Gleichberechtigung, Arbeit und das gute Leben | Interview mit Teresa Bücker

Foto aus dem Interview Fotos: Schore Mehrdju

 

Gleichberechtigung, Arbeit und das gute Leben

Interview mit Teresa Bücker

Frau Bücker, Ihre Kolumne im Magazin der Süddeutschen Zeitung heißt „Freie Radikale“. Brauchen wir heute radikale Ideen und wenn ja, warum?

Auf jeden Fall brauchen wir radikale Ideen! In meiner Kolumne versuche ich, den Begriff „radikal“ ein bisschen zu rehabilitieren, weil er meiner Wahrnehmung nach dazu genutzt wurde, um bestimmte Ideen gleich wieder aus dem Diskurs zu verdrängen – im Sinne von: „Das ist zu groß gedacht, das ist sowieso nicht umsetzbar.“ Das beobachte ich vor allem in der Politik. Dabei wäre es gerade die Aufgabe einer progressiven Politik, genau solche Ideen nach vorne zu stellen und Szenarien zu entwerfen, die 20 oder auch 30 Jahre in die Zukunft gehen und sich nicht nur innerhalb eines Fünf-Jahres-Horizonts bewegen. Man sollte mehr darüber sprechen, was wir uns überhaupt vorstellen möchten und was prinzipiell möglich sein könnte – ohne gleich einzuwenden „das scheitert am Geld“ oder „dann geht die Wirtschaft den Bach runter“. Man muss erst einmal Denkräume aufmachen, die es wieder ermöglichen, über das eigene Leben nachzudenken. (…)

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Sie sind eine der bekanntesten Feministinnen des Landes. Das ist jetzt eine große Frage, aber was bedeutet eigentlich Feminismus für Sie?

Das ist eine sehr große Frage. Aktuell würde ich sagen: Feminismus ist die Frage nach einem guten Leben für alle. Feminismus betrifft für mich auf jeden Fall mittlerweile sehr viel mehr als nur die Gleichberechtigung der Geschlechter. Letztlich geht es darum, wie wir künftig leben wollen und was uns daran hindert. Es ist leider noch das gängige Verständnis, dass es beim Feminismus darum gehen würde, Frauen gleichzustellen nach einem männlichen Standard. Dabei wird ganz viel vergessen, unter anderem, dass Frauen unheimlich unterschiedlich sind und Männer nicht minder; und dass der männliche Standard, der wohl gerade in der Wirtschaftswelt die Norm ist, auch viele Männer unglücklich macht. Aus feministischer Perspektive lässt sich eben auch gut darstellen, dass sich auch Männer emanzipieren müssen, und dass Männer auch eine Sehnsucht nach einem anderen Leben haben; dass nicht jeder Mann Karriere machen oder 60 Stunden die Woche arbeiten möchte. Ich glaube, Männer sind da manchmal ein bisschen zu leise.

Deswegen finde ich die Frage nach Männern immer ganz interessant, weil die Vielfalt von Männern im Diskurs oft unsichtbar gemacht wird – als gäbe es nur den einen Mann mit dem einen Lebensmodell.

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Eine bekannte Position in der Diskussion um Feminismus als Gleichstellung ist die Forderung von Sheryl Sandberg, Frauen sollen die Karriereleitern in die Vorstände hochklettern, Stichwort: Lean in. Sie geben in einem Vortrag zu bedenken: Warum sollte es Frauen begeistern, sich in eine von Männern entworfene Welt einzupassen? Fordern Sie also ein „Lean out“ aus der männlich dominierten Wirtschaftswelt?

