Gesellschaft als soziale Plastik | Interview mit Marilena Berends

Shift-TasteFoto: Athul Ben | Unsplash

 

Gesellschaft als soziale Plastik, wir alle als Zukunftskünstler*innen

Interview mit Marilena Berends

Marilena Berends, mit Deinem Podcast setzt Du Dich mit Deinem Team für einen Sinneswandel ein. Was ist der Sinneswandel, den wir brauchen und warum brauchen wir ihn?

Wenn man den Titel hört, denken wahrscheinlich viele, dass mit „Sinneswandel“ lediglich ein individuelles Umdenken gemeint sei, im Sinne von: „Ach, ich habe mir das jetzt anders überlegt“. Um das Überdenken persönlicher Sichtweisen und um die Aneignung neuer Perspektiven geht es auch. Wir verstehen Sinneswandel aber sehr viel weiter: Es geht über das Individuelle hinaus, um gesellschaftlichen Wandel – oder, was man immer häufiger hört: um „Transformation“.

Deine Fragen liegen nahe: Was genau soll sich denn wandeln und warum überhaupt? Darauf gibt es keine einfachen Antworten, die versprechen wir aber auch nicht. Es geht vielmehr darum, überhaupt erst einmal diese Fragen bewusst zu machen. Wir wollen zeigen, dass Gesellschaft kein starres Konstrukt ist, nichts „Natürliches“, Alternativloses, sondern gestaltbar.

Es geht uns also nicht um einen grünen, hippen, nachhaltigen Lifestyle, um Tipps, wie wir minimalistischer leben und konsumieren können. Uns geht es um die Denkbarkeit einer anderen Gesellschaft und um die notwendigen Veränderungsprozesse, um ein gutes Leben für heutige und künftige Generationen sicherzustellen. Welches Denken liegt diesen Prozessen zugrunde? Das versuchen wir in den Gesprächen, die wir führen, herauszufinden.

Mir ist dabei sehr wichtig, dass Wandel oder Transformation kein einfacher Übergang von einem Zustand A zu einem Zustand B ist. Der Wandel ist so komplex, wie die Gesellschaften, die ihm unterliegen oder die ihn angehen. Eigentlich befinden sich Gesellschaften immer im Wandel. Wichtig dabei sind nicht nur die Übergänge von Altem zu Neuem, sondern auch die Gleichzeitigkeit.
Angesichts dessen hat sich die Ökonomin und Transformationsforscherin Maja Göpel in einer Folge des Podcasts für eine radikale inkrementelle Transformation der Gesellschaft stark gemacht. Damit ist eine Herangehensweise gemeint, die nicht an einem einzigen Punkt ansetzt, sondern breit gestreut auf den Wandel von Lebensstilen, Denkweisen, gesellschaftlichem Miteinander, Konsummustern, Arbeitsweisen und so weiter. Es geht um Institutionen, Verhältnisse und Praktiken, die in der Welt, wie sie gegenwärtig ist, entwickelt werden können, die dabei aber die Welt, wie sie sein könnte, vorwegnehmen und dazu beitragen, dass wir uns in diese Richtung größerer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit bewegen.

Eine Blaupause oder einen großen Masterplan für wünschenswerte Zukünfte gibt es dabei nicht. Es geht um kulturellen Wandel, zu dem Experimente gehören, zu dem aber auch Scheitern gehört, da er nicht vorgeschrieben werden kann und der (leider) Zeit braucht.

Warum es eines Sinneswandels bedarf wird deutlich, wenn man sich die Ergebnisse der Klimaforschung anschaut: So, wie wir aktuell leben und wirtschaften, kann es nicht weitergehen. Die fossil befeuerte, kapitalistische Wachstumswirtschaft, mit ihren zerstörerischen Folgen für Umwelt und Gesellschaft, zehrt ihre eigenen Voraussetzungen auf. „Die Grenzen des Wachstums“, von denen schon 1972 im ersten Bericht an den Club of Rome die Rede war, sind offensichtlich erreicht.

Mit unserem Podcast möchten wir transformative „Literacy“ fördern, also die Fähigkeit, aktiv an diesem Wandel, an dieser radikalen inkrementellen Transformation teilzunehmen, um das wirtschaftliche Handeln mit den planetaren Grenzen und dem menschlichen Wohlbefinden in Einklang zu bringen.

 

In einer Folge blickst Du auf Deine eigene Vergangenheit zurück und beschreibst die Fallstricke der Fokussierung auf Selbstverwirklichung. Mit diesem Fokus würden wir uns wie Kleinunternehmer*innen unserer selbst verhalten. Worin besteht diese Gefahr und was hast Du an die Stelle dieser Fokussierung gesetzt?

