversen Inhalten verbunden waren. Die Zeugnisnoten allerdings sagen über all das gar nichts aus, sondern geben nur ein zeitpunktabhängiges Bild des gespeicherten Wissens im Moment X ab, das die meisten 5, 10 und mehr Jahre später überhaupt nicht mehr parat haben. Das macht Noten zum Teil zu Fiktion. Und das untergräbt auch den Stellenwert, den Bildungseinrichtungen tatsächlich haben. Dort passiert soziale Entwicklung, Persönlichkeitsentwicklung, dort werden Interesse und Desinteresse für ein Fach geweckt, und dort entsteht der Raum für einen Zukunftsentwurf – was werde ich (beruflich) in meinem Leben machen? Und das ist auch der Mehrwert von Bildung. Ausbildung sichert die Vermittlung von Inhalten und die Überprüfung der erfolgreichen (oft nur temporären) Aneignung. Auch das muss natürlich sein, aber das ist noch längst nicht alles.

 
 
In bester Kantischen Tradition wird unter Wissen heutzutage vornehmlich Wissen verstanden, dass den Gesetzen der Rationalität gehorcht. Erfahrungen und Erlebnisse, die keine universale Geltung beanspruchen und nicht in die Kausalmechanik des Wenn-Dann gepresst werden können, sind aus wissenschaftlicher Sicht irrelevant. Ist das nun gut oder schlecht?
Wir sprachen mit Frau Trnka-Kwiecinski im Vorfeld der Bildungskonferenz BEYOND KNOWLEDGE, die am 8.2.19 in München Stattfindet und die wir als Medienpartner begleiten. Frau Trnka-Kwiecinski spricht dort über das Thema „Provokation in der Bildung“.
 

Gut oder schlecht sind Kategorien, die eher fürs Moralisieren geeignet sind, aber die die Wissenschaft nicht voranbringen, und den Menschen an sich schon gar nicht. Gut oder schlecht unterliegen immer einer Interpretation einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt. Fragen über die Funktion des menschlichen Körpers zu stellen war Blasphemie, unmoralisch, und letztlich war es aber auch der Beginn der Medizin(wissenschaft). Das Denken von Kant umfasst zudem auch nur einen bestimmten Raum, in dem diese Art Fragen zu stellen, und Antworten zu antizipieren, logisch waren. Aber so wird vielleicht nicht überall auf der Welt gedacht.

Aufgabe der Wissenschaft aber ist es, solche Fragen aufzuwerfen, deren Antworten nicht vorhersehbar sind, vielleicht gar nicht erwartbar sind.

Fragen implizieren bereits Antworten. Aufgabe der Wissenschaft aber ist es, solche Fragen aufzuwerfen, deren Antworten nicht vorhersehbar sind, vielleicht gar nicht erwartbar sind. Meinen Studierenden stelle ich die Frage nach gut oder schlecht überhaupt nicht. Viel relevanter ist die Frage, welche Implikationen A hat, und welche B hat. Und was wäre, wenn A gar nicht A wäre, und B gar nicht B. Das Gedankenexperiment ist eine wissenschaftliche Königsdisziplin, und Moral ist zu diesem Zeitpunkt nicht hilfreich. Das ist allerdings kein Plädoyer wider die wissenschaftliche Ethik! Universelle Geltung ist eine verlockende Variable in der Wissenschaft, aber wer sozialwissenschaftlich forscht, also den Menschen in seinem Wirken und Handeln untersucht, kann gar nicht von absoluten Ergebnissen ausgehen. Rationalität ist genauso ein Kind seiner Zeit. Wissenschaft ist irgendwie immer auch der Spiegel seiner Gesellschaft in einer bestimmten Zeit. Was sein darf, was nicht, welche Fragen gestellt und welche nicht einmal gedacht werden dürfen – all das sagt meist mehr über die Gesellschaft.

Was sein darf, was nicht, welche Fragen gestellt und welche nicht einmal gedacht werden dürfen – all das sagt meist mehr über die Gesellschaft.

