Vom Suchen und Finden des Sinns – von Philippe Merz

Vom Suchen und Finden des Sinns – oder: Warum 42 nicht die Antwort ist

 

„Ich bin 22 Jahre alt, besitze einen akademischen Grad, einen luxuriösen Wagen, ich bin finanziell gesichert, und es steht mir mehr ‚Sex‘ und Macht zur Verfügung, als ich verkraften kann. Nur dass ich mich fragen muss, was für einen Sinn das alles haben soll.“ Nein, diese Sätze stammen nicht von einem ausgebrannten Bachelor-Absolventen unserer Tage. Sie stammen von einem Patienten des Psychologen Viktor Frankl, den dieser bereits 1970 in seinem Aufsatz Der Wille zum Sinn zitiert. Kann uns dieses Bekenntnis heute noch etwas vermitteln? Kann es uns an verschüttete Einsichten erinnern oder auf neue Fragen stoßen?

Philippe Merz
Philippe Merz ist Mitgründer und Geschäftsführer der Thales-Akademie für Wirtschaft und Philosophie in Freiburg. Er promovierte zur phänomenologischen Ethik Edmund Husserls, gründete bereits währenddessen eine Sommerschule in Italien und entdeckte so seine Freude an offener Bildungsarbeit, die Menschen in ihrer eigenständigen Urteilskraft stärkt. Als Verantwortlicher der Thales-Akademie leitet er heute bundesweit Seminare für Hochschulen und Unternehmen zur Wirtschaftsphilosophie, Unternehmensverantwortung und Ethik der Digitalisierung.

Nun, zumindest dürfte es heute schwerfallen, schon mit 22 Jahren ein solches Maß an Saturiertheit und Sinnentleerung zu erreichen. Heute müssen wir eher noch einen MBA draufsetzen, einen Selbstfindungstrip an die Ostküste Australiens unternehmen und unbezahlte Überstunden in agilen Start-ups absolvieren, um derart verunsichert und erschöpft darnieder zu sinken und uns zu fragen, wie wir die Jahre auf diesem eigenartigen Planeten eigentlich verbringen wollen. Doch auch jenseits dieser zweifelhaften Gnade der späten Geburt deutet das Bekenntnis von Frankls Patient auf fünf Besonderheiten unserer Sinnsehnsucht hin, von denen wir uns gerade heute inspirieren lassen können.

 

Erstens: Sinnsehnsucht ist eine uralte, zutiefst menschliche Erfahrung

Es ist keine neue Einsicht, dass ein Lebensentwurf, der primär auf Konsumoptionen und Statussymbole ausgerichtet ist, stets an der Schwelle zum Sinnverlust steht. Im Gegenteil, diese Einsicht reicht allein in unserem Kulturkreis bis zu Sokrates zurück, der beim Gang über den Marktplatz Athens einmal ausgerufen haben soll: „Ach, wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf!“ Die Geschichte des abendländischen Denkens beginnt insofern sowohl mit Konsumkritik als auch mit dem Zweifel, ob ein Leben, das auf äußere Bestätigung durch Ämter, Macht, Reichtum oder Reputation angelegt ist, tatsächlich dauerhaften Sinn zu stiften vermag.

Wie tief unsere Sehnsucht nach solch dauerhafter Sinnerfahrung reicht, bestätigen Studien von Biologen, Soziologen und Psychologen spätestens seit den 1960er-Jahren, und zwar nicht zuletzt dadurch, dass die Erfahrung von Sinnlosigkeit schon bei jungen Erwachsenen „die Grenzen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaftsordnung“ überschreitet, wie der Psychiater Osvald Vymetal bereits 1966 bemerkte. Demnach gründet die Erfahrung existenzieller Sinnlosigkeit keineswegs in einer wachstums- und wettbewerbsorientierten Wirtschaftsordnung als solcher, sondern ist vielmehr das notwendige Pendant einer zutiefst menschlichen Fähigkeit zum Sinn, die in der Jugend erstmals mit all ihrer Offenheit und Fragwürdigkeit erlebt wird.

