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Teil 3: Die Finanz und ihre Fehler: Pissen ist Macht – Oder: Was wir in der Toilette der Commerzbank lernen können
Interview mit Kunsthistoriker und Medienwissenschaftlicher Prof. Hensel
Text von Bernd Villhauer | Kolumne Finanz & Eleganz | veröffentlicht am 3. April 2025
Politik wurde immer schon in und mittels Toiletten gemacht. Warum die Urinale der Herrentoilette im Turm der Commerzbank in Frankfurt am Main unsere Aufmerksamkeit verdienen.
Lieber Herr Prof. Hensel, heute wollen wir von Ihrem besonderen Blick auf einen Aspekt der Finanzindustrie profitieren. Was ist das Besondere an diesem Blick bzw. Blickwinkel? Wollen Sie sich mit einer Beschreibung Ihrer Perspektive kurz selbst einführen?
Gerne. Ich bin von Hause aus Kunsthistoriker und Medienwissenschaftler, und meine akademischen Lehrer forschten zur politischen Ikonographie unter anderem von Architektur. So kam es, dass ich Ende der 1990er-Jahre zusammen mit anderen Stipendiat:innen des ersten, an der Universität Hamburg eingerichteten kunsthistorischen Graduiertenkollegs und gemeinsam mit den späteren Betreuern meiner Doktorarbeit, Martin Warnke und Hermann Hipp, eine Exkursion nach Frankfurt am Main unternahm. Anlass unserer Reise in die Finanzmetropole war der gerade von Sir Norman Foster neu errichtete Turm der Commerzbank-Zentrale.
Warum verdienen Toiletten in der Vorstandsetage der Commerzbank unsere Aufmerksamkeit?
Eine seitens der Bank angebotene Führung – anders konnte der Turm nicht erschlossen werden – endete jokoserweise ganz oben auf einer der Vorstandsetagen – und zwar in der dortigen Herrentoilette. Während das benachbarte Damen-WC im Turminneren untergebracht ist, fensterlos, werden die Herren eingeladen, sich über den Dächern der Stadt zu entleeren – bezeichnenderweise in Urinale, die an bodentiefen Fenstern angebracht sind, mit Blick auf den Frankfurter Sackbahnhof und den kleineren – oder besser kürzeren – Turm der Dresdner Bank-Zentrale (die damals noch nicht von der Commerzbank übernommen worden war).
Lassen Sie uns die verschiedenen Schichten betrachten. Wir könnten z. B. die politische, ästhetische, ethische und ökonomische herausgreifen: Warum hat das, was Sie zu den Toiletten der Commerzbank ausführen, politische Bedeutung?
Politik wurde immer schon in und mittels Toiletten gemacht. Um nur ein paar Schlaglichter zu geben: In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten gab es in Rom zahlreiche öffentliche Toilettenanlagen. In diesen sogenannten Latrinen saß man auf hufeisenförmig angeordneten marmornen Bänken, die oft mehr als 20 mit Löchern versehene Sitze versammelten. Da es keine Trennwände gab, lässt sich davon ausgehen, dass die Bedürfnisanstalt als ein Treffpunkt diente, an dem gewissermaßen im Schulterschluss und auf Augenhöhe diverse Geschäfte, darunter auch politische, verrichtet wurden.
Ein weiterer Blick in die Geschichte zeigt, dass sich nichts Geringeres als die Manifestation hegemonialer Ansprüche an der Funktionsweise eines Klosetts dingfest machen lässt. So zitiert eine berühmte 1911 entstandene Karikatur zwei verschiedene Toilettentypen, um einen politischen Konflikt zu veranschaulichen: Wir sehen auf dem Bild ein Wasserklosett, seinen Spülkasten wie eine Standarte siegesgewiss gen Himmel stemmend, eine Trockentoilette unterjochen, vulgo das Plumpsklo. Steht dieses für Kontinentaleuropa, insbesondere das Deutsche Reich, personifiziert jenes ein England, das zur Entstehungszeit der Karikatur das Wettrüsten zur See bereits für sich hatte entscheiden können. Und es entbehrt nicht eines doppeldeutigen Humors, wenn das durch den englischen Uhrmacher Alexander Cummings patentierte Wasserklosett eine Toilettenpapierrolle trägt, auf deren Blättern die Hymne „Rule Britannia, Britannia rule the waves“ („Herrsche Britannia, beherrsche die Wellen“) zu lesen ist.
