Die Passive Revolution der Finanzbranche | Kai Schumann

HochhäuserFoto: Jeffrey Blum | unsplash

 

Die Passive Revolution der Finanzbranche

Text: Kai Benedikt Schumann | Gastbeitrag

New York, 14. September 2008. Mit über 20 Grad ist es ein spätsommerlicher Tag, bis gegen Abend Wolken aufziehen und den metaphorischen Rahmen für die Ereignisse dieser Nacht schaffen. In den frühen Morgenstunden des Montags meldet die Investment Bank Lehman-Brothers Insolvenz an und stürzt die Welt in die schwerste Börsen- und Wirtschaftskrise seit dem schwarzen Freitag im Jahr 1929. Tausende Amerikaner*innen verlieren ihre Immobilien, Milliarden Dollar an Vermögen werden vernichtet. Die Schockwellen waren nicht nur in Amerika zu spüren, sondern setzten auch die Eurostaaten unter Druck.

Als sich nach turbulenten Jahren der Staub legte, förderte die Aufarbeitung viele Faktoren zu Tage, die zur Entstehung der Krise beigetragen hatten. Identifiziert wurden unter anderen eine exzessive Risikobereitschaft der Banken, die Hochrisikokredite in strukturellen Finanzprodukten bündelten, fehlerhafte Ratings der Ratingagenturen und die mangelhafte Überwachung von Unternehmensmanagern*innen durch die Aktionäre*innen. Infolgedessen kam es zu einer stärkeren Regulierung der Banken, die durch Stresstests und durch höhere Rückstellungen widerstandsfähiger gemacht werden sollten.

Aber auch auf Seiten der privaten sowie der institutionellen Anleger*innen wie Pensionsfonds gab es einen Sinneswandel und eine Abkehr von aktiv gemanagten Finanzprodukten. Diese Entwicklung werde ich in diesem Blogbeitrag als Passive Revolution bezeichnen und ihre Folgen für eine nachhaltige Wirtschaft beleuchten.

Aktiv oder passiv?

Pensionsfonds, Stiftungen und Privatanleger stehen heute vor einer wichtigen Entscheidung, wenn es darum geht, wie sie ihr oder das Vermögen ihrer Kunden und Kundinnen anlegen sollen: aktiv oder passiv investieren?

Dominierend für die Zeit vor der Finanzkrise war das sogenannte „aktive Investieren“. Dabei wählen Fondmanager*innen eine Gruppe von Aktien aus, die sich besser als ein Vergleichsindex entwickeln sollen. Das Auswählen ist ein aktiver Prozess, weil nicht in alle Aktien eines bestimmten Index investiert wird, sondern nur in eine selektierte Gruppe. Dem „passiven Investieren“ hingegen liegt eine Strategie zu Grunde, bei der in einen breit gestreuten Index investiert wird. Eines der bekanntesten Beispiele ist der „MSCI World Index“, der ca. 1600 Firmen umfasst.

2008 und die Folgejahre stellten in Bezug auf die Investmentstrategie und die Risikobereitschaften einen Wendepunkt dar. Deutlich wird dies vor allem bei der Betrachtung des größten Finanzmarktes der Welt, dem der USA. Sowohl private als auch institutionelle Anleger*innen fragten in Folge der Finanzkrise nach risikoärmeren Anlagemöglichkeiten mit einer breiteren Diversifikation. Aktiv gemanagte Fonds mit einer kleineren Anzahl an Portfoliopositionen und höheren Fixkosten wurden dadurch immer unbeliebter, was zu deutlichen Kapitalabflüssen führte.

Als Treiber für das Wachstum der passiven Investments lässt sich aber nicht nur die verminderte Risikobereitschaft der Anleger*innen nach der Finanzkrise identifizieren. Vielmehr wirkte die Lehman-Brothers-Pleite und ihre Folgen beschleunigend auf eine Entwicklung, die schon zuvor Fahrt aufgenommen hatte. Die Gründe sind unter anderem geringe Kosten und eine höhere durchschnittliche Rendite bei einer Langzeitbetrachtung. Fakt ist: Aktive Aktienfonds benötigen Personal, das sich mit der Auswahl der Aktien beschäftigt und Kauf-, Halte- und Verkaufsentscheidungen trifft. Die Kosten für Mitarbeiter*innen und Transaktionskosten werden an die Investoren und Investorinnen weitergegeben, was zu höheren Gebühren führt. Bei passiven Index Fonds hingegen sind diese Kosten geringer, da das Nachbilden eines Indexes weniger personalintensiv ist.