Auf jeden Fall. Der Feminismus, für den Sheryl Sandberg steht, ist meiner Ansicht nach unterkomplex. Es ist ein Feminismus für etwa ein Prozent der Frauen. In dem sehr guten Buch Lean Out analysiert die britische Journalistin Dawn Foster, was denn die 99 Prozent der Frauen mit ihrem Leben tun sollten, für die Lean in überhaupt nicht infrage kommt. Sheryl Sandberg hatte wahrscheinlich ein gutes Anliegen, als sie das Buch geschrieben hat, weil Gleichberechtigung in der Wirtschaft für die Frauen, die Karriere im klassischen Sinn machen wollen, natürlich ein wichtiges Thema ist und dort sexistische Strukturen aufgebrochen werden müssen.

Doch wie soll dieses „Alle müssen Karriere machen“ überhaupt funktionieren? Es gibt ja gar nicht so viele Führungspositionen oder Vorstandsposten, dass jeder Karriere machen könnte. Wenn wir nur noch Chefs und Chefinnen haben, kann das auch nicht funktionieren. Das heißt, wir brauchen Ideen, wie ein erfüllendes Berufsleben in den unterschiedlichen Phasen der Berufslaufbahn aussehen kann. Also: Gleichberechtigung bleibt da ein wichtiges Thema, weil jede Frau, die gerne in eine leitende Position kommen möchte, das machen können sollte. Aber das Leben jenseits solcher Karriereoptionen muss auch okay sein.

Sandberg orientiert sich in ihrem Buch an klassischen Karrieremustern, das heißt, es geht darum, sich Eigenschaften anzueignen, die eher männlich konnotiert sind – so etwas wie Durchsetzungskraft. Das würde bedeuten, Frauen abzuverlangen, sich anzupassen: Sie können nur Karriere machen, wenn sie Männern ähnlicher werden. Man könnte aber genauso gut sagen, wir versuchen die unterschiedlichen Persönlichkeitstypen gleich zu behandeln. Abgesehen davon kann eine solche Karriere nur funktionieren, wenn man alle anderen anfallenden Arbeiten outsourct. Karrieren à la Sandberg funktionieren also nur mit Putzkräften und Babysittern; sie funktionieren nur mit Menschen, die deutlich schlechter bezahlt werden und selber nie Karriere machen können. Es geht also nicht um Gleichberechtigung für alle Frauen, sondern bloß um jene von sehr privilegierten Frauen, deren Haushaltshilfen vermutlich in Altersarmut landen.

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Sie haben grundsätzlich nichts dagegen, dass Frauen in Vorstände einrücken, fordern jedoch, dass es feministische Frauen sein sollen, die noch dazu intersektional denken. Was machen diese Frauen anders? Inwiefern hilft ihnen der intersektionale Blick?

Was ich mir von Frauen in Führungspositionen verspreche, wenn sie wirklich etwas verändern wollen, ist der strukturelle Blick auf Diskriminierung. Gleichberechtigung geht nicht weit genug, wenn wir nur auf die Geschlechterdimension blicken, weil Frauen und Männer zum einen so unterschiedlich sind und zum anderen Menschen in mehrfacher Hinsicht diskriminiert werden – was ja durch eine intersektionale Perspektive sichtbar wird. Man kann zum Beispiel in Deutschland beobachten, dass Migranten und Migrantinnen – selbst hochqualifizierte – nicht im selben Maß Karriere machen können wie die Menschen, die in Deutschland geboren sind. Migrantinnen mit Studienabschluss bleiben eventuell über ihr ganzes Berufsleben hinweg in prekärer Beschäftigung, weil die Strukturen nicht zur Verfügung stehen, sie sinnvoll in eine Berufslaufbahn einzubetten. Menschen in Führungspositionen müssen diese Mehrfachdiskriminierung mitbedenken und darüber nachdenken, wie sie einer Migrantin oder einem Mann mit einer Behinderung die gleiche Karriere ermöglichen können. Man bekommt einen viel offeneren Blick auf die Dinge, wenn man die Vielfalt der Menschen berücksichtigt. Und wenn ich mich dann als Chefin frage, wo denn die ganzen Frauen in der Personal-Pipeline sind, dann könnte ich zum Schluss kommen, dass sie womöglich sehr stark in der Kindererziehung eingebunden sind.

