Was bedeutet „neu“? | von Peter Seele

Was bedeutet "neu"?

Was bedeutet „neu“?

Zeig mir dein Neues und ich sage dir, wer du bist

Text: Peter Seele

Wir seien Kinder der Neuzeit, so heißt es gelegentlich. Diese Neuzeit dauert nun schon seit gut 500 Jahren an – je nach historischer Darstellung. Doch ist sie noch aktuell für uns? Ist sie noch modern, so wie die Neuzeit in ihrem Ausklang auch „die Moderne“ genannt wird? Offenbar nicht, wie bereits der für unsere Zeit gemünzte Begriff der „Postmoderne“ suggeriert, und andere sprechen gar schon von der Postpostmoderne oder – hier wendet das Pendel – von einem aufkommenden zweiten Mittelalter.

Wie wenig wir doch über unsere Zeit wissen. Rufen wir uns deshalb in Erinnerung, wie das Epochenschema Antike – Mittelalter – Neuzeit entstanden ist. Denn die Einteilung der Geschichte in „Sinnabschnitte“ ist eine gar nicht so selbstverständliche Angelegenheit, die ihren Ursprung in Europa hat (bemerkenswert ist dabei, dass das Epochenschema ohne Weiteres auf die asiatische Geschichte übertragen wurde). Genauer: Sie geht zurück auf italienische Renaissancehumanisten um Leonardo Bruni (1369–1444). Die Wiedergeburt (Renaissance) der Antike in Kunst, Architektur, Literatur und Philosophie bedeutete eine markante Zäsur – sie stellte damit einen Abstand zur vorangegangenen Zeit her. Dieses „dunkle“ Mittelalter (das damals keinen Namen hatte) glaubte man überwunden, ja, wollte es überwinden und besann sich zurück auf die Antike. Man wollte offenbar anders sein und im Bewusstsein, dass künftig weniger die Lehren des Christentums, sondern vielmehr die philosophischen Werte und Ideale der Antike leitend sein sollten, nannte man die Zeit dazwischen in größtmöglicher Neutralität „Mittelalter“. Doch auch der technische Fortschritt und insbesondere die Vernetzung der Welt durch Seehandel und Kolonialisierung hielten Einzug, und über die Wiedergeburt der Antike hinaus sollte, so die Pointe der Renaissancehumanisten, eine neue Zeit beginnen: die Neuzeit. Man kann sich vorstellen, wie Leonardo Bruni, Petrarca und andere Renaissancehumanisten beisammen saßen und davon träumten, mit und durch sie beginne eine neue Epoche, die dem Mittelalter den Rücken kehrt – eine Epoche, die sich durch eine freie Entwicklung des Geistes und die künstlerische Rückbesinnung auf die Antike auszeichnet. Letztlich haben sie das „Neue“ ihrer Zeit zum epocheprägenden Programm erhoben: Neuzeit.

Die Abhängigkeit von Neuem

Peter Seele
ist Professor für Corporate Social Responsibility & Business Ethics an der Universität der italienischen Schweiz in Lugano. Von ihm zum Thema erschienen: Philosophie des Neuen (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008); Philosophie der Epochenschwelle (Verlag Walter DeGruyter, 2008).

In unserem Aufsatz Eine kleine Geschichte des Neuen haben Till Wagner und ich vier Phänomene beschrieben, in deren Spannungsfeld sich das geistige Europa der Neuzeit entfaltete: Die jüdisch-christliche Heilszukunft, der Machtverlust der katholischen Kirche, das geschichtliche Denken sowie die wissenschaftliche Forschung und Methode. Insbesondere die Forschung brachte auf sozioökonomischer Ebene Neuerungen, die das Leben der Menschen dramatisch veränderten: Dazu zählen die moderne Buchführung, interkontinentaler Handel und Kolonialisierung sowie ein Bildungsideal, das sich von der Enge und Strenge der philosophisch-theologischen Lehren des Mittelalters hin zur freien philosophischen Denktätigkeit entwickelte. Mit dieser Fortschrittlichkeit entstand dann auch das, was wir heute Fortschrittsabhängigkeit nennen – das Neue erfordert stetige Innovation und Weiterentwicklung. Schließlich begründete René Descartes (1596–1650) den Rationalismus und entwickelte mithin rationale Instrumente und Methoden, die ein ungeahntes Gestaltungspotenzial offenbarten. Man denke etwa an das sprichwörtliche „Ich denke, also bin ich“ sowie an den „methodischen Zweifel“, welcher das Anzweifeln von Gewissheiten – selbst solcher Selbstverständlichkeiten wie der Sinneswahrnehmung – zur Methode erhebt. Diese neue Selbstwahrnehmung und Selbsthinterfragung nennt der Philosoph Hans Blumenberg die „theoretische Neugierde“. Sie ist dem neuzeitlichen Menschen zueigen geworden, nicht nur individuell-persönlich, sondern auch gesellschaftlich-volkswirtschaftlich. Mit dem Neuen wird die Verbesserung der Lebensumstände verbunden – durch Innovation, Effizienz oder Wachstum. Die manische Fixierung auf Wachstum macht deutlich, welche enorme Bedeutung die Steigerungs- und Entwicklungslogik trotz fataler Begleiteffekte für Mensch, Tier und Umwelt für uns immer noch hat.