Dass Menschen den Wunsch und auch ein Recht auf Selbstverwirklichung haben, sofern sie andere Menschen nicht schädigt, bezweifle ich keinesfalls. Es ging mir vielmehr darum, den in unserer postmodernen Gesellschaft wirkenden Selbstverwirklichungs-Imperativ zu thematisieren, der sich dazu auch noch zum großen Teil auf den Bereich der Lohnarbeit reduziert. Sprich, das moderne Subjekt hat sich in seinem Beruf voll und ganz selbst zu verwirklichen, sein gesamtes Potenzial darin zu erschöpfen, um glücklich zu sein… oder, um vielleicht auch einfach noch produktiver für die Wirtschaft zu sein?

Ich wollte damit nicht sagen, dass es nicht angenehm und ein Privileg ist, einer Tätigkeit nachgehen zu können, die einem Freude bereitet und für die man auch noch entlohnt wird. Es gibt jedoch die Tendenz, aus dem Blick zu verlieren, dass es andere Bereiche des Lebens gibt, aus denen Menschen Sinn und Freude schöpfen. Mit der ökonomischen Sicht auf die Welt verbreitet sich auch das Ideal, sich in seiner Lohnarbeit zu verwirklichen – und immer mehr zu arbeiten. Für die prekären Clickworker ist Selbstverwirklichung vielleicht noch ein Strohhalm, an den sie sich klammern können. Die wachsende Klasse des so genannten „Dienstleistungsproletariats“, wie der Soziologe Andreas Reckwitz sie nennt, ist davon größtenteils ausgeschlossen.

In dem Ideal, sich in seinem Beruf zu verwirklichen, steckt die Gefahr, aus dem Blick zu verlieren, dass wir auch Mitbürger*innen also Teil von Gesellschaft sind. Oft wird Selbstverwirklichung als etwas dargestellt, das jede und jeder alleine und für sich erreicht, gewissermaßen als heroische*r Held*in. So wird übersehen, dass das Individuum in gesellschaftliche Kontexte eingebunden ist, dass kein*e Einzelne*r für sich erfolgreich sein kann, sich schon gar nicht vereinzelt verwirklichen kann. Dafür braucht es immer auch andere. Das kapitalistische Denken legt allerdings oft nahe, die anderen tendenziell eher zu unterdrücken, auszunutzen um sein Humankapital steigern zu können, anstatt mit ihnen zusammenzuarbeiten.

Um dieses verzerrte Bild ging es mir.

 

Anstatt auf individuelle Selbstoptimierung fokussierte Kleinunternehmer*innen unserer selbst zu sein, knüpfst Du an Joseph Beuys an und rufst dazu auf, dass wir uns alle als Zukunftskünstler*innen begreifen sollten. Wie ist das zu verstehen? Sollen wir uns alle darum bemühen, auf der nächsten documenta vertreten zu sein?

Von der Kunst bzw. dem künstlerischen Denken können wir meiner Meinung nach sowieso eine ganze Menge lernen. In einer von Effizienz und der Verwertungslogik getriebenen Gesellschaft wird diese nur leider allzu häufig unterschätzt, wie sich einmal mehr während der Pandemie zeigt.

Wenn Beuys sagte, jeder Mensch sei ein Künstler, meinte er damit nicht, dass wir uns alle an Palette und Pinsel wagen sollen. Ihm ging es vielmehr um das Wieder- oder Neuentdecken des Gestaltungs- und Handlungspotenzials. Dass Gesellschaft, wie bereits gesagt, nicht vorgefertigt ist, wie sie insbesondere durch die hyperkapitalistische Brille betrachtet erscheint, sondern, mit Beuys gesprochen, eine „soziale Plastik“ ist. Es geht darum, wünschbare Zukunftsentwürfe zu diskutieren, den Status quo zu hinterfragen. Mitzudenken und mitzugestalten. Darauf beruft sich das Kollektiv Zukunftskunst.Hamburg mit dem Begriff „Zukunftskünstler*in“.

Wir haben aber nicht alle dieselben Vorbedingungen bzw. Voraussetzungen und Fähigkeiten. Insbesondere die Handlungsspielräume, die wir als Einzelne, aber auch als gesellschaftliche Gruppen besitzen, sind sehr verschieden. Wenn wir Menschen dazu ermutigen, sich als Zukunftskünstler*in zu begreifen, vergessen wir nicht, dass nicht jede und jeder aktuell auch die Chance dazu hat. Aber genau dafür möchten wir uns einsetzen.

Mir ist wichtig, dass „Zukunftskunst“ nicht als solutionistischer Ansatz missverstanden wird, in dem Sinne, dass wir einfache Lösungen für komplexe Probleme ausgeben. Hinter dem Begriff verbirgt sich auch nicht die Selbstüberschätzung, als könnten wir alles bewältigen und kontrollieren, wenn wir uns nur richtig anstrengen. Es geht uns vielmehr darum, wieder miteinander in Verbindung zu treten und gemeinsam auszuhandeln, wie ein gutes Leben für möglichst viele oder besser noch alle Menschen aussehen kann.

Auch darauf gibt es nicht die eine Antwort, sondern viele. Aber unser Aktivismus als Zukunftskünstler*innen zielt darauf ab, auch andere zu ermutigen, sich auf die Suche zu begeben.