Das kann das Unternehmen zwar erst mal nicht lösen, aber da das Unternehmen ja Teil der Gesellschaft ist, müssen solche Dinge von der Unternehmensleitung thematisiert, muss das Thema Kinderbetreuung gesellschaftlich und politisch eingebracht werden. Wenn Unternehmen wirklich Gleichberechtigung fördern wollen, können sie nicht sagen: „Das ist nicht unsere Aufgabe, die Kinderbetreuung oder die Pflege der Großeltern ist Privatsache; und weil das gesellschaftlich gerade noch mehrheitlich von Frauen übernommen wird, sind wir fein raus und haben eben weiterhin vor allem Männer in den Vorständen.“ Vielmehr müsste man als Unternehmen erkennen, dass die Art und Weise, wie im Unternehmen gearbeitet wird, vor allem auf Männer ausgerichtet ist – auf Männer, die sich nicht auf Kinder und Alte und den Haushalt fokussieren müssen. Dann könnte man beispielsweise die 30-Stunden-Woche einführen, damit Männer diese Tätigkeiten gleichberechtigt übernehmen und Frauen gleichberechtigt Karriere machen können.

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Unter Arbeit wird zumeist Lohnarbeit verstanden. Kann Lohnarbeit angesichts der vielen unbezahlten Arbeit, die in der Gesellschaft verrichtet wird, wie auch der Tatsache, dass angesichts ökologischer Erfordernisse künftig viel weniger produziert und konsumiert werden kann, noch ein Konzept für die Zukunft sein?

Ich habe mich bislang nicht eingehender mit dem Grundeinkommen und der Frage beschäftigt, wie man den Kapitalismus umstrukturieren könnte, bin dafür also keine Expertin. Aber es ist ja zum einen so, dass derzeit die unbezahlte Arbeit den Anteil der bezahlten Arbeit übersteigt und Frauen viel mehr unbezahlte Arbeit verrichten. Zum anderen sind viele Menschen durch ihre Arbeit völlig überlastet – in Deutschland haben aktuell rund 3,5 Millionen Menschen einen zweiten Job, um genügend Geld zu haben. Man sollte sich also fragen, wie wir ein gesundes Maß für Lohnarbeit definieren und der anderen Arbeit die dementsprechende Anerkennung zuteil werden lassen können.

Welche Herangehensweise halten Sie für sinnvoll?

Die Soziologin Frigga Haug teilt die tägliche Arbeit in 16 Stunden auf, die geviertelt werden. Also vier Stunden Lohnarbeit, vier Stunden Care-Arbeit beziehungsweise Familienarbeit, vier Stunden kulturelle Arbeit – so etwas wie Weiterbildung – und dann noch vier Stunden politisches Engagement. Und dann: acht Stunden Schlaf! Und ich meine, wer bekommt acht Stunden Schlaf?! Dabei sollte man meines Wissens zwischen sieben und acht Stunden schlafen, um dauerhaft gesund zu bleiben. Diese Rechnung kann nun jeder für sich selbst machen: Wie viele Stunden am Tag wende ich für was auf? Wenn ich beispielsweise acht Stunden lang arbeite und noch eine Stunde Hin- und Rückfahrt einrechne, müsste ich relativ schnell zu der Einsicht kommen, dass das alles nicht zusammenpasst.

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Also ist der Schlüssel zu jeglicher gesellschaftlichen Verbesserung die Reduzierung der Arbeitszeit?

Will man eine politische Landschaft, die lebendig ist, eine Demokratie, in die sich viele einbringen können und möglichst zufriedene, gesunde Menschen, dann wäre eine Arbeitszeitverkürzung eine sehr sinnvolle Idee. Teilt man diese Analyse, würde es vielleicht auch leichter fallen zu sagen, dass die deutsche Wirtschaft überleben wird, auch wenn wir die 40-Stunden-Woche nicht mehr haben.

