Demokratie und Eigentum neu denken | Giacomo Corneo

HochhäuserFoto: Justus Menke | Unsplash

 

Demokratie und Eigentum neu denken

Politische Selbstbestimmung und der Bundesaktionär

Text: Giacomo Corneo

Liberale Gesellschaftswissenschaftler in der Tradition von Karl Popper und F. A. von Hayek machen den Erfolg der sozialen Marktwirtschaft von der Trennung des wirtschaftlichen vom politischen Sektor der Gesellschaft abhängig. Von einer solchen Trennung kann heute keine Rede mehr sein. Um der Übermacht des Wirtschaftlichen wieder Herr werden zu können, bedarf es gleichermaßen des demokratischen Empowerments wie der Etablierung eines Bundesaktionärs.

Anders als in den 70ern, als der Einfluss der Politik auf die Wirtschaft ein bedenkliches Ausmaß angenommen hatte, ist es heute die Übermacht des Wirtschaftlichen, die uns zu schaffen macht. Ich will auf zwei Beispiele für das Ausufern kapitalistischer Kräfte ins Politische und auch ins Sittliche aufmerksam machen. Das erste Beispiel betrifft die Entwicklung der ökonomischen Ungleichheit in den USA während der letzten drei Jahrzehnte. Aus einem vergleichsweise egalitären Land sind die USA zu einem Land mit einer außerordentlichen Konzentration von Einkommen und Vermögen geworden – mit einer Ungleichheit, die jener ähnelt, die vor einhundert Jahren beobachtet wurde. Zu den Opfern der heutigen gesellschaftlichen Spaltung zählt auch die weiße untere Mittelschicht. Parallel zum Anstieg der Einkommensungleichheit stieg auch die Inhaftiertenrate in den USA an – und liegt heute etwa zehn Mal so hoch wie in Westeuropa. Der politischen Passivität des Großteils der Bevölkerung entspricht die zunehmende Einflussnahme der Lobbys. Der Begriff „Dollarocracy“ wird inzwischen benutzt, um den Übergang des politischen Systems vom Gleichheitsprinzip „One man, one vote“ zum faktischen Prinzip „One dollar, one vote“ zu beschreiben. Die kapitalistische Dominanz hat sich also von der wirtschaftlichen auf die politische Sphäre übertragen. Nicht einmal Barack Obama mit seinen glühenden Versprechen konnte – oder wollte – daran etwas ändern.

Mein zweites Beispiel ist Italien nach der Übernahme der Regierungsmacht durch den führenden nationalen Kapitalisten, dazu noch Medienmogul, Silvio Berlusconi. Wirtschaftspolitische Experten unterstreichen oft die verheerenden Effekte seiner Amtszeit auf die öffentlichen Finanzen, welche bei Ausbruch der internationalen Finanzkrise Italien an die Schwelle der Insolvenz führten und die Refinanzierungskosten des Staates immens in die Höhe trieben. Nicht minder katastrophal waren die Folgen, welche die Berlusconi-Ära für die sittliche Entwicklung Italiens hatte. Zum einen handelt es sich um die moralische Herabsetzung staatlicher Normen, insbesondere die Verharmlosung der Steuerhinterziehung – und damit verbunden um das Lob des „furbo“, sprich des schlauen Tricksers, der den Staat und seine Gesetze auszunutzen weiß, um sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern. Zum anderen wurde durch die medienwirksame Inszenierung seines Lebensstils der Eindruck erweckt, dass die Käuflichkeit von Menschen (und insbesondere von minderjährigen Frauen) nichts Verwerfliches sei, sondern geradezu den normalen Rahmen zwischenmenschlicher Beziehungen darstelle. Selbstverständlich hat Berlusconi weder die Steuerhinterziehung noch die Bestechung in Italien erfunden. Aber durch sein Amt als Premierminister hat er sie derart legitimiert, dass sie zu allumfassenden Fesseln geworden sind, welche dem Land immer noch nicht erlauben, den stinkenden Sumpf zu verlassen, in den es getrieben wurde.

