Was Klimaneutralität wirklich bedeutet | Ulrike Herrmann

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Was Klimaneutralität wirklich bedeutet

Text: Ulrike Herrmann

Ob Klimaforscher oder Politiker: Fast alle hoffen auf „grünes Wachstum“, um Klimaschutz und Kapitalismus miteinander zu vereinen. Doch dies ist eine Illusion. Die Wirtschaft muss schrumpfen, um klimaneutral zu werden. Dafür gibt es sogar ein historisches Modell …

Die Corona-Pandemie macht das Undenkbare denkbar: Plötzlich fliegen kaum noch Flugzeuge, der Ausstoß an Treibhausgasen sinkt, Öl wurde zeitweise zur Ramschware, und viele Länder führten eine Art bedingungsloses Grundeinkommen ein. Der Staat hat allerorts das Sagen, und sogar die Neoliberalen fordern milliardenschwere Konjunkturprogramme. Die Globalisierung scheint genauso beendet wie der ungebremste Kapitalismus. Es wirkt, als wäre ein Weg gefunden, der zu mehr Nachhaltigkeit führt.

Doch dieser Schein trügt. Die Corona-Krise zeigt gerade nicht, wie man den Kapitalismus verlassen kann – sondern beweist im Gegenteil, dass unser Wirtschaftssystem zum Wachstum verdammt ist. Der erste Lockdown im Frühjahr dauerte in den meisten Ländern nur wenige Wochen, und dennoch beliefen sich die Corona-Schäden auf Billionen Dollar. Der Teil-Lockdown im Herbst/Winter wird weitere Milliarden kosten. Längst wären viele Unternehmen pleite und fast alle Beschäftigten arbeitslos, wenn die Staaten nicht permanent neue Hilfsprogramme auflegen würden, um die Wirtschaft zu stabilisieren.

Momentan besteht der Trick darin, neues Geld zu „drucken“, indem der Staat Kredite aufnimmt. Allerdings ist es unmöglich, diese gigantischen Schulden zu tilgen und zurückzuzahlen. Also setzt man auf weiteres Wachstum: Sobald die Wirtschaftsleistung steigt, verlieren die Schulden an Relevanz – bis sie irgendwann vergessen sind.

Bleibt nur ein Problem: Die Klimaschützer haben ja Recht, dass man in einer endlichen Welt nicht unendlich wachsen kann. Die Europäer, inklusive Deutschland, hinterlassen einen ökologischen Fußabdruck, als könnten sie drei Planeten verbrauchen, aber bekanntlich gibt es nur die eine Erde.

Der Bumerangeffekt

Bisher hoffen die Regierungen, dass sie Wirtschaft und Umwelt versöhnen könnten. Die Stichworte heißen „Green New Deal“ oder „Entkopplung“ von Wachstum und Energie. Auch in den jetzigen Pandemie-Zeiten wird intensiv diskutiert, wie sich der Wiederaufbau nach der Corona-Krise ökologisch gestalten ließe.

Angeblich wäre es sogar billig, die Welt zu retten. Die meisten Studien gehen davon aus, dass ein vernünftiger Klimaschutz nur maximal ein bis zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts kosten würde. Fragt sich bloß, warum sich in der Umweltpolitik so wenig tut, wenn sie doch fast umsonst wäre? Irgendwo muss sich ein Denkfehler verbergen.

Um diesem Fehler auf die Spur zu kommen, lohnt sich ein Blick auf die CO2-Steuer, die demnächst in Deutschland eingeführt wird. Ab 2021 wird die Abgabe bei 25 Euro die Tonne CO2 liegen, dann bis 2025 auf 55 Euro steigen und anschließend 55 bis 65 Euro betragen.

Kritiker bemängeln vor allem, dass die Steuer viel zu niedrig sei. So fordert das Umweltbundesamt, dass der CO2-Preis bei 180 Euro die Tonne liegen sollte. Um diese abstrakten Zahlen in die konkrete Welt zu übersetzen: Ein Liter Diesel würde dann etwa 50 Cent mehr kosten.

Das ist viel Geld. Trotzdem würden die „Klimasteuern“ dem Klima nichts nützen. Denn egal, wie hoch die Energiesteuern sind: Dieses Geld verschwindet nicht, sondern bleibt im System. Die Bürger*innen müssen zwar tiefer ins Portemonnaie greifen, wenn sie Energie verbrauchen – aber ihr Geld landet dann beim Staat, der es wieder ausgeben kann und damit für neue Nachfrage und neue CO2-Emissionen sorgt. Die OECD musste bereits feststellen, dass es „keinen klaren Zusammenhang gibt zwischen den Emissionen eines Landes und der Energiebesteuerung“.