Ein anderes Beispiel steht Vielen vielleicht noch vor Augen: 2003 stürmen im Irakkrieg US-amerikanische Truppen die Paläste Saddam Husseins – ihren Sieg bezeugen die Soldaten mit Fotos, die uns zeigen, wie grobstollige Kampfstiefel auf goldene Toilettenschüsseln treten. Die Botschaft ist klar: Wenn mit dem stillen Örtchen die intimste Zone besetzt ist, besteht am Sieg kein Zweifel mehr.
Dass auch die Art und Weise, wie man seine Notdurft verrichtet, Machtverhältnisse konstituiert, oder einfacher ausgedrückt: dass Pissen Macht bedeutet, demonstrieren im Übrigen eindrücklich Nachttöpfe. Es gibt eine große Zahl von Exemplaren, die ihre Nutzer:innen auf einen politischen Gegner urinieren, defäkieren, sich erleichtern lassen. So umschließt ein englisches Exemplar aus der Zeit der Französischen Revolution auf seinem Grund eine Büste Napoleons – und was der patriotische Inselbewohner seinem französischen Erzfeind in diesem Kontext anzutun in der Lage war, braucht nicht eigens ausgeführt zu werden.
Wie lässt sich das in ästhetischen Kategorien beschreiben?
Eine triftige, sehr passende und tief in der Kulturgeschichte verwurzelte ästhetische Kategorie gibt uns Hubert Cancik an die Hand: die „Kolossalität“ – ihres Zeichens, so Cancik, ein „wirkungsvolles Zeichen von und für große Macht“. Der Altphilologe und Religionshistoriker definiert als kolossal, „was die Dimensionen des Ensembles und der ,normalen‘ Wahrnehmung des Menschen, seine biologische und kulturelle Aesthetik, sprengt.“ Kolosse versetzen den Betrachter durch eine Art ästhetischen Schocks in die Situation eines Kleinkindes vor einem Erwachsenen. Beim Anblick des Kolosses verändert sich die Kopfhaltung. Der Blick wird von unten nach oben geführt; das Auge vermag den Koloss nicht zu erfassen – so groß, so hoch ist er. Wesentlich ist, dass der Koloss nicht nur das Verhältnis Mensch–Bauwerk inkommensurabel werden lässt, sondern auch an den umliegenden Bauten keinen ausreichenden Maßstab mehr hat und selbige zu seinem architektonischen Rahmen entwertet. Besonders gut lässt sich das am Commerzbank-Turm ablesen, der eigentlich Unvereinbares zu vereinen sucht: nämlich den mit Antenne 300 Meter hohen Turm quartierverträglich in ein dichtes, teilweise noch gründerzeitlich bebautes Areal im Zentrum des Bankenviertels zu integrieren. So ist auch dieser Koloss nach Cancik „Darstellung (Exhibition) und Ausübung von Größe und Gewalt, Macht und Herrschaft“.
Aus anderer Perspektive betrachtet, etwa aus der Herrentoilette der Commerzbank-Zentrale heraus, kann damit Hand in Hand das ‚Herab-Schauen‘ oder der ‚Despectus‘ gehen. Ein Wort, das Aussicht und Fernsicht, aber auch Verachtung bedeutet.
Welche ethischen Fragen stellen sich?
Der Kunstwissenschaftler Christoph Asendorf hat darauf hingewiesen, dass der Blick von oben in unserer Kulturgeschichte oft mit Kontrolle, technokratischem Verfügungswunsch oder Omnipotenzphantasien korreliert ist. So entdeckt der Herostrat Sartres in der „Perspektive von oben“ den „großen Feind des Menschlichen“ überhaupt. Aus einem hochgelegenen Fenster erscheinen ihm die Passanten „auf den Fußsteig gequetscht“ mit „zwei lange[n], halb kriechende[n] Beine[n] […] unter ihren Schultern“; und der Pilot Antoine de Saint-Exupéry, Autor von Der kleine Prinz, nimmt Menschen gar wie „Infusorien auf einem Objektträger“ wahr.
Es ist, wenn man so will, ein ironischer Treppenwitz der jüngeren Geschichte, dass sich im Falle der Commerzbank diese „Herab-Sicht“ mit der Finanzkrise gegen sich selbst wenden sollte und mit der Übernahme der Dresdner Bank aus jenem Pissen auf das konkurrierende Institut ein Pinkeln gegen den Wind wurde.