Wenn man sich anguckt, seit wann wir den Acht-Stunden-Tag oder die 40-Stunden-Woche haben – ich glaube, der Acht-Stunden-Tag wurde vor ungefähr 100 Jahren von Gewerkschaften das erste Mal eingefordert und in den ersten Unternehmen umgesetzt. Seitdem hat sich so gut wie nichts verändert. Wie kann es sein, dass wir eine so lange Geschichte der technologischen Entwicklung haben, die uns eigentlich Arbeit abnehmen sollte – und gerade das nicht passiert. Oder dass wir haufenweise diese sinnlosen Jobs haben und deshalb nicht nur ein Problem mit Burn-out, sondern immer häufiger auch mit Bore-out. Hier machen Menschen wirklich die Erfahrung, dass sie nichts Sinnvolles in ihrer Arbeit machen können und in so einer Art Beschäftigungstherapie feststecken – was ja total traurig ist.

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Sind Männer und Frauen wirklich so verschieden, wie es angesichts der gesellschaftlichen Unterteilungen und Auseinandersetzungen zu sein scheint? Sind die Unterschiede zwischen einzelnen Menschen nicht weitaus größer als jene, die quasi geschlechtlich gegeben sind?

Auf jeden Fall! Geschlecht oder Geschlechtsidentität ist nur eine von vielen Sachen, die Menschen ausmachen, und ich würde sagen, sie wird überbetont. Darüber haben wir am Anfang schon gesprochen: Frauen, Männer oder auch Menschen, die sich nicht binär verorten, sind untereinander unglaublich verschieden und es würde uns alle freier machen, wenn wir uns davon lösen würden, dass uns eine Geschlechtszuschreibung so stark charakterisiert oder kategorisiert. Geschlecht nicht mehr als Kategorie zu nutzen, geht aktuell nicht, weil damit strukturelle Unterschiede verbunden sind. Aber auf der zwischenmenschlichen Ebene oder generell bei der Frage, was uns als Menschen ausmacht, muss Geschlecht keine große Rolle spielen.

Frau Bücker, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führten Frank Augustin und Eneia Dragomir.

Dieses Interview ist zuerst in agora42 2/2020 FRAUEN*, MÄNNER*, KARRIEREN erschienen.
Teresa Bücker
Teresa Bücker wurde 1984 geboren und wuchs in Meschede im Sauerland auf. 2003 und 2004 studierte sie Veterinärmedizin an der Freien Universität Berlin, danach bis 2008 Publizistik, Psychologie und Politik. 2007 begann Teresa Bücker zu bloggen, seit 2008 ist sie als „@fraeulein_ tessa“ auf Twitter aktiv. Von 2008 bis 2010 war sie Ressortleiterin Community und Social Media der Wochenzeitung der Freitag und verantwortete dort den Aufbau der Online-Community.
Von 2010 bis 2012 war Bücker Referentin für soziale Medien und Newsdesk des SPD-Parteivorstands und damit Mitglied des ersten digitalen Redaktionsteams des Willy-Brandt-Hauses. Von 2012 bis 2014 war sie Referentin für Digitale Strategie der SPD -Bundestagsfraktion. Teresa Bücker ist kein SPD-Mitglied und gehörte bislang keiner Partei an. Ab 2014 baute Bücker das feministische Onlinemagazin EDITION F mit auf – bis 2016 als Redaktionsleiterin und bis 2019 als Chefredakteurin. Seit Juni 2019 arbeitet sie als freie Journalistin, Dozentin, Moderatorin und Beraterin. Seit November 2019 schreibt sie für das SZ-Magazin die wöchentliche Kolumne „Freie Radikale – die Ideenkolumne“. Für ihre Arbeit als Chefredakteurin des Onlinemagazins EDITION F wurde Teresa Bücker 2017 als „Journalistin des Jahres“ in der Kategorie „Entrepreneur“ ausgezeichnet. 2019 erhielt sie den Preis erneut in der Kategorie „Kultur“.

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