Ich möchte diese zwei Beispiele – weitere könnten mühelos hinzuaddiert werden – als ernsthafte Mahnung verstanden wissen: Auch ein „normales Land“ kann allmählich in Situationen hineinrutschen, in denen kapitalistische Machtverhältnisse maßgeblich Politik und Werte bestimmen.

Demokratie neu gestalten

Es ist an der Zeit, einen gewaltigen sozialen Fortschritt zu wagen und den Kapitalismus in seine Schranken zu weisen. Fortschritt fängt mit dem Abbau von Bevormundung und unnötigen Herrschaftsstrukturen an. Dieser Abbau steht auf der Tagesordnung, denn noch nie war die Bevölkerung so gut ausgebildet wie heute. Die Schule arbeitet darauf hin, dass aus jungen Menschen mündige Bürger werden. Die Vermittlung analytischer und kritischer Fähigkeiten steht im Mittelpunkt der hochschulischen Ausbildung. Öffentliche Rundfunk- und Fernsehanstalten nehmen den Auftrag wahr, der Demokratie durch breit angelegte Information und Erklärung zu dienen. Freie Medien, ein lebhafter Büchermarkt, Theatervorstellungen und Podiumsdiskussionen sowie Bürgerforen bilden eine erprobte Infrastruktur, in der sich der öffentliche Diskurs entfalten kann. Hinzu ist inzwischen das grenzenlose Informations- und Diskussionsangebot des Internets gekommen. Noch nie war es möglich, so viel Stoff zum Nachdenken so kostengünstig an so viele Menschen weiterzugeben, wie es heute der Fall ist.

Deswegen sollten wir uns nun selbst mehr Macht geben, um unsere politischen Vertreter zu steuern und wichtige kollektive Entscheidungen direkt zu treffen. Die existierenden demokratischen Strukturen – reine Parteiendemokratie, Abkoppelung der Bürger von der Gesetzgebung, Undurchsichtigkeit der Verwaltung – passen nicht mehr zu den Möglichkeiten und Wünschen der Bevölkerung. Unzählige spontane Initiativen der Zivilgesellschaft sowie die Tatsache, dass immer mehr Menschen ihren Konsum und ihre Anlagestrategien an ethischen Kriterien ausrichten, zeugen vom Stellenwert kollektiver Belange für die meisten Menschen und von ihrer Fähigkeit, sich eigenständig und kritisch mit diesen Belangen auseinanderzusetzen.

Neue demokratische Strukturen müssen daher das begründete Vertrauen des Volkes in sich selbst verkörpern. Angst davor müssen nur Lobbyisten und ihre politischen Komplizen haben. Denn demokratisches Empowerment (hier: Ermächtigung, Selbstbestimmung) kann tatsächlich dazu führen, dass sich die Mächtigen und Skrupellosen nicht länger durch politische Einflussnahme auf Kosten der Allgemeinheit bereichern können. Dann müssten die Kapitalisten wieder anfangen, ihr ganzes Geld auf Wettbewerbsmärkten zu verdienen, das heißt, indem sie uns als Konsumenten besser dienen.

Demokratisches Empowerment wird auch einen Qualitätssprung im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen ermöglichen. Transparenz, Benchmarking und ehrenamtliche Begleitung durch Fachleute sind einige der zentralen Stichworte für eine neue, effiziente und bedürfnisorientierte Bereitstellung von Schulunterricht, medizinischer Versorgung, innerer Sicherheit und weiteren Dienstleistungen, welche unsere Lebensqualität massiv beeinflussen. Es gibt gute ökonomische Gründe, weshalb solche Dienstleistungen öffentlich und nicht über das Marktsystem bereitgestellt werden sollten – vorausgesetzt, wir organisieren sie vernünftig. Eine effektive Verwaltung öffentlicher Dienstleistungen auf die Beine zu stellen, ist ein wesentlicher Beitrag, um den Kapitalismus zu zähmen. Denn: Qualitativ hochwertige, unentgeltliche, demokratisch bestimmte öffentliche Dienstleistungen sind das beste Mittel gegen den Geldfetischismus – gegen die Tendenz, Wert mit Geldwert gleichzusetzen und damit die Dinge zu unterschätzen, die zwar keinen Preis haben, das Leben jedoch lebenswert machen: die Liebe für andere Menschen, die Freude am Verstehen und Entdecken, das Bewundern der Schönheit in Kunst und Natur …