Ist das von Ihnen analysierte Phänomen spezifisch für die Finanzbranche? Oder geht es um die Ökonomie insgesamt?
Es geht um die Ökonomie insgesamt. Ich erinnere nur an das Jahr 1929, als mitten im Börsenkrach New York zum Schauplatz eines himmelstürmenden Häuserkampfs wurde: Der Automobilkonzern Chrysler und die Bank of Manhattan wollten beide ihre Firmensitze im höchsten Gebäude der Welt haben. Ein Trick führte schließlich dazu, dass Chrysler buchstäblich auf den letzten Metern die Bank übertrumpfte und den höchsten Wolkenkratzer für sich reklamieren konnte.
Bemerkenswert ist, dass jüngere Konzerne, etwa Internetgiganten wie Meta, Google oder Apple, auf eine andere ästhetische Strategie setzen: Hier geht es nicht mehr darum, wer den Höchsten oder Längsten hat, sondern im Gegenteil um eine Architektur, die so tut, als wäre sie schon immer dagewesen. Gebäude sollen möglichst transparent oder begrünt sein, so wirken, als wären sie aus dem Schoß der Natur erwachsen, als wären sie immer schon das Organ eines natürlichen Ökosystems gewesen. Dass diese ästhetische Strategie freilich einen ebenso unersättlichen Machthunger nur zu camouflieren versucht, steht auf einem anderen Blatt.
Brauchen wir mehr Nähe in der Finanzindustrie?
Ich bin Direktor eines Instituts, das sich die Förderung von Empathie, also eines tiefgehenden Verstehens des Anderen in seiner Andersartigkeit, auf seine Fahnen geschrieben hat. Ja, wir brauchen mehr Nähe, und zwar überall. Die Wahrnehmung, die Akzeptanz und Förderung von Vielfalt, die Bildung sozialer Beziehungen und das Tragen von Verantwortung füreinander sind nur einige der unabdingbaren Voraussetzungen dafür, dass nicht nur moderne Demokratien, sondern auch zukunftsoffene Wirtschaftssysteme funktionieren und sich den transformativen Herausforderungen unserer Zeit stellen können.
Welchen Film sollten die Leserinnen und Leser dieses Blogs ansehen, um Ihre Argumentation besser zu verstehen?
Sämtliche Filme über die Finanzindustrie, insbesondere über die Finanzkrise 2008, illustrieren meine Argumentation; tatsächlich gibt es kaum einen Film über die Finanzwelt, der nicht mit der Ästhetik der Herab-Sicht aufwartet. Nehmen Sie nur den für sich selbst sprechenden Titel Unter dir die Stadt von Christoph Hochhäusler – nomen est omen! Lassen Sie mich ein berühmtes Beispiel in Erinnerung rufen, dass jenen Blick von oben, wenn nicht mit der Finanzwelt, so doch mit Profitgier assoziiert: Carol Reeds Der dritte Mann aus dem Jahr 1949. In dem in Besatzungszonen aufgeteilten und von blühendem Schwarzmarkthandel gebeutelten Wien der Nachkriegszeit trifft der Protagonist, gespielt von Joseph Cotten, den tot geglaubten ehemaligen Freund und Geschäftspartner, gespielt von Orson Welles, der ihn von den Vorzügen der Penicillinpanscherei überzeugen will. Ort der Handlung ist das Riesenrad im Prater, von dessen Kabinen aus dem Kapitalisten der einzelne Mensch nurmehr als eine zu vernachlässigende Größe, als ein „krepierter Punkt“ erscheint. Ist etwas Zynischeres denkbar?
Vielen Dank für diesen interessanten Austausch.
Geschrieben bei einer Tasse am 29. September 2024
Anmerkung des Autors: Das Institut, das Herr Prof. Hensel erwähnt, ist übrigens das HEED Institute for Human Engineering & Empathic Design der Hochschule Pforzheim (https://www.hs-pforzheim.de/forschung/institute/heed) . Ein Besuch ist ebenso empfohlen wie in der Library of Mistakes (s. voriger Beitrag dieser Kolumne).

Dr. Bernd Villhauer ist Geschäftsführer des Weltethos Instituts Tübingen.
In der Kolumne „Finanz & Eleganz“ geht Bernd Villhauer den Zusammenhängen von eleganten Lösungen, Inszenierungen, Symbolen und Behauptungen einerseits sowie dem Finanzmarkt andererseits nach. Grundsätzliche Überlegungen zu der Kolumne finden Sie in der Einführung.