Wissen ohne Erfahrung zu denken, ohne eine Subjektivität ist geradezu seltsam. Diese Subjektivität aus dem Prozess wieder herauszunehmen, das ist die Aufgabe der Methoden der empirischen Sozialforschung, die versuchen, eine Art von universellerer Gültigkeit herzustellen. Ich fürchte mich allerdings nicht vor dem Irrationalen, welches in Maßen hilfreicher sein kann, weil es einen Perspektivenwechsel ermöglichen kann. Ein Beispiel dafür sind die Placebo-Studien. Eigentlich dürften Placebos nicht funktionieren, und sie tun es doch. Wer eine solche Irrationalität nicht zulässt, und ihr nicht nachgeht, verschließt sich einem interessanten neuen Feld. Überall dort, wo etwas von unserer Erwartungshaltung abweicht, passiert Irritation, und genau dort besteht die Option auf Wachstum, Veränderung, neue Erkenntnis. In der Wissenschaft, in der Bildung, im persönlichen Leben.
 
 
Der Glaube, dass man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen könne, dass wir Menschen Antworten auf die großen Fragen finden – mithin das Versprechen der Aufklärung – ist im Schwinden begriffen. Stattdessen baut man darauf, dass uns die Smartcity, das Smartgrid, Smarthome, Smartfarming, eine Smartdemocracy, letztlich nur noch eine KI erlösen kann. Wann haben wir den Glauben an uns selbst verloren?
 

Die große Frage für mich ist, wer hier an wen geglaubt hat. Die Aufklärung, ähnlich wie die Emanzipationsbewegungen waren vielfach etwas, das die Elite einer Gesellschaft beschäftigt hat, aber nicht zwingend in alle Bevölkerungsschichten vergleichbar vorgedrungen ist. Im Nachhinein hört es sich so an, als wären alle dabei und dafür gewesen, dem ist aber gewiss nicht so. Alle Smart-Labels sind letztlich Versuche, Entwicklungen, die auf den ersten Blick neu, unüberschaubar und vielleicht daher auch bedrohlich wirken können, mit einem Etikett zu versehen, um sie einordnen zu können. Fakt ist, dass der Mensch der Gegenwart mit einer Vielzahl an Herausforderungen konfrontiert ist, die leicht zu einer Überforderung führen können. Hat vor einem Jahrhundert noch die Kirche viele Antworten vorgegeben, so ist mit der Säkularisierung eine wichtige Institution weggefallen. Wer gibt uns heute noch Antworten auf die großen Fragen der Menschheit?

Wer gibt uns heute noch Antworten auf die großen Fragen der Menschheit?

Das Fernsehen? Social Media? Moralische Fragen nach Gut-Böse, Richtig-Falsch, beschäftigen uns natürlich immer noch, bloß die Antworten darauf müssen wir uns jetzt selbst geben. Dies bringt auch eine enorme Verantwortung mit sich, die wir allzu gerne auch mal wieder abgeben möchten. KI ist ein Versprechen dafür, uns hier etwas abnehmen zu können. Was sie aber gleichzeitig mit sich bringt, sind neue Fragen der Moral und der Verantwortung. Am Beispiel von Drohnen für Kampfeinsätze zeigt sich das besonders deutlich. Statt einem Feind Auge in Auge gegenüber stehen zu müssen, lassen wir vermeintlich einfach eine Drohne irgendwohin steuern, die mit einem Sprengsatz für uns erledigt, was wir nicht mehr unmittelbar selbst erledigen müssen. Wir delegieren also unser Handeln an eine Maschine. ABER: Wer ist dann tatsächlich dafür verantwortlich, wenn etwas passiert, oder noch schlimmer, wenn etwas passiert, was nicht passieren soll. Ein realer Kampfeinsatz braucht eine ausgebildete Person, einen Soldaten oder eine Soldatin mit entsprechender Ausbildung. Aber eine Drohne kann fast jeder fliegen. Und wenn diese versagt, bzw. eine Fehlleistung bringt, ist dann die Person schuld, die die Drohne konstruiert hat, die sie gewartet hat, die sie bedient, etc.? Also eine vermeintliche Vereinfachung bringt eine neue Komplexität mit sich. Manchmal gewinne ich sogar den Eindruck, dass ich mir weniger Gedanken um die Antworten machen muss, als darum, ob noch die großen Fragen gestellt werden. Beziehungsweise ist interessant zu klären, ob wir hier bewusst delegieren, und somit die Möglichkeit wahrnehmen, diese Entscheidung regelmäßig zu hinterfragen, oder ob wir das unbewusst machen.