Für private und institutionelle Kunden*innen der Vermögensverwalter*innen ist bei der Auswahl von aktiven und passiven Fonds neben den Kosten auch die Renditeentwicklung entscheidend. Wird die Wertentwicklung der aktiven Fonds mit der einer Benchmark wie dem S&P 500 verglichen, so sind nur wenige aktive Fonds in der Lage eine Rendite zu erwirtschaften, die höher als die ihrer passiven Gegenstücke ist. Paul Anthony Samuelson, Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften, kommentierte die Diskussion um aktives und passives Investieren mit einem ironischen Kommentar, indem er anmerkte, dass sicherlich Fondmanager existierten, die in der Lage seien, den Markt zu schlagen, jedoch seien diese sehr gut versteckt.

Aufgrund der Wertentwicklung sind Investierende immer seltener bereit erhebliche Gebühren für aktive Fonds zu zahlen, die keine höhere Renditen als Referenzindizes erzielen. Besonders weltweit wachsende Pensionsfonds und Stiftungen legen Geld verstärkt in den niedrig gepreisten passiven Investmentprodukten an und wenden sich von Anbietern mit aktiven Strategien wie Hedge Fonds ab. Wird mehr und mehr Kapital passiv statt aktiv verwaltet so hat dies Auswirkungen auf das gesamte Investmentökosystem und auf die beteiligten Marktteilnehmer*innen.

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Stewardship

Profiteure und Profiteurinnen sind in diesem Zusammenhang Vermögensverwalter wie BlackRock, Vanguard und State Street, die passive Fonds für institutionelle und private Investierende anbieten und durch Gebühren an dem verwalteten Vermögen verdienen. Mit den Stimmrechten, die Vermögensverwalter durch den Erwerb von Aktien für ihre Kunden und Kundinnen erwerben, gewinnen sie Einfluss auf die Unternehmen, in die sie investieren. Gleichzeitig geht mit dem ihnen anvertrauten Kapital eine Verantwortung für das verwaltete Vermögen einher. Dazu gehört das sogenannte Stewardship, das vom Financial Reporting Council, der Urheberinstitution des ersten Stewardship-Codes, wie folgt definiert wird: „Stewardship ist die verantwortungsvolle Allokation, Verwaltung und Beaufsichtigung von Kapital, um langfristigen Wert für Kunden und Begünstigte zu schaffen, was zu nachhaltigem Nutzen für die Wirtschaft, die Umwelt und die Gesellschaft führt.“

Das Konzept hat sich dabei in den vergangenen Jahrzehnten von einem reinen Fokus auf Unternehmensführung, hin zu einem Konzept gewandelt, in dem Nachhaltigkeit ein essenzieller Teil ist. Aktuell wird jedoch lebhaft debattiert, welche Folgen die passive Revolution auf die Stewardship-Aktivitäten der Vermögensverwalter hat. Können wachsende passive Investments eine positive Rolle bei der Transformation zu einer nachhaltigeren Wirtschaft spielen?

In Bezug auf passive Investments wird häufig argumentiert, dass Vermögensverwalter wenig Anreize haben, sich mit Stewardship zu befassen, weil diese nur darauf abzielen, die Wertentwicklung eines Index zu replizieren. Dadurch haben passive Fonds weniger Mitarbeiter*innen, die aktives Stewardship betreiben können. So hat zum Beispiel BlackRock, der größte Vermögensverwalter der Welt, 70 bis 80 Mitarbeiter*innen, die sich dezidiert mit dem Thema beschäftigen. Dem steht eine verwaltete Summe von 8,49 Billionen Dollar gegenüber, was dazu führt, dass das Verhältnis von Stewardship-Expert*innen zu angelegtem Vermögen keine individuelle Betreuung für jedes Unternehmen zulässt. Den Anbieter*innen von passiven Indexfonds wird daher vorgeworfen, dass ihnen sowohl die Ressourcen als auch die Motivation zur Überwachung des Managements ihrer Portfoliounternehmen fehlt.

