Jede Konzentration ist eine Gefahr für die Demokratie – Interview mit Frank Simon

„Wir laufen Gefahr, erpressbar zu werden“

Interview mit Frank Simon, Mitglied im Vorstand des Deutschen Netzwerk Wirtschaftsethik (DNWE)
BerechnendHerr Simon, welcher Widerspruch ist für Sie der bedeutsamste?
Der für mich bedeutsamste Widerspruch ist die Diskrepanz zwischen „vernünftigem“ und tatsächlichem Handeln.

Es sind unsere tagtäglichen Entscheidungen gegen gesunde Lebensweise, Schutz der Natur, mitmenschlichen Umgang und vieles andere mehr. Wir alle kennen das Leid von Krankheiten, sind abgestoßen von vermüllten Stränden oder sterbenden Bäumen und leiden unter Streit in Familie, mit Freunden oder am Arbeitsplatz. Wir können liebevoll und gemein, berechnend und altruistisch, friedfertig und kämpferisch sein. Tanja Will zitiert in ihrem Artikel Nietzsche:

„Der moderne Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werte dar, er sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in einem Atem Ja und Nein. (…) Wir alle haben wider Wissen, wider Willen, Werte, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter Abkunft im Leibe – wir sind, physiologisch betrachtet, falsch.“ (Seite 14, agora42 1/2018)

Dies ist zwar kein Widerspruch, der nur auf das Wirtschaftsleben beschränkt ist, hat aber hier besondere Auswirkungen, da wir die gesamte Gestaltung des Wirtschaftssystems auf den vernünftig handelnden homo oeconomicus ausgerichtet haben. Dass der Mensch in seinen Motiven und Verhaltensweisen vielfältiger und Vernunft z. B. in der Befolgung moralischer Regeln erst dann einsetzt, wenn ethische Probleme als solche erkannt und wahrgenommen werden, der Umgang mit ihnen geschult und moralisches Handeln mit erträglichen persönlichen Opfern verbunden ist, ist eine Erkenntnis, die sich erst langsam verbreitet. Die Verengung des Menschenbildes auf den bewusst (überlegt) handelnden und dabei berechnenden Menschen führt zur „self-fulfilling prophecy“ und limitiert unsere Ansätze zur Gestaltung von Erziehung, Ausbildung und letztlich unserer Wirtschaftsordnung. Die Verschulung der Hochschulausbildung, die Mathematisierung der Betriebswirtschaftslehre und der nur zögerliche Ausbau von wirtschaftsethischen Lehrangeboten sind hier nur kleine Beispiele.

Die Probleme der Reduzierung vieler Dinge auf ein bestimmtes Maß – Wirtschaftswachstum auf das BIP, Erfolg eines Unternehmens auf den Profit, Lebenssinn auf Karriere etc. – treten immer deutlicher zu Tage. Halten Sie es für sinnvoll mehrdimensionale Messgrößen einzuführen oder müssen wir gar aufhören, alles messen zu wollen?

Frank Simon
Frank Simon ist Mitglied im Vorstand des Deutschen Netzwerk Wirtschaftsethik (DNWE) und Leiter des Instituts für Nachhaltigkeitsmanagement.

Die Antwort auf Ihre Frage steckt schon im Begriff der „Reduzierung“. Es ist nicht das Problem der Messgröße, sondern deren Interpretation. Wir suchen in der komplexen Welt nach einfachen, schnell erfassbaren Lösungen und machen uns nicht klar, was eine Messgröße ausdrücken kann und was nicht. Auch berücksichtigen wir nicht, dass sich unsere Vorstellungen von dem, was „Erfolg“, „Lebenssinn“ oder „Karriere“ beinhalten, drastisch gewandelt haben. Nehmen wir beispielsweise den unternehmerischen Erfolg, für den die Messgröße des Profits lange Zeit als angemessen galt. Vergleicht man den gern zitierten Satz von Milton Freedman „The business of business is business“ mit der Definition der unternehmerischen Verantwortung der EU-Kommission von 2011, nach der Unternehmen für die Auswirkungen auf die Gesellschaft, d. h. in ökonomischer, sozialer und ökologischer Dimension, verantwortlich sind, so wird die Verbreiterung des Erfolgsbegriffs anschaulich. Hier nur eine (alte), eindimensionale Messgröße anwenden zu wollen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Aber auch mehrdimensionale Messgrößen lösen das Problem nur unzureichend, da man dann zwar die Dimensionen abbildet, aber noch nicht zu konkreten Handlungsempfehlungen kommt, wenn die Dimensionen nicht in gleicher Weise verfolgt werden können. Es zeigen sich die (ggf. moralischen) Dilemmata, für die wir Entscheidungsregeln finden müssen. Eine Diskussion hierüber findet aber nach meiner Beobachtung nur unzureichend statt. Im Ergebnis dann aber gleich auf die Messversuche zu verzichten, erscheint mir nicht sinnvoll zu sein. Nur mit Hilfe der konkreten Ausprägung der Kennzahlen und ihrer sachgerechten Interpretation erhalte ich die Grundlagen für die Auseinandersetzung um den „richtigen“ Kurs und die Beurteilung der Fortschritte.

