Der Widerspruch hat System | Martin Kornberger

Das System ändern?Foto: Mika Baumeister | Unsplash

 

Keine Aufregung. Der Widerspruch hat System

Text: Martin Kornberger

„Die Paradoxie ist die Orthodoxie unserer Zeit“, schreibt Niklas Luhmann, und nirgends trifft das besser zu als im Fall des Kapitalismus. Der Kapitalismus stellt den betrachter vor eklatante Widersprüche – und zwar mit solcher Regelmäßigkeit, dass der systemisch geschulte Analytiker den Widerspruch erwartet wie einen alten Freund. Doch um welche Widersprüche geht es genau? Und sind sie wirklich alte Freunde?

Vom Widerspruch zwischen Geist und Körper des Kapitalismus

Geist, Ungeist oder Gespenst – wie auch immer man zum Kapitalismus steht, einen Hang zur Metaphysik kann man ihm nicht absprechen. In Adam Smiths (1723–1790) System – und darin liegt seine große Errungenschaft – muss die Natur des Menschen nicht unterdrückt werden, um gesellschaftliche Ordnung zu gewährleisten. Im Gegenteil: Sie darf nicht unterdrückt werden, denn Ordnung entsteht aus der Natur des Menschen – nicht trotz, sondern wegen seiner Mangelhaftigkeit, wegen seines Egozentrismus. Eben gerade weil wir unsere Einzelinteressen verfolgen und weil wir auf unseren privaten Nutzen aus sind, schaffen wir über kurz oder lang ein funktionierendes Ganzes. Und das Ganze beruht nicht auf gesellschaftlicher Hierarchie, Religion oder Ständen, sondern auf dem Prinzip der „greatest happiness of the greatest number“, wie es Jeremy Bentham (1748–1832) formulierte. Das ist das große Versprechen des Kapitalismus, dass er nämlich unsere privaten Laster in öffentliche Tugenden zu verwandeln weiß. Man braucht keinen überirdischen Gott, keinen Gesellschaftsvertrag und keinen Leviathan, um ein geordnetes Zusammenleben zu ermöglichen; man muss lediglich der Natur ihren Lauf lassen und gesellschaftliche Harmonie stellt sich ein.

Dieser Geist des Kapitalismus steht in klaffendem Widerspruch zu seinem Körper. Denn um die „greatest happiness“ der vielen zu garantieren, braucht es eine Unmenge an Gütern, die getauscht werden können. Produktivität ist die Voraussetzung der kapitalistischen Gesellschaft. Darum malt Smith gleich zu Beginn seines Werkes das Bild der berühmt-berüchtigten Stecknadelfabrik gleichsam als Kulisse für seine Philosophie. Die Stecknadelfabrik ist der „unbewegte Beweger“ der smithschen Philosophie. Die arbeitsteilig organisierte, hierarchisch gegliederte Unternehmung ist der Motor der Produktivität und Effizienz. Ohne Arbeitsteilung kann der Einzelne keinen Überfluss erwirtschaften, der es ihm erlaubt, am Markt teilzunehmen. Und hier schleicht sich der Widerspruch ein: Auf der einen Seite ist der Kapitalismus ein Gesellschaftsentwurf, der auf der Ordnung des freien Marktes beruht. Auf der anderen Seite beruht der Kapitalismus auf Produktivität und Effizienz, die sich nur im Rahmen einer hierarchischen Struktur erzielen lässt. Smiths Vision einer freien Marktordnung führt schnurstracks in eine hierarchische Organisationsgesellschaft. Daraus resultiert das Paradox: Der Markt braucht die Hierarchie, die Hierarchie aber ist sein Gegenteil, der Anti-Markt schlechthin. Liegt denn nicht eine besondere Ironie in dem Umstand, dass Unternehmer, die doch gemeinhin als die Fürsprecher der unsichtbaren Hand des Marktes auftreten, in ihren eigenen Organisationen auf die sichtbare Hand des Managers vertrauen? Aller liberalen Rhetorik zum Trotz setzt sich die freie Marktwirtschaft in Wirklichkeit aus unzähligen kleinen Planwirtschaften zusammen. Hierarchie ist systemimmanentes Marktversagen, der Manager der oberste Verwalter dieses Marktversagens.

Der Widerspruch zwischen Preis und Wert

Wie keine andere Idee bildet jene des Wertes die Grundlage des Wirtschaftens. Wertschöpfung, value chains, shareholder value, value add – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Doch im Herzen dieses zentralen Begriffs vom Wert findet sich ein formidabler Widerspruch – denn was bedeutet Wert eigentlich?