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Eigentum neu denken

Großunternehmen nutzen Skalenvorteile aus, die ihnen ermöglichen, effizient Güter und Dienstleistungen zu produzieren. Damit erfüllen sie eine wichtige ökonomische Funktion. Doch gleichzeitig achten Großunternehmen und Großbanken nicht auf die Trennung zwischen Wirtschaft und Politik. Sie haben politischen Einfluss und machen ihn geltend, um ihre Eigentümer und Führungskräfte auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern. Dies wirft die Frage auf, ob es nicht bessere Eigentumsformen für Großunternehmen und Großbanken gibt als die bestehenden.

Bei dieser Frage heben liberale Intellektuelle oft die Gefahr einer „Anmaßung von Wissen“ (F. A. von Hayek) hervor. Sie meinen damit, dass sich Menschen überschätzen, wenn sie glauben, die Wirtschaft – trotz ihres notwendigerweise beschränkten Wissens – planen zu können. Ihnen zufolge wäre es also ein Irrglaube, dass man die optimale Eigentumsform für Großunternehmen durch bloßes Nachdenken festlegen könnte. Es existiert aber eine zweite Anmaßung von Wissen: Die Idee, dass das Ergebnis der bisherigen Erfahrungen uns bereits lehren würde, wie das Optimum aussieht. Eine abwegige Idee, denn die heutige Eigentumsform der Großunternehmen ist nicht das langfristige Ergebnis vollkommener Wettbewerbsmärkte und somit einer effizienten Auslese. Die jeweilige Performance am Markt zählt zwar für das Ergebnis, aber genauso zählen die Profite, die dank politischer Begünstigung am Markt vorbei erwirtschaftet werden – zum Beispiel durch die Tolerierung von Preisabsprachen und geplanter Obsoleszenz (absichtliche Verringerung der Lebensdauer von Produkten), die Gewährung von öffentlichen Fördermitteln, die Festsetzung günstiger Produktstandards und Haftungsregeln, den überteuerten Verkauf eigener Produkte an den Staat. Je nachdem, ob private oder öffentliche Unternehmen die wirksamste Lobby hatten, ist die Auslese in die eine oder andere Richtung verzerrt worden.

Skalenvorteile sind Kostenvorteile für Unternehmen, die durch deren Größe entstehen. Will beispielsweise ein Automobilhersteller ein neues Modell herstellen, fallen Entwicklungskosten an – sagen wir eine Milliarde Euro. Werden diese Kosten auf fünf Millionen verkaufte Fahrzeuge umgelegt, fallen für jeden Kunden 200 Euro Entwicklungskosten an. Kann man sie hingegen nur auf 500.000 verkaufte Fahrzeuge umlegen, bedeutet dies, dass jedem Kunden 2000 Euro berechnet werden. Neben der Entwicklung gilt dies beispielsweise auch für den Einkauf von Teilen und Komponenten sowie für die Werbung.

