„Eine radikale Verschiebung der Verantwortung und des Risikos“ | Interview mit Yulia Lokshina

Filmstill aus Regeln am Band, bei hoher GeschwindigkeitFoto: Filmstill aus Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit (2020) ©wirFILM

 

„Eine radikale Verschiebung der Verantwortung und des Risikos“

Interview mit Yulia Lokshina

In unserer neuen Ausgabe CORONA & DIE ZOMBIEWIRTSCHAFT wird das junge Werk der Filmemacherin Yulia Lokshina besprochen, zu dem das A.K.T; in Pforzheim eine Ausstellung unter dem Titel „Risikogruppen“ macht. Wir haben mit Yulia Lokshina über den Aspekt des Risikos in ihrem Werk und über ihren neuen Film Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit gesprochen, der die „Parallelwelt“ osteuropäischer Arbeitskräfte in der deutschen Fleischindustrie thematisiert.

Frau Lokshina, die Ausstellung im A.K.T; versammelt Ihre Filme unter dem Titel „Risikogruppen“. Der Filmtheoretiker Ignacio Albornoz Fariña macht in der neuen Ausgabe der agora42 in Ihrem Werk die politische Frage nach der Verteilung des Risikos als verbindendes Element aus. Das klingt erstmal sehr abstrakt – wo sind Sie diesem Risiko, seiner Verteilung und Zuweisung begegnet? Haben Sie es gesucht oder hat sich diese Schnittmenge in Ihrem Werk ergeben?

Das Risiko ist eng mit der Sichtbarkeit und ihrem Fehlen verbunden. Welche Bilder entwirft man, welche Perspektive nimmt man ein, was bleibt außerhalb des Bildes oder einer Erzählung. Das alles sind gattungsimmanente Risiken, wenn man sich mit irgendeiner Form von Wirklichkeit und einer Abbildung dessen beschäftigt. Ich glaube, es ist immer Teil der dokumentarischen Filmpraxis.

Ihr preisgekrönter und jüngster Film Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit erhält vor dem Hintergrund des Corona-Ausbruchs beim Fleisch-Konzern Tönnies gerade besondere Aufmerksamkeit. Im Fokus des Films stehen die zumeist osteuropäischen Arbeiter*innen. Was war Ihre anfängliche Motivation, diesen Film zu machen?

Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit war mein Abschlussfilm an der HFF München und ist ohne Senderbeteiligung entstanden. Wir waren völlig ungebunden in der Themenwahl und der Gestaltung. Mit dem Abschlussfilm wollten ich und meine Kolleginnen gerne einen Film machen, der mehr oder weniger mit unserer unmittelbaren Lebenswirklichkeit zu tun hat, über Dinge, die ganz in der Nähe passieren und erstaunlich unsichtbar bleiben. Ich selbst bin in Moskau geboren und schätze sehr die Bewegungsfreiheit des europäischen Raums. Dennoch sieht man am Beispiel der deutschen Fleischproduktion auch, welche Risiken innerhalb einer Freiheit durch eine unregulierte Produktion ebenfalls entstehen.

Es kommt Ihnen darauf an zu betonen, dass Sie nicht in den Betrieben gefilmt haben, sondern die Arbeiter*innen und ihre temporären Lebenswelten in Deutschland in den Mittelpunkt gestellt haben. Warum der Verzicht? Warum dieser Fokus?

In den Betrieben hätten wir, wenn überhaupt, nur unter strengen Auflagen drehen können und nur sehr bestimmte Abläufe. Uns haben von vorne herein Beziehungen die zwischen den Menschen in diesen Hierarchieketten entstehen, interessiert, sowohl in der Vertikalen, als auch zwischen den Arbeiterinnen auf einer Stufe, und für diese Einblicke braucht es Zeit. Daher haben wir unsere Filmarbeit auf die Außenschauplätze verlagert, die zwar allgemein zugänglich sind, an denen man aber oft vorbeiguckt, weil sie vermeintlich nicht so einen großen Schauwert haben.

Der Film kontrastiert die „Parallelwelt“ der osteuropäischen Arbeiter*innen mit der Bildungswelt einer gymnasialen Schulklasse, die Bertolt Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe aufführt. Warum war es Ihnen wichtig, die aktuelle Lage in deutschen Schlachthöfen mit einem Theaterstück aus dem ersten Drittel des letzten Jahrhunderts in Verbindung zu setzen?