„Was als neu definiert wird, sagt insofern nichts über die Welt aus, sondern nur etwas über den, der diese Definition vornimmt.“

Friedrich Nietzsche zufolge lässt der Drang, immer weiter fortzuschreiten und seine Macht auszuweiten, keine endgültigen Wahrheiten mehr zu (diese würden den „Willen zur Macht“ nur behindern), sondern stets nur „perspektivische Schätzungen“. Was als neu definiert wird, sagt insofern nichts über die Welt aus, sondern nur etwas über den, der diese Definition vornimmt. Nietzsches Perspektivismus folgend, könnte man also sagen: Zeig mir „dein Neues“ und ich sage dir, wer du bist. Und perspektivisch ableitend: … ich sage dir, wer du sein wirst. In dem fortwährenden Substitutionsprozess von Altem gegen Neues ist es das sich durchsetzende Neue, das den Anspruch an die Zukunft und ihre sich dadurch einstellende Gegenwart anzeigt.

Ein historisches Beispiel für diese Abhängigkeit vom Neuen war der sogenannte Sputnik Schock: Im Wettrennen um die Ausdehnung des eigenen Machtbereichs in das Weltall hinein war es ein „Schock“ für die USA, dass die damalige UdSSR zuerst den Sputnik-Satelliten in den Weltraum schickte und damit in technologischer Hinsicht den USA mindestens ebenbürtig war. In der Folge starteten die USA eine großangelegte Offensive in der Forschungspolitik. Der „Schock“ saß derart tief, dass die USA etliche Millionen Dollar in die Erforschung der Kreativität investierten. Die Kreativitätsforschung, also das Wissen um die systematische Hervorbringung von Neuem, sollte künftig mehr und besseres Neues hervorbringen. Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen beschäftigen sich seitdem mit Kreativität und Innovation – wohlgemerkt, um das Neue gezielt zum Zweck der Machterweiterung herbeizuführen.

Nachhaltigkeit als Neuheit

Das Neue wurde also in der Moderne unter strategischen Gesichtspunkten betrachtet: Es sollte technisch-gesellschaftliches Fortkommen und zukünftigen Erfolg herbeiführen. Der Sputnik-Schock war noch geprägt vom bi-polaren Denken des Kalten Krieges. Es spricht vieles dafür, dass sich nach dieser Ära ein anderer „Kriegsschauplatz“ etablierte: Die Suche nach Neuem wurde zunehmend zum Charakteristikum des globalen Wettbewerbs zwischen einzelnen Unternehmen beziehungsweise ihren Standorten. Die vielbeschworene Ökonomisierung aller Lebensbereiche und das unternehmerische Selbst zeigen, dass die Fortschrittsabhängigkeit darüber hinaus längst schon in die privaten Lebenswelten eingedrungen ist. Produktentwicklungen greifen diese Abhängigkeit auf, indem sie das „höher, besser, weiter“ der Neuheitsverheißung versprechen und dem Konsumenten ein neues Produkt mit neuer Formel, besserem Geschmack, weniger Kalorien, neuem Namen und mit der Aussicht auf glattere Haut in Aussicht stellen.

„Eine wachstumsverliebte oder gar -besessene Spezies mit schlechtem Gewissen, das sich aber durch verantwortungsvollen und nachhaltigen Konsum beruhigen lässt.“

Unter neuheitsökonomischer Betrachtung werden dann auch die Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility eines Unternehmens zu einem Neuheits- und damit Wachstumsmotor. Zahllose Marketingstudien belegen, dass dadurch die Zahlungsbereitschaft der Konsumenten erhöht wird – und somit die Profite steigen. Darüber hinaus soll die so entstandene Wertschöpfung nicht nur dem Unternehmen, sondern auch der Gesellschaft zugute kommen. Den solchermaßen geteilten Wert bezeichnen die Marketing-Großmeister Michael Porter und Mark Kramer als „Creating Shared Value“. Das Neue besteht dabei in der moralischen Qualität eines Produktes – von dessen „added value“ profitieren Unternehmen und Gesellschaft. Produkte sind somit nicht nur billiger, besser, schöner und effizienter, sondern auch umweltfreundlicher, fairer, nachhaltiger und verantwortungsvoller. Sie sind schließlich zu „neuen Neuheiten“ geworden, die uns zeigen können, wer wir sind: Eine wachstumsverliebte oder gar -besessene Spezies mit schlechtem Gewissen, das sich aber durch verantwortungsvollen und nachhaltigen Konsum beruhigen lässt.

Vom Autor empfohlen:

SACH-/FACHBUCH
Edward de Bono: Serious Creativity: Die Entwicklung neuer Ideen durch die Kraft lateralen Denkens (Schäffer-Poeschel Verlag, 1996). Immer noch der Klassiker, wenn es um gezielte Moderation von Kreativität geht.
ROMAN
Gary Shteyngart: Super Sad True Love Story (Random House, 2010). Roman zur Finanzkrise und Big Data. Seiner Zeit – vor NSA und Wikileaks – weit voraus, noch heute visionär.
FILM
The World’s End (2013) von Edgar Wright. Ein Film wider alle Erwartungen, gut geeignet, um das Konzept der radikalen Neuheit kennenzulernen.

Der Text ist in der mittlerweile vergriffenen Ausgabe 04/2014 Das Neue in der Rubrik TERRAIN erschienen. In dieser Rubrik stellen wir Theorien und Phänomene vor, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

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