Eine Kritik der Konsensdemokratie – von Kevin-Leon Kerk

Schafsherde

 

Eine Kritik der Konsensdemokratie

Die Begrenzung der politischen Handlungsfähigkeit durch den Konsens

Text: Kevin-Leon Kerk | Gastbeitrag

In den öffentlichen Debatten wird fortwährend eine Krise der Demokratie thematisiert. Unzählige globale Krisen – längst vermeidbare absolute Armut, der Klimawandel, die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und des Planeten Erde, sowie zunehmende Ungleichheiten – scheinen sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene schwerer bis gar überhaupt nicht lösbar zu sein. Bei allen Antworten, die im breiten – und doch schmalen – politischen Spektrum im Hinblick auf die diversen Krisen formuliert werden, bleibt ein Punkt weitgehend unberührt: Der herrschende Grundkonsens. Jeglichen Inhalten, die diesem zugrunde liegen, wird die Thematisierung in sämtlichen Instanzen untersagt. Ich möchte versuchen, kurz darzulegen, inwiefern die Ursachen der Krise der Demokratie und ihrer Handlungsfähigkeit in einem fehlerhaften Verständnis von Demokratie, welches zu dominieren scheint, liegen.

Die Rolle des Konsenses für Demokratie und Politik

Kevin-Leon Kerk
Kevin-Leon Kerk studiert Soziologie und Ökonomik an der WWU Münster. Seine Interessenschwerpunkte liegen vor allem in der politischen Philosophie, der politischen Soziologie und der Wirtschaftstheorie.

Die Grundlage der gegenwärtigen Demokratie scheint stets eine Art „Hintergrundkonsens“ zu bilden, der alle Diskurse a priori inhaltlich beschränkt, indem er jegliche Anliegen, über die er besteht, nicht zum demokratischen Diskurs zulässt.

Dieser Konsens beschneidet den Diskurs, indem er die Gesellschaft fest in eine einzige und vor allem indiskutable Natur festschreibt. Diese Natur, die nichts anderes als den Konsens über das gegenwärtige Verständnis und den gegenwärtigen Aufbau von Gesellschaft, Politik und insbesondere der Wirtschaft darstellt, entzieht sich dem demokratischen Diskurs und wird auf ein engstes Maß kontingentiert. Das Resultat ist ein eng begrenztes Repertoire von Antwort- und Lösungsmöglichkeiten, um sowohl den eingehend benannten als auch allen weiteren Problemen zu begegnen. Die Grenzen dieses Kontingents an Möglichkeiten scheinen irreversibel, weil sie keine Antworten zulassen, die über dieses hinauszugehen versuchen. Ich spreche an dieser Stelle insbesondere von jenem Konsens, der über das kapitalistische Wirtschaftssystem besteht. Er legt die die Grenzen der diskursfähigen Inhalte fest, noch bevor ein demokratischer Konflikt über sie erfolgen kann, und verneint a priori alle Ideen, Ansätze und Handlungsvorschläge, die von dem Konsens abweichen.
Diesem gesellschaftlichen Konsens entwachsen ökonomische Notwendigkeiten und stets angeführte Sachzwänge, die zu Naturgesetzen der Gesellschaft verformt werden und den man sich, in Konsequenz, nicht entziehen könne. Als irreversibel betrachtet, und das ist die Natur des Konsenses – denn jene Inhalte werden, wie bereits erläutert, dem Diskurs entzogen und so unauflösbar gemacht –, verformt der Konsens sie so zur Ideologie. Mittels dieser ökonomischen Sachzwänge, die der Konsens der Gesellschaft auferlegt, erhebt er den Gesellschaftszustand in eine naturartige Sphäre. Die Gesellschaft verliert in Konsequenz ihren zustandshaften, geschichtlich-historischen Charakter. Indem der Konsens die Gesellschaft also auf das Walten der naturhaft gewordenen Prinzipien und die objektiven Sachzwänge, den es sich uneingeschränkt zu fügen gelte, beschränkt, versperrt er den Raum für Diskurse über weitere Möglichkeiten, die die Gesellschaft haben könnte, um Krisen langfristig entgegenzuwirken.