 

Zweitens: Alle Sinnerfahrung erfordert Selbsttranszendenz

Im Alltag bemerken wir nur selten, dass unsere Sinnsehnsucht eine paradoxale Struktur hat: Zumeist suchen wir Sinn in uns selbst, etwa wenn wir Selbstverwirklichung durch digitale Selbstoptimierung erreichen wollen. Doch merkwürdigerweise finden wir Sinn nur, indem wir uns selbst überschreiten. Wir finden ihn, wenn wir mit Freunden von Herzen lachen, wenn wir unser Kind dabei beobachten, wie es das erste Mal alleine Fahrrad fährt, wenn wir anderen helfen und sie glücklich machen, wenn wir ihnen etwas beibringen und sie von etwas begeistern, wenn wir intensive Momente in der Natur erleben, wenn wir uns kreativ entfalten, indem wir singen, malen oder schreiben, wenn wir endlich den alten Gartentisch reparieren oder uns im spielerischen Wettbewerb messen.

In diesem Sinn lassen sich auch die vielzitierten Flow-Erfahrungen verstehen, die schon Kurt Hahn, Maria Montessori, Abraham Maslow und vor allem der ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi erforschten. Wann immer wir im Flow sind, stellt sich die Sinnfrage gerade deswegen nicht, weil sie bereits beantwortet ist: Wir gehen in einer Tätigkeit auf, die wir als unmittelbar sinnstiftend erleben. Alle Sinnerfahrung erfordert somit Selbsttranszendenz.

Zugleich machen uns diejenigen Tätigkeiten, durch die wir regelmäßig Sinn und Selbstwirksamkeit erleben, zu den Individuen, die wir sind. Sie haben somit eine geradezu identitätsstiftende Funktion. Oder in den eleganteren Worten von Karl Jaspers: „Was der Mensch ist, das ist er durch die Sache, die er zur seinen macht.“

 

Drittens: Sinnerfahrung ist primär eine soziale Erfahrung

Wenn Ihnen die oben genannten Beispiele situativer Sinnerfahrung vertraut vorkommen, sind Sie nicht allein. Denn wenn Menschen nach solchen Momenten befragt werden, schildern sie vor allem Beispiele, in denen sie etwas mit anderen gemeinsam erleben oder ihr Handeln sogar auf deren Wohlergehen ausrichten. So beschreibt etwa eine Teilnehmerin unserer Weiterbildung Medizinethik ihren Alltag als Krankenschwester in der Akutpsychiatrie mit den Worten: „Es ist für mich unabdinglich, dass meine Arbeit für mich und andere sinnstiftend ist. Ich erlebe jeden Tag, dass ich durch mein Handeln anderen Menschen helfe, sie in großer seelischer Not begleite, sie bei Bedarf auch führe. Vor allem vermittle ich ihnen Hoffnung auf Genesung, wenn alles aussichtslos erscheint. Diese Leistung ist nicht bezahlbar, sie schlägt sich nicht im Gehalt nieder.“ Und ein Oberarzt ergänzt: „Den Sinn meiner Arbeit erkenne ich an der Dankbarkeit und am Lachen meiner Patienten.“

Auch in unserem Weiterbildungsstudium zur Wirtschaftsethik spielen soziale Sinnerfahrungen eine zentrale Rolle, und hier arbeiten die Teilnehmenden vor allem in Unternehmen, Beratungen und NGOs. So betont die stellvertretene Leiterin für Wirtschaftspolitik eines großen Handelsunternehmens: „Ich möchte, dass meine Arbeit für mich, für meine Kundinnen und Kunden, ja, für die Gesellschaft insgesamt sinnstiftend ist und ich sie ethisch vertreten kann.“ Gleiches gilt für die Sinnorientierung im Privatleben, die eine Kaufmännische Leiterin besonders prägnant zusammenfasst: „Sinn erlebe ich immer dann, wenn ich etwas mache, das mehr Menschen zugutekommt als mir selbst.“ Gewiss, diese Antworten sind nicht repräsentativ. Dennoch verblüfft ihre Ähnlichkeit über alle Regionen, Berufe und Altersunterschiede hinweg. Und sie verdeutlichen, wie wichtig es gerade für Unternehmen und Arbeitgeber ist, den Beschäftigten eine überzeugende Sinn- und Werteorientierung zu bieten. Diese Einsicht führt allerdings bald zu der Frage, ob wir Sinn lediglich in unser Leben und Arbeiten hineindeuten oder ob er in der Seinsart von Situationen selbst liegt.

