Freiheit für Fortgeschrittene: Schlafen und Warten | Friederike Gräff

Ein schlafender WaschbärFoto: Elizabeth Iies | unsplash

 

Freiheit für Fortgeschrittene: Schlafen und Warten

Text: Friederike Gräff

Auf die Anfrage, ob ich einen Text über Schlaf und Warten als Fluchträume aus unserer kapitalistischen Dauerbetriebsamkeit schreiben wolle, antwortete ich mit der Rückfrage, ob es dafür ein Honorar gebe. Das ist in der Zusammenschau lustig, aber es fügt zur ersten Frage noch eine zweite hinzu: Wollen, können wir eigentlich fliehen? Aber, um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Was macht den Schlaf und das Warten überhaupt zu Zuständen, die anders sind als unser übriger Alltag?

In der westlichen Öffentlichkeit schlafen, und das ist bemerkenswert, nur die sehr Jungen, die sehr Alten, und die Obdachlosen, die nicht die Möglichkeit haben, sich aus dem Blick der anderen zurückzuziehen. Wer noch nicht oder nicht mehr wirtschaftlich relevant ist, darf sich der allgemeinen Betriebsamkeit entziehen. Nur ganz selten einmal sieht man Geschäftsleute abends im ICE schlafen, sie wirken wie niedergestreckt und ungewohnt wehrlos, als hätte der Fluch der 13. Fee Dornröschen verfehlt und stattdessen ein Großraumabteil der Deutschen Bahn getroffen. Schlaf bedeutet einen Kontrollverlust, für den man keine Zeugen haben möchte. Wer schläft, bestimmt nicht mehr darüber, was um ihn herum passiert, er oder sie bestimmt nicht einmal mehr über sich selbst. In unseren Träumen sind wir wehrlos Stücken ausgesetzt, in denen wir nicht die Regie führen, und wer weiß, vielleicht erleben wir dabei eine Verletzlichkeit, auf die wir gar keinen Wert legen.

Die Domestizierung des Schlafs

Kein Wunder, dass wir alle – denen das Bedürfnis, uns und unser Leben zu kontrollieren, zur zweiten Natur geworden ist – versuchen, den Schlaf zu domestizieren. Nicht der Schlaf bestimmt über uns, wir bestimmen über ihn: In Zentraleuropa sind bei gerade mal 13 Prozent der Bevölkerung die soziale und die biologische Zeitzone deckungsgleich. Das heißt, die übrigen 87 Prozent leben mehr oder weniger gegen ihre innere Uhr. „Wir treten diese innere Uhr durch die künstliche Veränderung des Hell-Dunkel-Wechsels seit 150 Jahren zunehmend mit Füßen“, sagt der Schlafforscher Till Roenneberg. Der wird nach Vorträgen immer wieder gefragt, wie man mit weniger Schlaf auskommen könne. Denn Schlaf gilt als vergeudete Lebenszeit, und die Vorstellung, hier eine Stunde mehr für die zahllosen Anforderungen des Tages gewinnen zu können, scheint ungemein reizvoll. Vielleicht läuft der Motor ja auch mit weniger Benzin.

Schlaf, das ist nichts, was sich einstellt und wieder geht – Schlaf wird verwaltet. Und weil die eigenen Ressourcen sorgfältig organisiert werden, gilt es, störende Einflüsse fernzuhalten. Nur folgerichtig also, dass die Babyschlaf-Beratung wächst und gedeiht. Ob als Imperativ „Jedes Kind kann schlafen“ oder als „Schlafcoaching – schlafen lernen auf die sanfte Art“, das Ziel ist dasselbe: Der kindliche Schlaf oder aber eben Nicht-Schlaf soll nicht die sorgfältig getakteten Tagesabläufe der Eltern stören, die sich nicht zu viele schlechte Nächte erlauben können. Früher, so schreibt der Schlafforscher Alfred Wiater, habe man die Kinder schreien lassen, wenn keine Großmutter die Muße hatte, sie herumzutragen. Aber heute ist da keine Großmutter mehr, sondern nur eine Kernfamilie, die es sich nicht leisten kann oder will, die Dinge sich selbst zu überlassen.