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Du betonst im Podcast die Notwendigkeit einer neuen, gemeinsamen Erzählung, um den Wandel zu einer nachhaltigen Gesellschaft voranzutreiben. Wie muss diese Erzählung aussehen und wo bekommen wir sie her?

Wie schon gesagt, lässt sich die Frage, „Wie wollen wir (in Zukunft) leben“, nicht einfach beantworten. Das ist aber auch gar nicht nötig. Viel wichtiger sind die Fragen und das, was aus ihnen entsteht.

Es geht eher darum, Vielfalt im Denken und überhaupt in der Gesellschaft zu fördern. Wir leben nun einmal in einer globalisierten, säkularen Welt mit vielen unterschiedlichen Kulturen, Perspektiven und Denkweisen. Eine globale und einheitliche Erzählung wird es vermutlich nie geben und ich halte sie auch nicht für wünschenswert. Was jedoch gerade aufgrund der globalen Abhängigkeiten, nicht nur der wirtschaftlichen, sondern auch der ökologischen und sozialen, geschehen muss, ist ein besserer und gerechterer Austausch. Es kann und darf beispielsweise nicht mehr legitim sein, Menschen im globalen Süden auszubeuten, um im angeblich so entwickelten globalen Norden mehr Profite einfahren zu können.

Sowohl die Coronapandemie als auch der Klimawandel zeigen uns, dass alles mit allem verbunden ist. Das mag etwas esoterisch klingen, ist aber eigentlich recht augenscheinlich. Wenn wir weiterhin auf diesem Planeten zusammenleben wollen und das auch noch gut, im Sinne von ökologisch und sozial gerecht, dann bedarf es einer Art kollektiven Bewusstseins. Und das bedeutet auch, dass gerade die angeblich so entwickelten Industriestaaten, wie Deutschland, sich fragen sollten, was bedeutet „Fortschritt“ eigentlich? Sind wir wirklich so fortschrittlich, wie wir zu sein glauben?

Es mangelt derzeit an wünschenswerten Zukunftsentwürfen. Dystopien scheinen sich besser zu verkaufen. Viele kennen den unterschiedlichen Leuten zugeschriebenen Satz: „Es ist leichter, sich das Ende der Welt, als sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen.“ Es fehlt denen, die sich etwas anderes als den Kapitalismus wünschen, oft an wirkmächtigen Ideen, was „danach“ kommen soll. Die rechtsextremen Kräfte nutzen den Unmut leider oft erfolgreicher aus. Ein Grund mehr, dem etwas Optimistisches entgegenzusetzen, oder nicht?

 

Wie siehst Du die aktuellen Perspektiven? Stehen uns Zeiten verschärfter Verteilungskämpfe und Sparmaßnahmen bevor? Was sollten Zukunftskünstler*innen gerade jetzt tun?

Zunächst einmal ist die Rückkehr zur vermeintlichen Normalität meines Erachtens keine Option! Wir wussten beispielsweise schon vor der Coronapandemie, dass Krankenhäuser nicht privatisiert und damit gewinnorientiert sein sollten, ebenso, dass Pfleger*innen unterbezahlt sind oder dass viele Berufsgruppen nicht die soziale und monetäre Wertschätzung erhalten, die sie verdienen.

Jetzt wäre also eine gute Zeit, genau diese Strukturen zu hinterfragen: Wieso sollte Kunst und Kultur nicht systemrelevant sein? Ist es nicht gerade Kultur im weitesten Sinne, die Gesellschaft formt? Wir sollten uns auch fragen, ob es allein Aufgabe von mitfühlenden und -denkenden Privatpersonen ist, Wohnungslosen in dieser Zeit mit Spenden und ehrenamtlichen Diensten zur Seite zu stehen. Hat nicht jede*r das Recht auf ein Zuhause? Und natürlich muss die Frage gestellt werden: Können wir es uns (weiterhin) leisten, die Wirtschaft über das Gemeinwohl und über die planetaren Grenzen zu stellen?

Die Solidarität, die schon zu Beginn der Krise zu sehen war, ermutigt mich. Ich glaube aber auch, dass es manchmal gerade der Wut beispielweise über die Ungerechtigkeit bedarf, dass einige – Arme, Wohnungslose, Künstler*innen, Kinder – sehr viel stärker unter der Pandemie leiden, um sich zu solidarisieren und gegen diese Missverhältnisse aufzubegehren. Selbst, wenn man glaubt nicht betroffen zu sein. Das zeichnet Zukunftskünstler*innen meiner Meinung nach aus. ■

Marilena Berends
Marilena Berends arbeitet hauptsächlich als freie Journalistin und Redakteurin. Sie studiert Philosophie und Politik und produziert seit 2017 den Sinneswandel Podcast, der gesellschaftspolitische Themen mit Perspektiven aus der Philosophie verbindet. (Foto: Philipp Bachhuber)
Siehe auch:
marilenaberends.de
sinneswandel.art

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