Wert, das ist zunächst einmal Profit, also die Differenz zwischen dem, was mich die Produktion eines Gegenstandes oder einer Dienstleistung kostet, und dem, was der Kunde dafür zu zahlen bereit ist. Der Wert wird in Geld gemessen. Wert ist dabei eine ökonomische Größe, quanti- fizierbar und der Organisation (dem Management) zuordenbar. Das jedenfalls hat ein Manager vor Augen, wenn er seinen Shareholdern von „value“ erzählt oder wenn er mehr „Wert“ in der Unternehmung generieren will.

Wert ist aber gleichzeitig auch ziemlich genau das Gegenteil davon: Seitdem der österreichische Ökonom Carl Menger (1840–1921) die Werttheorie revolutionierte, stellen wir uns Wert nicht als eine Eigenschaft eines Objekts vor, sondern als subjektiven Nutzen, den ein Individuum aus dem Gebrauch eines Objekts zu ziehen vermag. In der Tat, ob eine Therapie, eine Beratung, eine Flasche Wein oder eine Reise ihren Preis Wert waren, hängt entscheidend von der Fähigkeit des Nutzers ab, sie gewusst zu konsumieren. Extrembeispiel Kunst: John Cages Musikstück 4’33 besteht aus vier Minuten und 33 Sekunden Stille – aufgeführt in einem Konzerthaus, in Idealbesetzung umgesetzt von einem Orchester. Was geschieht hier? Ist das Musik? Ja – weil es Cage darum ging, die Zuhörer auf die kleinen, zufälligen und scheinbar nebensächlichen Geräusche aufmerksam zu machen, die wir ständig um uns mitproduzieren, jedoch selten wahrnehmen. Wer produziert hier aber das Kunststück? Wer schafft hier etwas Wertvolles? Liegt der Wert in der Interpretation des Musikstücks – und nicht im Stück selbst? Die Organisation – das Orchester und sein Dirigent – tun nichts, und trotzdem entsteht ein Wert; und dieser Wert ist eben die kollektive Interpretationsleistung des Publikums, das sein kulturelles Kapital mobilisiert, einen musikgeschichtlichen Kontext entwirft und eben damit 4’33 einen Wert zuschreibt.

Auf den zweiten Blick ist 4’33 kein Extrembeispiel. In einer experience economy bemisst sich der Wert eines Produkts weniger am Produkt selbst als anhand der Fähigkeit des Konsumenten, die experience in seinem Kontext, seinem Erwartungs- und Erfahrungshorizont mitzuerzeugen. Muss der Konsument nicht hart arbeiten, um ein paar Ameisen, die er im New Nordic Cuisine Tempel Noma auf seinem Teller findet, in einen kulinarischen Genuss zu verwandeln? Wieviel Vorstellungskraft, wieviel Interpretation, wieviel Vorwissen ist da nötig, um Ameisen in eine experience zu verwandeln? Nochmals: Dieser Wert kommt nicht aus der Küche und er findet sich auch nicht in einem Ameisenhaufen im Wald, sondern er ist das imaginäre Produkt des Konsumaktes.

EXPERIENCE ECONOMY
Der Begriff experience economy (deutsch: Erlebnisökonomie) geht zurück auf einen Aufsatz von B. Joseph Pine und James H. Gilmore. Während die Ökonomie in früheren Zeiten durch die Landwirtschaft (Agrarökonomie), die Industrialisierung und zuletzt durch den Dienstleistungssektor gekennzeichnet war, wird den Autoren zufolge die Ökonomie künftig durch das Ansinnen der Unternehmen geprägt, Erlebnisse zu verkaufen, die dem Konsumenten etwas Besonderes bedeuten. Da dies jedoch von Mensch zu Mensch sehr verschieden ist, bemisst sich der Wert eines Produktes oder einer Dienstleistung künftig vor allem an der subjektiven Bewertung des Konsumenten.