Und die Alten? Nehmen vielfach Schlafmittel, weil sie das späte Einschlafen und die Unterbrechungen des Schlafs als nicht normal empfinden. Dabei gibt es nach wie vor kein Präparat, das einen natürlichen Schlaf und die Erholung, die er mit sich bringt, hervorrufen könnte. Der Schlaf bleibt widerständig. Aber seine Domestizierung ist von ökonomischem Interesse: 2019 belief sich der Umsatz von Schlaf- und Beruhigungsmitteln auf 176 Millionen Euro und es wäre naiv zu glauben, dass sich das Geschäft nicht ausweiten ließe. Die munter wachsende Schlafindustrie mit ihren Schlaf-Apps, Überwachungsarmbändern oder Schlafbrillen, die durch farbiges Licht den Wach-Schlaf-Rhythmus zurechtrücken sollen, kam 2017 auf weltweit über 63 Milliarden Euro.

Der Schlaf wird vermessen: als Feld der Rationalisierung, der Optimierung und als drohende Einkommenseinbuße. 2017 sollen der deutschen Wirtschaft über 200.000 Arbeitstage und rund 54 Millionen Euro entgangen sein, weil die Arbeitnehmer*innen zu wenig schliefen und deshalb krankheitsanfälliger waren. Schlaf, so scheint es, wird notwendigerweise als etwas enden, worüber man seiner Krankenkasse Rechenschaft ablegt: Dreimal pro Woche optimaler Schlaf über nicht mehr als acht und nicht weniger als sieben Stunden wird dann mit einer Prämie belohnt.

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Warten – die ultimative Mutprobe

Manchmal schreibe ich in meinen Lebenslauf, dass ich eine Reihe über ökonomisch wertlose Tätigkeiten und Zustände plane, deren erste Bände sich dem Warten und dem Schlafen widmen. Tatsächlich ist das nur der erste gemeinsame Nenner von Schlafen und Warten. Der zweite, mindestens so interessante, ist der freiwillige, teils auch erzwungene Kontrollverlust, der in beidem liegt. Nur dass er im Warten noch radikaler erscheint, zumindest in dem Warten, das ein willentlicher Ausstieg aus dem Diktat der unmittelbaren Machbarkeit ist.

Wer wartet, gesteht offensichtlich ein, dass er oder sie in diesem Moment nichts bewirken kann. Man geht einen Schritt zurück wie ein Gärtner, der die Zwiebel eingepflanzt hat und nichts mehr tun kann, als zu hoffen, dass sie den Frost übersteht und im Frühling austreibt. Dieses Warten ist ein Eingeständnis, dass man selbst eben nicht die letzte Instanz ist, es erfordert eine gewisse Demut. Was könnte unzeitgemäßer ein? Die Vorstellung, dass wir es sind, die unser Leben formen, formen können und formen müssen, ist der Motor unserer Existenz. Es genügt, kurz an frühere Formen des Wartens zu denken – eines Leibeigenen, der auf die Hochzeitserlaubnis seines Herrn wartet, die lange Trauerzeit für Witwen als Ausschluss vom sozialen Leben – um den Wert dieser Autonomie zu fühlen. Vielleicht tragen wir kollektiv noch die Erinnerung daran mit uns, als das Warten das Schicksal der Machtlosen war, die sich in den Vorzimmern der Herren gedulden mussten, bis sie Gehör fanden: Warten müssen als Ausweis der sozialen Unterlegenheit, warten lassen als Rangabzeichen. Die Überreste dieser Ordnung findet man heute in den Serviceangeboten für Komfortkunden aller Art: sei es als Privatpatient bei der Terminvergabe, bei der Bahn oder am Flugschalter – wer mehr zahlen kann, ist schneller an der Reihe. Und das reicht bis zum Kinderkriegen: Wenn die Krankenkasse beim unerfüllten Kinderwunsch nach einer bestimmten Zahl von Anläufen weitere Versuche nicht bezahlt, kann das besser verdienende Paar sie eben aus eigener Tasche bezahlen.

Und doch leben wir in einer Gesellschaft, die in existenziellen Fragen Wartegerechtigkeit herstellt: bei Transplantationen etwa oder Adoptionen. Was für ein Privileg, in einer Zeit und in einem Land zu leben, in dem für die meisten die quälendste Warteerfahrung gerade mal die Schlange an der Supermarktkasse ist. Umso interessanter sind die Gefühlseruptionen, die dort zu beobachten sind: der erzwungene Stillstand scheint für viele geradezu körperlich quälend. Dem entspricht ein viel zitiertes Experiment an der University of Virginia, wo Studierende 15 Minuten lang ohne Ablenkungsmöglichkeit auf sich und ihre Gedanken gestellt waren. Sie hatten aber die Möglichkeit, sich als negativen Stimulus einen Elektroschock zu versetzen. 71 Prozent der männlichen und 25 Prozent der weiblichen Teilnehmer taten das, weil ihnen selbst das besser erschien als gar keine Ablenkung.