Gelebte Demokratie ist auch ein gutes Beispiel. Wer in meiner Jugend (vor 20-30 Jahren) etwas für die Umwelt leisten wollte, musste selbst Müll trennen, Produkte mit Tierversuchen boykottieren, weniger Spraydosen verwenden um das Wachsen des Ozonlochs zu stoppen etc. Heute bedeutet ökologisches Engagement bisweilen, dass ich von einem Smartphone aus Spenden kann, mich einigen Facebook-Gruppen anschließen und dort ein paar Kommentare hinterlassen kann, während im bequem im Pyjama auf der Couch sitze. Das gibt rein körperlich schon ein ganz anderes Gefühl, als bei einer Demo auf der Straße zu stehen. Dieses unmittelbare Erlebnis hat auch eine körperliche Dimension, eine emotionale, in der Verbundenheit mit anderen Menschen, das fällt alles weitgehend weg, wenn ich mein Engagement an (Soziale) Medien delegiere. Das bedingt auch ein völlig anderes Gefühl einer Betroffenheit, sich nachhaltig als Teil von etwas zu fühlen, das bringt eine andere Verbindlichkeit mit sich. Und wieder – hier geht es nicht darum, was davon jetzt schlechter oder besser ist, sondern welche Implikationen sich daraus ergeben.

Ein österreichischer Kabarettist hat übrigens gesagt, das Gegenteil von Wissen sei nicht die Unwissenheit, sondern der Glaube.

Ein österreichischer Kabarettist hat übrigens gesagt, das Gegenteil von Wissen sei nicht die Unwissenheit, sondern der Glaube. Wenn ich nicht wissen kann, muss ich glauben. Das ist an sich nicht problematisch. Schwierig wird es nur dann, wenn sowohl das Wissen als auch der Glaube absolut verstanden werden. Wenn es also keine Irritation mehr geben darf, keine Abweichung von der Erwartungshaltung, keine neue Erkenntnis. Das führt mich dazu, zu sagen, dass mir Wissen und Wissenschaft als auch Glaube suspekt sind, sobald sie sich als absolut und nicht mehr hinterfragbar begreifen. Und wenn diese Form des absoluten Weltbildes jene ist, die die großen Fragen der Menschheit beantwortet, dann ist das problematisch.

 
 
Wie wahrscheinlich ist es, dass in naher Zukunft eine Allianz von Robotern und KI – wie bspw. in Matrix – die Macht übernimmt und die Menschheit unterjocht?
 

Wenn ich das wüsste, dann wäre ich im Olymp der Wissenschaft, und bald die reichste Person auf der Welt, und vermutlich auch die umstrittenste. Wenn aber von Robotern und KI die Rede ist, und Bilder wir aus Matrix heraufbeschworen werden, so fällt mir dazu folgendes ein. In der Geschichte der Menschheit sind alternative Weltentwürfe immer wieder etwas, das die Faszination der Menschen beflügelt. Das Bild, dass die Menschheit von Maschinen unterjocht würde, ist dabei meist das vorherrschende. Als die ersten Menschen mit der Eisenbahn reisten, machte man sich ernsthaft Gedanken darüber, ob diese schnelle Art der Fortbewegung nicht Schäden für den Körper mit sich bringen, ob die Organe nicht darunter leiden, dass sie mit X km/h durch die Welt rauschen, und ob das Gehirn nicht darunter leiden könnte. Heute fliegen wir, sogar ins Weltall.