Wenn dem so ist, was wird dann aus der Organisation, deren Hierarchie wir akzeptieren, weil sie uns eben als die effizienteste Form der Produktion erscheint? Warum Hierarchie, Über- und Unterordnung, Fremdbestimmung, Machtasymmetrien und all die anderen Dinge dulden, die wir nur deshalb in der Organisation akzeptieren, weil sie der Wertschöpfung dienen? Smiths Stecknadelfabrik legitimiert sich durch die simple Tatsache, dass sie mehr Stecknadeln ausspuckt als die Summe der Individuen einzeln erzeugen könnten. In einer entwickelten Ökonomie, in der es um Werte, nicht Produkte, um outcomes, nicht outputs geht, in einer solchen Ökonomie wird der Widerspruch zwischen der Idee der werteschöpfenden Organisation und des werteverbrauchenden Konsums immer augenscheinlicher. Was aber wird aus Organisation, dieser Bastion des Kapitalismus, wenn der Konsum als die subtilste Form der Produktion verstanden wird?

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Der Widerspruch zwischen Ökologie und Ökonomie

Vielleicht tritt der eklatanteste Widerspruch in jener Kulturtechnologie zutage, dem wir die Pflege des Kapitalismus und sein Wachstum anvertraut haben: dem Management. Management ist ein Sammelsurium von Strategien und Praktiken, die die Organisation von Produktion zielgerichtet und effizient steuern soll.

Was aber, wenn Management durch sein Tun ebendiese Produktion hintertreibt? Was, wenn – frei nach der heisenbergschen Unschärferelation – der Prozess der manageriellen Beobachtung die beobachtete Organisation ungewollt verändert?

Beobachten wir den Beobachter bei der Arbeit. Der Manager ist im eigentlichen Sinn des Wortes ein Bürokrat, also jemand, der Herrschaft vom Büro, vom Schreibtisch aus ausübt. Um dies zu bewerkstelligen, muss er die Organisation lesbar machen: Er muss sie so formatieren, dass das komplexe Geschehen im Betrieb auf seinen Schreibtisch passt. Er muss Ressourcen, Prozesse, Abläufe, Rollen, Verantwortungen, Kosten, Inputs und Outputs definieren, er muss eingrenzen, abgrenzen und ausgrenzen, um überhaupt managen zu können. Insofern trifft Nietzsches Analyse zu, wonach ein jeder Erkenntnisapparat immer auch ein Simplifizierungsapparat sei, der nicht der Wahrheitsfindung, sondern vielmehr der Bemächtigung der Dinge dient. Und sind die mächtigsten Manager nicht die, die quasi die gesamte Organisation nur als Repräsentation gelten lassen? Die ihre Entscheidungen aufgrund von Zahlen, Berichten, beraterinduzierten Power-Point-Folien, Diagrammen und so weiter treffen?

Den Wald durch die ökonomische Schablone wahrnehmenAuf dem Weg nach oben wird die Organisation platt gemacht, bis eine erlauchte Gruppe aufgrund von Abstraktionen Entscheidungen treffen kann. Das hat Konsequenzen – Konsequenzen, die James Scott in seinem Buch Seeing Like a State meisterlich analysiert hat. Er erzählt folgende Geschichte: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich in Deutschland eine neue Form von Wissen und Praktik der Forstwirtschaft. Johann Gottlieb Beckmann (1700–1777), Avantgardist der Forstwirtschaftslehre, begann seine Systematisierungen damit, den Wald akribisch zu vermessen. Er schritt durch den Wald mit einer Schachtel unter dem Arm, in der sich Nägel in fünf verschiedenen Farben befanden. Jede Farbe entsprach einer Kategorie von Baumgröße. So wurde der Wald einer Inventur unterzogen, in der jeder Baum erfasst und klassifiziert wurde. Mit der Setzung eines „Normalbaumes“ als Standard konnte sich planen lassen, wie viel Holz der Wald pro Jahr liefern würde. Dank der Vermessung des Managements wurde der Wald zu einer Ressource, zu einem ökonomischen Objekt, mit dem sich rechnen ließ. Die Krux an der Sache: Unter Beckmanns Hand wird der Wald in Symbole, Kategorien, Zahlen und Begriffe übersetzt. Das Wuchern und Treiben wird in Tabellen und Zahlen diszipliniert. Dabei wird vom Phänomen des Waldes abstrahiert, gleichzeitig aber entsteht dadurch eine neue Realität, die ihre Substanz in der Darstellung, in der Visualisierung des Waldes findet. Der finanzielle Wert des Waldes, die Qualität und Ertrag in n-Jahren, Wachstum und Vergleichszahlen mit anderen Wäldern – das sind alles neue Qualitäten, die wohlgemerkt nicht im Wald wachsen, sondern Derivate des Managens sind.