Das Stück macht zum einen eine historische Achse auf, an der entlang man nachdenken kann, wie sich bestimmte Probleme und Ausbeutungssysteme halten und nicht auflösen lassen. Zum anderen war es mit dem Stück sehr spannend zu beobachten, was mit unserer Sprache passiert, mit der wir versuchen Probleme zu benennen und Dinge zu fassen. Begriffe wie Arbeiterkampf, Sozialismus, Umverteilung und Fragen nach dem radikalen Systemwechsel wirken sehr deplatziert an einem Münchener Gymnasium (wie übrigens aber auch in Behörden) als hätte man sie längst verarbeitet und für obsolet erklärt. Wir lernen in der Schule, dass wir einen Sozialstaat haben, der für uns sorgt, und eine soziale Marktwirtschaft und dass damit alles geregelt sei. Dass dieses System aber auch große Lücken produziert, in dem das „Soziale“ nicht mehr greift, dafür haben wir oft keine Sprache mehr und sehen dadurch oft auch keinen Handlungsraum.

Nachdem das Unternehmen Tönnies gemutmaßt hatte, die rumänischen und bulgarischen Arbeitskräfte könnten das Virus aus ihren Herkunftsländern mitgebracht haben, sagte auch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, „Rumänen und Bulgaren“ hätten das Virus aus ihren Heimatländern mitgebracht. Beide haben mittlerweile diese Aussagen korrigiert. Haben wir es hier mit der eingangs erwähnten Verteilung und Zuweisung des Risikos zu tun?

Allerdings. Das ist eine radikale Verschiebung der Verantwortung und des Risikos. Und das Problem ist ja auch, dass man Aussagen kaum zurücknehmen kann. Dieses Bild existiert jetzt und lenkt davon ab, dass letztlich der Betrieb dafür zuständig ist, dafür zu sorgen, dass die Produktionsverhältnisse so gestaltet sind, dass eine Erkrankung sich nicht wie ein Lauffeuer ausbreiten kann. Und darüber hinaus haben die Arbeiterinnen jedes Recht nach Hause zu fahren, wenn die Grenze offen ist. Der Betrieb muss dann eben dafür sorgen, dass sie in Quarantäne gehen können.

Immer wieder wird in der Diskussion dieses Skandals betont, dass die Missstände in der Fleischindustrie lange zuvor schon bestanden haben, die Corona-Pandemie aber ein Licht auf die untragbaren Verhältnisse werfen würde. Wie sehen Sie die Rolle des Corona-Virus? Inwiefern hat es die Risiko-Konstellation verändert?

Corona wirkte am Anfang seiner Ausbreitung wie eine Art Kontrastmittel, mit dem das, was übersehen wurde, plötzlich nicht mehr übersehen werden konnte. Es scheint aber, als hätte sich damit die Risikoverteilung nicht verschoben, sondern erstmal verschärft. Mit der Sichtbarkeit sind auch Zustände entstanden, in denen mehrere Tausend Menschen in Gütersloh in Quarantäne müssen, hinter Bauzäunen weggesperrt werden und dann heißt es noch aus dem Landrat, man würde die Polizeistreifen erhöhen, um sie stärker zu kontrollieren, anstatt diese Energie in die Versorgung zu investieren.

Die Fleischindustrie ist ein Musterbeispiel für die Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation: Der enorme Ressourcen- und Landverbrauch (im Vorfeld), das Tierleid, die Produktion klimaschädlicher Gase durch Haltung und Transport, die bereits erwähnten miesen Arbeitsbedingungen und nicht zuletzt auch ein bedenklich hoher Fleischkonsum. Wie sehen Sie die Veränderungsmöglichkeiten in der neuen Situation?

Ich bin nicht sicher aus welcher Position heraus ich das überhaupt bewerten kann. Am Anfang der Pandemie war der Enthusiasmus für eine gesellschaftliche und ökonomische Umgestaltung groß und laut, er kippte aber an vielen Stellen, in den Medien, in der Politik, im Privaten, nach kürzester Zeit in Frust. Viele verstehen eine Transformation als Gewalt, aber ich denke es geht darum, sich von diesem Bild zu lösen. ■

Foto von Yulia Lokshina
Yulia Lokshina, geboren 1986 in Moskau, studierte Dokumentarfilmregie an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Sie arbeitet im Grenzbereich von Film und Wissenschaft am Forum Internationale Wissenschaft Bonn sowie in offenen Formationen mit befreundeten Künstler*innen. Ihre Filme wurden unter anderem ausgezeichnet mit dem Max Ophüls Preis für Dokumentarfilm 2020, dem Megaherz Student Award beim Dokfest München 2020 und dem Starter Filmpreis der Stadt München 2017. (Foto: © Isabelle Bertolone)
Bundesweiter Kinostart von Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit ist der 22.10.2020.
Plakat der Ausstellung "Risikogruppen"

Ausstellung: 03.07. – 02.08.2020 im A.K.T; in Pforzheim & digital

Do. & Fr. → 15.00 bis 19.00 Uhr,
Sa. 15.00 bis → 21.00 Uhr,
So. 11.00 → bis 19.00 Uhr

Weitere Informationen: www.akate.de

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