Es gab Zeiten, da fielen Menschen beim Betrachten von Ölbildern in Ohnmacht, weil sie so lebensecht waren.

Es gab Zeiten, da fielen Menschen beim Betrachten von Ölbildern in Ohnmacht, weil sie so lebensecht waren. Der erste bewegte Film ließ Menschen in Angst zusammenzucken, weil sie dachten, der Zug würde aus der Leinwand auf sie zurasen und das Publikum verletzen. Heute gehen wir in 3D-Kinos, und Alexa regelt unsere Haushalte.

In der Frühzeit der Medizin wollte man den menschlichen Körper nicht von innen betrachten, heute verpflanzen wir Organe, führen komplizierte Operationen durch und sogar Telemedizin ist heute Alltag in den großen Kliniken der Welt. Ob also technische Entwicklung eine Bedrohung ist oder nicht, entscheiden wir. Oder konkreter gesagt: Das entscheiden diejenigen, die Machtansprüche oder Angst vor Machtverlust haben. Die Mediengeschichte zeigt, dass über Jahrhunderte immer wieder dieselben Argumente gegen neue Medien eingebracht werden (Verdummung, Verrohung der Sitten, körperliche Schäden, etc.) egal ob es um den Film oder Soziale Medien geht. Da ist immer die Frage, wer hat Angst Macht einzubüßen oder etwas zu verlieren?

Wer hat Angst Macht einzubüßen oder etwas zu verlieren?

Ein gewisses Unbehagen ist allerdings eine normale Reaktion auf neue Entwicklungen. Was wir nicht kennen, lässt uns innehalten und überlegen. Implantate, Prothesen, Biotechnologie, all das wird von uns eher nicht als Joch sondern als Segen wahrgenommen. Dort, wo die Fragen der Verantwortung nicht geklärt sind, dort bleibt das Unbehagen zurück, und dort ist Raum für Ängste und Vorbehalte. Davon profitiert natürlich immer auch jemand. Marie Curie-Sklodowksa soll gesagt haben, man müsse sich vor nichts fürchten, man müsse es nur verstehen. Das ist schön gedacht, aber es ist schwierig, etwas verstehen zu wollen, das wir immer schwerer begreifen können. Alle haben Smartphones, aber wer weiß schon wirklich, wie das Ding funktioniert?? Das macht es nicht leichter. Wir müssen mit der Komplexität umgehen lernen, und wir müssen lernen, wer uns diese Komplexität begreifbar(er) machen kann, und wem wir dabei vertrauen können. In diesem Prozess stecken wir gerade. Das große Wort „die Macht über die Menschen übernehmen“ lässt mich zudem daran denken, dass auch das Festhalten an einem bestimmten Weltbild und der gleichzeitige Ausschluss all dessen, was dieses Weltbild in Frage stellen knönte, genau diese Funktion haben kann. Also hat fanatischer Glaube eine ähnliche Funktion. Oder aber die irrationale Angst vor allem Neuen. Wem oder was geben die Menschen die Macht, könnte man an dieser Stelle auch fragen. Fremdenfeindlichkeit beispielsweise ist so eine Macht, die durch Medien und diverse Ereignisse genährt werden kann, und die dann wieder Macht über die Menschen ausübt, die sich ihr verschreiben – ein interessanter Kreislauf, und eine Art Joch.

Es braucht Visionen, Zweifel, Vorbehalte, Neugier und Wissensdurst, Mut und Vorsicht.

Es braucht Visionen, Zweifel, Vorbehalte, Neugier und Wissensdurst, Mut und Vorsicht. In der Wissenschaft, in der Bildung, in der Forschung, letztlich überall. Paracelsus sagt zu viel von etwas ist auch nicht gut. Die Balance ist wichtig. Balance allerdings nicht im Sinne eines Stillstandes, sondern im Sinne einer Bewegung, eines Prozesses. Respekt vor Neuem ja bitte, Angst war allerdings immer eine schlechte Beraterin.

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