Und es sind eben diese Repräsentationen, die die Arbeit des Managers überhaupt ermöglichen. Er kann aus der Distanz handeln, soll heißen: Er kann Aufgaben an seine Unterlinge delegieren und er kann ihre Tätigkeit kontrollieren, ohne selbst in den Wald gehen zu müssen; er kann seinem Herrn Rechenschaft über seine Leistung ablegen, in dem er auf Zahlen und Tabellen verweist; er kann Investoren den Wald verkaufen, ohne dass sie den Wald jemals zu Gesicht bekommen. Dank der Visualisierung des Waldes kann er seine Macht in die Ferne projektieren; und nur Dank der Visualisierung kann er sich als das Zentrum des Geschehens installieren. Darin liegt die Vermessung des Managements. Was uns zum Untertitel von Scotts Buch bringt: How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed. Denn in der Art und Weise, wie Management die Welt sichtbar macht, liegt das Problem. Was geschieht, wenn der Wald zu einer Summe von Bäumen und die Bäume zum Objekt des Managementhandelns werden? Was ist der Preis der Abstraktion?

Zunächst wird der Wald lesbar, darstellbar gemacht; er wird auf das, was zählt, und das heißt: was zählbar ist, reduziert. Das sind in unserem Fall die Bäume, deren Anzahl, der Umfang der Stämme, das Volumen an Holz, das sich zu einem gewissen Zeitpunkt daraus erwirtschaften lässt. Vielleicht auch die Anzahl der Häuser, die sich damit bauen lassen, oder die Schiffsmasten, die sich damit herstellen lassen. Und natürlich der Preis, der sich durch unterschiedliche Verwendungszwecke erzielen lässt. Dabei wird all das ausgeblendet, was den Wald als ökonomisches Objekt unscharf, verschwommen werden ließe. Zum Beispiel wird all das Unterholz, das Kleinwüchsige und Krumme, das Nicht-Verwertbare und Parasitäre aus der Darstellung verbannt. Es interessieren den Manager nicht die Würmer im Boden und die Eichhörnchen auf den Baumwipfeln und auch nicht das gefallene Laub und die Feuchtigkeit nach dem Regen. Vor lauter Bäumen sieht er den Wald nicht.

Das Problem liegt auf der Hand: Es sind eben genau jene Dinge, die der Manager außer Acht lässt, die den Wald zum Wald machen. In Wirklichkeit haben wir es mit einer Ökologie zu tun, die der Manager in eine Ökonomie uminterpretiert. In Scotts Geschichte rächt sich diese Umdeutelei recht bald: Die Forstwirtschaftslehre markiert paradoxerweise die Geburt des Waldsterbens.

Denn im Laufe der Geschichte wird die Darstellung des Waldes als ökonomisches Objekt immer mehr zum Modell für die Gestaltung des Waldes. Die vereinfachende Darstellung führt zu einem vereinfachten Wald – und solch ein vereinfachter Wald, von seiner komplexen Ökologie getrennt, ist nicht nachhaltig. Die daraus resultierenden Monokulturen laugen den Boden aus, sie sind für Schädlinge und Sturmschäden anfällig. Dies – und vieles mehr – macht den vereinfachten Wald in kurzer Zeit zu einer höchst komplizierten Sache, die sich mit den Mitteln des Managements nicht beherrschen lässt.

Die Moral der Geschichte? Die instrumentelle Darstellung des Waldes ignoriert, was seine eigentliche Existenz ermöglicht und seine Reproduktion sicherstellt. Die Abstraktion des Managers macht aus dem Wald ein Objekt, das einen Preis hat; aber eben damit zerstört er jene Werte, die den Wald hervorbringen.

Diese Geschichte ist freilich eine Parabel: Von der Forstwirtschaftslehre ist es nur ein kleiner Schritt zur modernen Finanzwirtschaftslehre. Sind denn nicht Ratingagenturen moderne Simplifizierungsmaschinerien, die ihre Bewertungen wie farbcodierte Nägel in Unternehmen treiben? Zweifelsohne gehören diese Vereinfachungen zur numerischen Infrastruktur der globalisierten Finanzwirtschaft. Aber wie die Forstwirtschaft zum Waldsterben, so führten die Ratings in die Krise. Und in der Krise besinnt man sich jener Dinge, die die Wirtschaft allererst möglich machen, die aber in ihrem Kalkül außen vor bleiben – allen voran der eigentlichen Bedeutung des Wortes Kredit, lateinisch für „Vertrauen“. Wir sehen den beckmannschen Stil am Werk: Eine komplexe Ökologie wird immer weiter abstrahiert, in immer feinere Tranchen zerlegt und zu collateralized debt obligations und credit default swaps und anderen Derivaten synthetisiert. Diese neuen Objekte existieren nur als Darstellungen, sie drücken Beziehungen und Verhältnisse aus, die ohne die Kunst des Managers nicht existieren würden. Aber wie beckmannsche Darstellungen des Waldes sind auch sie Darstellungen, die ihre eigene Existenzbedingung ignorieren. Karl Marx hat in diesem selbstdestruktiven Prozess das Wesen des Kapitalismus erkannt: Fortwährend zerstört er das Fundament, auf dem sein Erfolg basiert.