Die Realwirtschaft steht einem entfesselten und ihren Wert um ein Vielfaches übersteigenden Finanzkapital gegenüber. Hat die Wirtschaft im materiellen Sinn (Produktion) nur noch Alibifunktion?
Ich würde soweit momentan (noch) nicht gehen wollen. Der Kapitalmarkt hat sich in vielen Fällen vom Gütermarkt emanzipiert und hat sich von einem der Produktion und dem Warenaustausch dienenden System zu einem selbständigen entwickelt. Ein besonders anschauliches Beispiel sieht man gerade bei der Bitcoin Entwicklung. Finanzprodukte selbst sind zum Handelsprodukt und der Einfluss auf den Gütermarkt ist zweifellos größer und unberechenbarer geworden. Dennoch erfüllt er tagtäglich weiterhin auf den meisten Märkten seine dienende Funktion. Wahr ist jedoch, dass das Vertrauen in den Kapitalmarkt als ein zuverlässiger Indikator für Risiko und Rendite abgenommen hat und Spekulationsblasen häufiger als in früheren Jahren vorkommen.

Angesichts der enormen Bedeutung und der immer stärkeren Konzentration des Kapitals: Sehen Sie die Demokratie und mit ihr den Wohlfahrtsstaat durch diese Entwicklung gefährdet?
Sicherlich ist jede Konzentration eine Gefahr für die Demokratie, da sie dazu verleitet jenseits demokratisch legitimierter Prozesse Einfluss auf die Gestaltung unserer Lebensweise zu erlangen. Das gilt für die Konzentration von Kapital, aber auch für Konzentration von Informationen, Produktionsmitteln, Bodenschätze oder Flächen in gleicher Weise.

Die demokratischen Institutionen laufen Gefahr erpressbar oder korrumpierbar zu werden.

Die Regelungsdefizite und die mangelnde Solidarität der Staaten auf internationaler Ebene befördern diese Gefahr ebenso wie Bequemlichkeit und Kurzfristdenken der Zivilgesellschaft.
Die oben genannte Definition der EU-Kommission zur unternehmerischen Verantwortung gilt es national wie international ernst zu nehmen und die Debatte zu führen, welche Auswirkungen wir tolerieren wollen oder von uns gewünscht werden. Die beispielsweise mit den Sustainable Development Goals (SDGs) angestoßene Vision über das Zusammenleben der Völker gilt es konsequent weiterzuentwickeln. Es reicht nicht, das Zustandekommen der Ziele zu begrüßen, sondern sich für deren Erfüllung einzusetzen. Die SDGs müssen in Teilziele, Verantwortungen und Maßnahmen für alle Ebenen übersetzt werden. Das betrifft sowohl Staatengemeinschaften, wie z. B. die EU, als auch die Nationalstaaten. Aber auch hier dürfen wir nicht stehen bleiben, sondern sollten debattieren, was diese Ziele für Länder und Gemeinden, für Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen, aber auch für jeden einzelnen von uns bedeuten.
Ich fürchte, dass es uns erst in dieser mühsam zu erlangenden Gesamtsicht gelingen wird, die richtigen Antworten auf „angemessene“ Konzentration oder die gerechte Ausprägung unseres Wohlfahrtsstaates zu finden. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir die Schuld an einem möglichen Niedergang der Demokratie im Kapitalmarkt oder bei den multinationalen Unternehmen suchen. In erster Linie kommt es auf uns als Zivilgesellschaft an, uns einzubringen und die demokratischen Institutionen zu nutzen.

Anmerkung der Redaktion. Im Interview der aktuellen Ausgabe fragte wir Ernst Ulrich von Weizsäcker:
Mit der Agenda 2030 der Vereinten Nationen wurden 17 Nachhaltigkeitsentwicklungsziele definiert, ökologische sowie soziale und wirtschaftliche Ziele. Darunter unter anderem: Die Bekämpfung des Klimawandels (Ziel 13) sowie die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Ozeane (Ziel 14). Kann man also der Zukunft doch hoffnungsvoll entgegenblicken?
Das kann man leider nicht. Denn was man nicht vergessen darf, ist, dass die Verwirklichung der elf sozialen und wirtschaftlichen Ziele, sofern sie auf der Grundlage der konventionellen Wachstumsstrategien geschehen würden, massiv im Widerspruch zur Verwirklichung der ökologischen Ziele steht. Und so wie die politischen Machtverhältnisse in allen Ländern der Welt sind, haben die sozioökonomischen Entwicklungsziele immer Vorrang gegenüber den ökologischen Entwicklungszielen. Von den progressiveren Staatschefs hört man bestenfalls: „Oh je, da steht uns ein große Veränderung bevor, das ist eine enorme Herausforderung. Aber um sie bewältigen zu können, brauchen wir erst einmal noch viel mehr Wachstum.“ Das ist die automatische Reaktion. Sei es in Kigali, in Quito, in Berlin oder in Shanghai.

Alle reden genau so: Wir brauchen mehr Wachstum, um endlich das Klima zu retten!

 

_________________________________________Wirtschaft im Widerspruch

mit u.a.
Ulrich von Weizsäcker “Wachstum im Widerspruch”
Niko Paech “Jenseits grüner Wachstumsträume”
Sven Böttcher “Anders! ist das neue Basta!”
Antje von Dewitz (VAUDE) “Wir alle müssen Kontrolle abgeben”
Im Onlineshop erhältlich.