 

Viertens: Sinnerfahrung ist weder Sinngebung noch Sinnfindung

Finden wir Sinn oder erfinden wir ihn? Hinter dieser Frage verbirgt sich erheblicher philosophischer Zündstoff. Während Konstruktivisten unsere Sinnerfahrungen für das Ergebnis willkürlicher, möglicherweise sogar illusionärer Deutungsakte halten, betonen die Anhänger starker ontologischer Positionen, der Sinn liege immer schon in den Dingen, Menschen und Situationen, denen wir begegnen, sodass wir ihn nur entdecken müssten. „Im Leben geht es nicht um Sinngebung, sondern um Sinnfindung“, postuliert etwa auch Viktor Frankl.

Diese Frage ist weder trivial noch eine bloße Spielwiese für beschäftigungslose Intellektuelle. Denn die Antwort, die wir geben, entscheidet darüber, wie wir die Natur, die soziale Welt und uns selbst in ihr verstehen – und folglich jeden Tag handeln. Auch wenn die Untiefen dieser Diskussion hier beiseite bleiben müssen, sei zumindest angedeutet, was bei nüchterner phänomenologischer Beobachtung nahezuliegen scheint: Die Wahrheit liegt gerade nicht in einer der beiden Extrempositionen. Weder finden wir Sinn als eindeutige Aufforderung in Situationen vor, noch erfinden wir ihn losgelöst von situativen Umständen. Vielmehr findet Sinnerfahrung in dem weiten Spielraum zwischen subjektiver Willkür und objektiver Determiniertheit statt. Ob ich es als sinnstiftend erlebe, doppelte Nachtschichten in einer Uni-Klinik zu schieben, mit Freunden auf Berge zu steigen, Curling oder Online-Games zu spielen, Aktien zu handeln oder Klaviere zu restaurieren, hängt von einer kaum mehr durchdringbaren Mischung aus individuellen Dispositionen und Fähigkeiten, sozialen Prägungen und Erfahrungen sowie stets variierenden Stimmungen und Umgebungsbedingungen ab. Wie also können wir mit dieser Freiheit zur Sinnstiftung umgehen?

 

Fünftens: Eigenverantwortung zu übernehmen bedeutet, unsere Sinnorientierung zu prüfen

Wenn wir uns im Sinnerleben immer schon selbst überschreiten, uns in Flow-Erlebnissen sogar selbst vergessen, und wenn wir zudem bedenken, wie beeinflussbar wir hierbei durch Rollenvorbilder und soziale Erwartungen sind, so liegt eine Schlussfolgerung nahe: Die zentrale Herausforderung für ein mündiges, verantwortungsvoll gestaltetes Leben besteht darin, immer wieder zu prüfen, ob wir tatsächlich das Leben führen, das wir aus tiefer Überzeugung führen wollen – und ob dieser Lebensentwurf zugleich mit den berechtigten Interessen heute und zukünftig lebender Menschen vereinbar ist. Damit sind wir aufgefordert, uns in etwas zu üben, das wir eigentlich viel lieber vermeiden würden: in regelmäßiger Selbstkritik. Dies betrifft die Wahl von Beruf, Arbeitgeber, Wohnort und Freizeitvorlieben ebenso wie die Beziehung zu Kollegen, Freunden, Partnern, Familie und nicht zuletzt zu uns selbst. Ist es noch stimmig und ehrlich? Welche Herausforderungen nehme ich aus eigener Überzeugung an, zu welchen lasse ich mich eher verleiten? Tue ich mir selbst und anderen wirklich gut?