Sich dem Stillstand, der Ruhe, zu überlassen, scheint hier alles andere als reizvoll, sondern purer Stress für die Betroffenen, so, als sperre man ein Wildtier unversehens in einen Käfig. Der Kulturjournalist Georg Seeßlen hat das aus ökonomischer Perspektive so beschrieben: „Mein Leben ist mein Kapital. Wenn es nicht Rendite bringt, häuft es Schulden an … Wenn es nicht mehr durch mich fließt, kann ich meine Existenz kaum noch als Leben bezeichnen. Weh mir, wenn ich in die Armee der Untoten aufgesogen werde.“ Wer also sollte sich freiwillig den Untoten anschließen? Für diejenigen, die es zumindest in Betracht ziehen, zeitweise aus der Dauerbetäubung der Betriebsamkeit auszusteigen, stellt sich die Frage: Wo liegt die Grenze zwischen hoffendem Warten und fahrlässiger Passivität? Praktischer gesprochen: Wer wartet denn die Schwangerschaft ab, ohne sich durch Pränataluntersuchungen zu vergewissern, ob das Kind gesund sein wird? Welcher schwer Erkrankte wird, wenn die Sterbehilfe weiter Raum gewinnen sollte, seinen Tod abwarten, wenn der Sterbeweg abzukürzen ist? Gibt es Ausstiege auf Zeit, die mehr sind als jene Wochenend-Rückzüge ins Kloster, die gestresste Manager*innen in die Lage versetzen sollen, danach um so energetischer die Rationalisierung voranzutreiben?

Jenseits des Nutzens

Der Soziologe Siegfried Kracauer hat das Warten beschrieben als „zögerndes Geöffnetsein in einem allerdings schwer zu erläuternden Sinne“. Ich glaube, dass das Warten und der Schlaf in schwer zu erläuterndem Sinne Gegen- oder Ausweichorte aus unserem Hamsterradleben der optimierten Zeit sein können. Sie können es, weil sie sich gegen die Verfügbarkeit sperren: Der Schlaf folgt seinen eigenen Gesetzen, und selbst in Zeiten, in denen es Kurse zur Traumsteuerung gibt, schlägt er Haken wie ein Hase auf dem Feld. Sobald wir den Schlaf nicht allein als Optimierungstool betrachten, kann er eine Fingerübung werden darin, sich herauszunehmen aus dem Rattenrennen des Nützlichen. Ich gehe schlafen und begehe damit sehenden Auges ein Massaker an den unzähligen Möglichkeiten etwas herauszuholen aus dem Kapitel Lebenszeit. Genauso kann man sich beim Warten der ungewohnten Erfahrung des Stillstands anvertrauen. Und wer sich bewusst dafür entscheidet, erhöht den Einsatz: Wer eine direkt verfügbare Alternative ausschlägt, weil er eine künftige Liebe, Chance oder Mission abwarten will, kann sie finden – oder nicht. Es kann Ausdruck einer Hoffnung sein, die sich jedem Pragmatismus widersetzt. Denn ganz sicher ist das Warten kein Bausparvertrag mit garantierter Rendite. Bleibt die Frage, ob diese Gegenorte als kleinste Inseln überdauern können, ob wir sie überhaupt erreichen, wenn wir mit dem Imperativ der Verwertbarkeit aufstehen und zu Bett gehen. ■

Dieser Text ist in agora42, Ausgabe 1/2021 WAHRHEIT & WIRLICHKEIT in der Rubrik HORIZONT erschienen.
Friederike Gräff, Autorin und Journalistin, ist Redakteurin bei der taz und lebt in Hamburg. Zum Thema von ihr erschienen: Warten. Erkundungen eines ungeliebten Zustands (Ch. Links Verlag, 2014); Schlaf. 100 Seiten (Reclam Verlag, 2019).
Von der Autorin empfohlen:
SACH-/FACHBUCH
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