Kritiker*innen halten dem entgegen, dass Stewardship-Ressourcen nicht statisch sind und zu den Portfoliounternehmen verlagert werden, wo sie am meisten benötigt werden. Außerdem werden Teile der Aktivitäten zu externen Dienstleistern wie zum Beispiel sog. Proxy Voting Advisors ausgelagert, die Abstimmungsempfehlungen für Anträge bei Jahreshauptversammlungen bereitstellen. Bei der Frage ob genügend Ressourcen für die Ausübung der Aktionärsrechte zur Verfügung stehen, gibt es daher zwei Meinungen.

Jedoch gibt es weitere Faktoren, die neben der reinen Betrachtung der Ressourcen eine entscheidende Rolle bei der Frage spielen, ob und wie mehr passive Investments die Wirtschaft nachhaltiger machen. Vermögensverwalter investieren in verschiedenste Branchen und Länder, was sie zu universellen Anlegern in die Weltwirtschaft werden lässt. Daher haben sie einen Anreiz, nicht nur einzelne Unternehmen, sondern die gesamte Wirtschaft nachhaltig zu gestalten. Dies kann positive Auswirkungen auf die Förderung von ESG-Initiativen haben. Negative externe Effekte und systemische Risiken werden durch generische Standards für den Markt als Ganzes zu vermeiden versucht, da diese ein Risiko für die langfristige Rendite darstellen. Larry Fink, Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzender von BlackRock, bezeichnete Klimarisiken unlängst als Investmentrisiken, was verdeutlicht, dass Vermögensverwalter sich der Gefahren von globaler Erwähnung für ihr Geschäftsmodell bewusst sind. Dies trifft insbesondere auf passive Investments zu, da diese häufig über einen langen Zeithorizont von Kunden wie Pensionsfonds gehalten werden.

Ein seit kurzem zu beobachtender Trend in Bezug auf Stewardship ist die Unterstützung von aktivistischen Hedgefonds wie Engine No.1 durch große Vermögensverwalter. So stimmten BlackRock und der Pensionsfond CalSTRS für die von dem kleinerem Hedgefond nominierten Verwaltungsratskandidaten von Exxon Mobil. Damit verliehen sie ihrer Forderung Nachdruck mehr CO2-Reduzierungen vorzunehmen und machten deutlich, dass die Stimmrechtsmacht der großen Vermögensverwalter ein machtvolles Mittel sein kann, um Unternehmen unter Druck zu setzen und Veränderungen anzustoßen.

Der passive Weg zu mehr Nachhaltigkeit?

Die Ereignisse, die auf den spätsommerlichen Tag in New York und die Lehman-Brothers-Insolvenz folgten, haben den Finanzmarkt nachhaltig verändert. Heute vermarkten sich Vermögensverwalter als Befürworter von ESG-Standards und erkennen diese als elementaren Teil von Stewardship an. Dabei heben sie ihre eigene Rolle bei der Transformation der Wirtschaft hervor. Kleine Stewardship-Teams und sehr generalisierte Verfahren werfen jedoch die Frage auf wie ernst es die großen Vermögensverwalter mit ihrer nachhaltigen Verantwortung meinen. Dies wird die Zukunft zeigen. ■

Kai Benedikt Schumann hat Philosophie und Wirtschaft an der Copenhagen Business School und an der Universität Bayreuth studiert. Seine Masterarbeit verfasste er zum Thema: „Implications of the rise in passive investments on stewardship and ESG implementation of asset managers“.
Vom Autor empfohlen:
SACH-/FACHBUCH:
Wolf‐Georg Ringe: Stewardship and Shareholder Engagement in Germany (European Business Organization Law Review 22/2021) 
Zhong Xing Tan: Stewardship in the Interests of Systemic Stakeholders: Re-conceptualizing the Means and Ends of Anglo-American Corporate Governance in the Wake of the Global Financial Crisis (Journal of Business & Technology Law 2/2014)
ROMAN:
Jörg Fauser: Rohstoff (Diogenes, 2019)
(DOKU-)FILM:
BlackRock – Die unheimliche Macht eines Finanzkonzerns von Tom Ockers (2019)

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