Widerspruch als List der Mäeutik oder Plan B?

Freilich könnte man, all dem folgend, dem Widerspruch eine wichtige Funktion zuschreiben: Er hält das System in Bewegung, die Akteure auf Trab, ganz im Sinne von Goethes Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft (und deren säkularisierte Lesarten, von Joseph Schumpeters schöpferischer Zerstörung bis hin zu Albert Hirschmans hiding hand).

Vielleicht macht man es sich mit dieser Lesart zu einfach; wird nicht durch die Normalisierung des Widerspruchs als normal akzeptiert, was eigentlich problematisch ist, woran Personen und Organisationen zerbrechen – und was insofern Ansporn der Veränderung sein sollte? Mehr noch, wird damit der Ansporn zur Veränderung nicht in ihr Gegenteil verkehrt? Haben wir es uns (mit Luhmann) im Widerspruch bequem gemacht? Sollte er aber nicht viel mehr Grund des moralischen Aufschreis, Abgrund des Denkens, Untergrund für alternatives Handeln sein?

Vielleicht sollten wir nicht die Widersprüche und Krisen im System, sondern das Systematische der Widersprüche und Krisen zu verstehen suchen. Erleben wir denn nicht fortwährend den Kapitalismus als Zwang, der nach Eigengesetzlichkeiten waltet, während wir ihn doch wegen seines Freiheitsversprechens als Idee akzeptieren? Führt nicht die ungeheure kapitalistische Produktion in eine Situation, wo alles einen Preis, aber nichts einen Wert hat? Und sind nicht die Prämissen der Ökonomie das eigentliche Gegenstück zum Verständnis der Ökologie?

DR. PANGLOSS
Dr. Pangloß ist eine Figur in Voltaires Satire Candide oder der Optimismus (1759). Inmitten von Unruhen, Krieg, Inquisition, Naturkatastrophen und Krankheit hält Dr. Pangloß an seiner Überzeugung fest, dass es sich bei dieser Welt um die beste aller möglichen Welten handle. Demnach ist trotz augenscheinlicher Missstände keine Kritik, geschweige denn Veränderung, nötig, denn schlecht ist nur, was wir aufgrund unserer beschränkten Sicht irrigerweise nicht als gute Kraft verstehen.

Gesetzt, das wäre richtig, müssten wir dann nicht auf die vielen Dr. Pangloß zugehen, die auf Lehrstühlen, Parlamentsbänken und in Vorstandsetagen sitzen, und anstatt es uns in ihren Paradoxie-Orthodoxien bequem zu machen, mit ihnen, gegen sie, einen Plan B erstreiten? ■

Dieser Beitrag ist zuerst in unserer Ausgabe 2/2016 zum Thema SYSTEME im HORIZONT-Teil erschienen. Darin gehen wir der Frage nach, welche anderen gesellschaftlichen Wirklichkeiten sich denken und wie sich konkrete Veränderungen herbeiführen lassen.
Martin Kornberger ist promovierter Philosoph und hat den Chair in Strategy and International Management an der University of Edinburgh Business School inne. Zum Thema von ihm erschienen: Management Reloaded: Plan B (Murmann Verlag, 2015)
www.martinkornberger.com/
Vom Autor empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
Jeremy Adelman: Worldly Philosopher: The Odyssey of Albert O. Hirschman (Princeton University Press, 2013)
Zwar kein Buch, aber die dargelegten Gedanken ausführlicher behandelnd: Martin Kornberger: Ist Managen eine Kunst? In: Kursbuch 184, Dezember 2015 (Murmann Verlag)
ROMAN
Robert Seethaler: Ein ganzes Leben (Hanser Verlag, 2014)
FILM
The Fog of War: Eleven Lessons from the Life of Robert S. McNamara von Errol Morris (2003)

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