Der Konsens degradiert die Gesellschaft so zurück in vordemokratische Zeiten, indem er die demokratische Gesellschaft um grundlegende Fragen über ihren eigenen Aufbau beraubt. Er entzieht der Gesellschaft ihren demokratischen Charakter, weil fundamentale Fragen der Gesellschaft dem politischen Diskurs entzogen werden. Der Gesellschaft wird in Konsequenz erneut eine naturwüchsige Form eingeschrieben, die sich als nicht mehr diskutier- und veränderbar erweist. Auf diese Weise wird eine starre Konstruktion von Gesellschaft erschaffen, unter dessen Bann sich die Gesellschaft begibt.

Im Namen der Demokratie lässt der Konsens an diesem Punkt von der Demokratie selbst ab, denn Demokratie ist die uneingeschränkte Diskussion der demokratischen Gesellschaft, dem keine solche Vorbestimmtheit zentraler Fragen zugrunde liegen darf. Sie ist der persistenteste Konflikt darüber, wie die Gesellschaft sich konkret gestalten und organisieren soll. Ein solcher Grundkonsens jedoch, der es sich gestattet, elementare Anliegen vollends dem Diskurs zu entziehen, ist genau diesem – dem demokratischen Konflikt und der Diskussion – diametral entgegengesetzt. Indem er einen nicht unbedeutenden Gehalt, über den es sich in einer Demokratie argusäugig auseinanderzusetzen gelte, arrestiert, und zu keinem öffentlichen Diskurs, schon gar keinem Parlament, zulässt, arrestiert er die Demokratie selbst, indem er sie rigoros begrenzt. Aber genau dies – die Subordination alles Denkbaren unter den demokratischen Diskurs und den demokratischen Konflikt – ist die Essenz, an der sich Demokratie labt.

Wie ist der Handlungsunfähigkeit und dem Konsens also zu begegnen?

Der herrschende Konsens führt zu einem Ende von Politik und Demokratie, indem er ihre essentiellsten Eigenschaften auslöscht. Despotisch grenzt er grundlegende Frage aus dem Spektrum der demokratischen Kurse und der Politik aus und führt so zu einer Gesellschaft, der es nicht mehr gestattet ist, sich als Ganzes und grundlegend zu hinterfragen und einer Diskussion zu unterziehen. Die politische Handlungsfähigkeit sämtlicher Akteure wird, weil durch den Konsens nur ein kleinstes Repertoire an Handlungs- und Antwortmöglichkeiten zur Verfügung steht, um auf Probleme der gesellschaftlichen Realität zu reagieren, auf einen sehr engen Rahmen begrenzt. Vor allem erhebt er sich der Konsens in eine naturhafte Sphäre, wodurch er äußerst persistent und gegenüber Kritik nahezu immun wird. Indiskutabelität ist schließlich die Natur des Konsenses, sie ist demnach auch in keiner denkbaren Operation aus ihm extrahierbar. Er kann also schlicht nicht anders, als der Demokratie und der Politik unversöhnlich zu sein, weil er sie und seine kritische Beleuchtung vehement einschränkt Der Konsens aber nagelt die Gesellschafft auf nur eine Wirklichkeit fest.
Es bedarf daher einer politischen Objektivierung dessen, was der Konsens längst als unantastbar aus dem Diskurs verbannt hat. Unter einer solchen politischer Objektivierung ist der Vorgang zu verstehen, Gegenstände und Lösungsansätze, die nicht mehr Inhalt der Diskurse werden können, erneut zu einem Gegenstand – zum Inhalt und Objekt des Diskurses – zu machen.

Der Krise und der Handlungsunfähigkeit der Demokratie ist also vor allem mit dem Aufbruch des Konsenses zu begegnen. Unter Berufung auf die Kernsubstanzen einer demokratischen Gesellschaft, mit den es die Errichtung jedes Konsenses, besonders eines derart persistenten, zu verhindern gilt, könnte der problematischen Situation begegnet werden. Eine politische Objektivierung jener Anliegen, die der Konsens exkludiert, und eine Implementierung grundlegender Fragen über die vielfältigen Möglichkeiten des Wirtschaftens, können mögliche Problemlösungsansätze darstellen. Nicht nur, um die gegenwärtige Krise zu besänftigen, sondern um zu versuchen, sie nachhaltig zu bewältigen und eine wahrhaftig demokratische Gesellschaft zu ermöglichen. Der Konsens ist ein Hindernis für die Demokratie, weil er die kritische Reflexion, die Diskussion und alle Handlungsmöglichkeiten derartig beschränkt. Ein Ansatzpunkt, um der politischen Handlungsunfähigkeit zu begegnen, läge also an genau dieser Stelle.

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