Wie anspruchsvoll solche Sensibilisierungsprozesse für uns selbst und andere sein können, erleben wir derzeit etwa an der neuartigen Auseinandersetzung mit Erderwärmung, Ressourcenverbrauch, Artensterben und Vermüllung: Mehr als drei Jahrzehnte schienen diese Phänomene für kleine Parteien, randständige Wissenschaftler und sogenannte Gutmenschen reserviert. Erst jetzt wird einer wachsenden Mehrheit bewusst, dass es hierbei um die grundlegenden Weichenstellungen für unsere gemeinsame Zukunft geht und liebgewonnene Gewohnheiten wie Fleischessen oder In-den-Urlaub-Fliegen eben keine ethisch neutralen Handlungen sind. Wie wir mit solchen kritischen Revisionen unserer Sinnausrichtung umgehen, ob wir zur Selbsterneuerung und freiwilligen Selbstbeschränkung bereit sind oder uns erst aufgrund von Verboten und steuerlichen Sanktionen bewegen, steht freilich auf einem anderen Blatt. Eines jedoch macht Hoffnung: Echte Einsichten lassen sich nicht mehr ungeschehen machen. Früher oder später beginnen sie, unser Handeln zu bestimmen. Auch so lässt sich Hegels berühmtes Diktum verstehen: „Ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht stand.“

 

In Douglas Adams’ Science-Fiction-Satire Per Anhalter durch die Galaxis erfahren die Protagonisten schließlich, dass die Erde in Wahrheit ein Supercomputer ist, der die Frage nach „dem Sinn des Lebens, dem Universum und dem ganzen Rest“ beantworten soll. Allerdings: Nach siebeneinhalb Millionen Jahren Rechenzeit antwortet er hierauf lediglich mit „42“, ergänzt um den lakonischen Hinweis, die Frage sei leider falsch gestellt. Mal abgesehen davon, dass diese Antwort der agora42 zu ihrem Namen verhalf, können wir ihr nun vielleicht doch einen Sinn abringen: Worin ich Sinn finde, sollte niemand anders als ich selbst beantworten. In diesem Willen, dieser Fähigkeit zum Sinn liegt unsere eigentliche Freiheit. Unsere Mitmenschen sind hierbei keine Staffage, kein bloßes Mittel zum Zweck unserer Sinnbefriedigung, sondern eigenständige Wesen mit gleichberechtigten Sehnsüchten nach Sinn, die es zu achten gilt. Das Suchen und Finden dieser Balance ist die Aufgabe eines Lebens in echter Verantwortung.

Die gemeinnützige Thales-Akademie

bietet heutigen und zukünftigen Verantwortungsträgern die Möglichkeit, fundiertes Expertenwissen und eigenständige Lösungsstrategien zu den aktuellen Herausforderungen der Wirtschaftsethik, Medizinethik und Digitalethik zu entwickeln. Hierfür bietet die Thales-Akademie praxisnahe philosophische Seminare für Unternehmen und Hochschulen sowie – gemeinsam mit der Universität Freiburg und der Hochschule Furtwangen – die beiden berufsbegleitenden Weiterbildungen Wirtschaftsethik und Medizinethik an. Beide Weiterbildungen schließen mit dem international anerkannten Certificate of Advanced Studies (CAS) ab.

Der nächste Jahrgang der Weiterbildung Wirtschaftsethik startet im September 2019; Bewerbungsschluss ist der 1. August.

www.thales-akademie.de


Dieser Artikel aus der Reihe VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN ist in der Ausgabe 3/2019 zum Thema SINN erschienen. In dieser Reihe führen die Köpfe der Thales-Akademie offene Gespräche mit progressiven Unternehmerpersönlichkeiten oder stellen eigene Erfahrungen und Positionen aus ihrer Forschungs- und Bildungsarbeit zur Diskussion.