Dieser doppelten Gefahr der Anmaßung von Wissen soll Rechnung getragen werden. Hierzu bedarf es eines möglichst fairen Wettbewerbs zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen, um zu entdecken, wie die optimale Eigentumsstruktur wirklich aussieht. Die Leitlinien eines solchen Wettbewerbs will ich hier kurz skizzieren: Damit das Wettbewerbsergebnis aussagekräftig ist, muss ihm die Errichtung einer optimalen Organisationsstruktur für die öffentlichen Unternehmen vorausgehen. Damit gemeint ist eine Anreizstruktur, welche die Leitung der öffentlichen Unternehmen zur bestmöglichen wirtschaftlichen Performance animiert. Meinen Recherchen zufolge spricht alles dafür, dass dies am ehesten erreicht wird, wenn die öffentlichen Unternehmen Aktiengesellschaften sind, deren Aktien zum Teil frei am Markt gehandelt werden und zum Teil im Staatsvermögen eingefroren sind. Um eine effektive Kontrolle dieser Unternehmen gewährleisten zu können, sollte der Teil im Staatsvermögen größer als 50 Prozent sein.

Damit das ökonomische Potenzial solcher öffentlichen Unternehmen ausgeschöpft wird, müssen zwei Bedingungen erfüllt werden: Erstens müssen die öffentlichen Unternehmen vor der Einflussnahme durch Politiker geschützt werden. Und zweitens müssen Entscheidungen im Sinne ihrer maximalen langfristigen Rentabilität getroffen werden. Um beides zu gewährleisten, bedarf es einer neuen Institution. Ich nenne sie „Bundesaktionär“.

Der Bundesaktionär hat das öffentliche, in börsennotierte Unternehmen investierte Kapital treuhänderisch zu verwalten. Die zentrale Aufgabe dieser Institution besteht darin, durch ihr Personal und auf der Grundlage von Aktionärsrechten darüber zu wachen, dass dieses Kapital dauerhaft eine möglichst hohe Rendite abwirft. Davon profitiert das gesamte Gemeinwesen, weil dadurch Steuern gesenkt und das Qualitätsniveau von Infrastruktur und Dienstleistungen erhöht werden können. Ebenfalls möglich wird die Zahlung einer sozialen Dividende. Ähnlich wie bei der Bundesbank ist die Unabhängigkeit des Bundesaktionärs durch verfassungsrechtliche Normen zu sichern. Ferner soll ein Transparenzgebot gelten: Jeder interessierte Bürger sollte Zugang zu den Informationen haben, die erforderlich sind, um die Leistung des Bundesaktionärs beurteilen zu können.

Ist diese Institution einmal errichtet, sollen einige Großunternehmen ins öffentliche Eigentum überführt und die entsprechenden Kontrollrechte dem Bundesaktionär übertragen werden. Daraufhin wird sich ein evolutionärer Prozess entwickeln, der von allein zur optimalen Eigentumsstruktur führen wird: Der rentablere Sektor wird expandieren und der andere schrumpfen, bis eine effiziente Aufteilung zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen erreicht wird. Dies setzt allerdings das oben geforderte demokratische Empowerment voraus, denn nur bei funktionierender Demokratie kann verhindert werden, dass ins öffentliche Eigentum übergegangene Großunternehmen von politischen Eliten zu ihren eigenen Zwecken missbraucht werden – während die Rentabilität der anderen dank wirksamem Lobbying der Geldelite künstlich in die Höhe getrieben wird.

Unternehmen in privater Hand sind nicht so effizient, wie die Hüter des Status-quo gern hätten: Sie werden oft von unfähigen Erben geführt, werden gelegentlich von ihren eigenen Managern geplündert und trauen ihren Arbeitnehmern zu wenig Mitbestimmung zu. Die Chancen, dass eine gemischte oder gänzlich öffentlich-demokratische Eigentumsstruktur optimal ist, stehen nicht schlecht. ■

Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 4/2014 DAS NEUE erschienen.
Giacomo Corneo ist Professor für Volkswirtschaftslehre/ Finanzwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zum Thema von ihm erschienen: Bessere Welt. Hat der Kapitalismus ausgedient? Eine Reise durch alternative Wirtschaftssysteme (Goldegg Verlag, 2014).
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John Roemer: Equal Shares: Making Market Socialism Work (Verso Books, 1996)
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Fritz Hochwälder: Das Heilige Experiment (Reclam Verlag, 1964)
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