An diesem Befund ändert sich auch nichts, wenn die Energiesteuern sozial ausgestaltet werden. So wird bei der deutschen CO2-Abgabe diskutiert, dass der Staat auf die Einnahmen verzichtet und ein „Energiegeld“ an die Haushalte auszahlt. Arme Familien sollen profitieren, weil sie eher wenig Energie verbrauchen, während die Reichen belastet werden. So gerecht diese Umverteilung ist: In der Summe werden die Haushalte netto genauso viel Geld wie vorher haben, um zu fliegen, Auto zu fahren und im Internet zu streamen.

Die Politik verwechselt Betriebs- mit Volkswirtschaft: Ein höherer CO2-Preis hat zwar eine Lenkungswirkung – aber nur beim einzelnen Produkt. Die Gesamtwirtschaft wird weiter in die Klimakatastrophe gesteuert. Die Deutschen tappen in eine altbekannte Falle, die Bumerangeffekt heißt. Dieses Paradox wurde bereits 1865 vom britischen Ökonomen William Stanley Jevons beschrieben und ist eine der wenigen Voraussagen über den Kapitalismus, die sich als richtig herausgestellt hat. Wer Energie oder Rohstoffe spart und mit weniger Materialeinsatz die gleiche Gütermenge herstellt, der steigert in Wahrheit die Produktivität und ermöglicht damit neues Wachstum.

Ökostrom: Traum und Wirklichkeit

In der Umweltpolitik hat es daher wenig Sinn, nur auf Preise und Marktmechanismen zu setzen. Das weiß auch die Politik. Die große Hoffnung ist daher, dass man die gesamte Wirtschaft komplett auf Ökostrom umstellen könnte – gleich ob Verkehr, Industrie oder Heizung.

Diese Idee klingt jedoch nur so lange gut, wie man die offensichtlichen Probleme dahinter verschweigt. Ein E-Auto ist, auch wenn es mit Ökostrom fährt, keineswegs umweltfreundlich, sobald auch die rohstoffintensive Herstellung berücksichtigt wird. Zudem entsteht Ökostrom nicht aus dem Nichts, sondern produziert ebenfalls Folgekosten. Windräder sind zwar längst nicht so umweltschädlich wie Kohlekraftwerke, aber auch sie greifen in die Landschaft ein und werden bald zu einem Müllproblem. Windräder laufen nur maximal dreißig Jahre und sind anschließend eine Industrieruine aus neunzig Metern Schrott.

Vor allem aber: Ökostrom wird immer knapp bleiben. Diese Aussage mag zunächst seltsam wirken, denn die Sonne schickt 10.000 Mal mehr Energie zur Erde, als die knapp acht Milliarden Menschen benötigen würden, wenn sie alle den Lebensstandard der Europäer genießen könnten. Doch Sonnenenergie allein nutzt gar nichts; sie muss erst eingefangen werden. Solarpanele und Windräder sind jedoch technisch aufwendig – jedenfalls deutlich aufwendiger, als Kohle, Öl oder Gas zu fördern und zu verbrennen. Momentan wirkt der Ökostrom konkurrenzfähig, weil damit „nur“ fossiler Strom ersetzt wird – und zwar im laufenden Betrieb. Die Bilanz wird sofort schlechter, wenn der Ökostrom gespeichert und in der gesamten Wirtschaft eingesetzt werden soll.

Erhellend ist der „Erntefaktor“ EROI, der misst, wie viele Energie-Einheiten investiert werden müssen, um neue Energie-Einheiten zu gewinnen. Dabei stellt sich dann heraus, dass Ökostrom maximal die Hälfte der Netto-Energie liefern kann, die sich mit fossilen Varianten erzeugen lässt. Das ist bitter. Denn damit ist klar, dass Ökostrom teuer ist und sich die Effizienz halbieren würde. Sobald aber die Produktivität sinkt, kann es kein Wachstum mehr geben. Die Wirtschaft muss schrumpfen, wenn man sie allein mit Ökostrom antreiben will.

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Die Zukunft: eine private Planwirtschaft

Aber wie soll man sich dieses Schrumpfen vorstellen? Es hilft, vom Ende her zu denken. Wenn Öko-Strom knapp bleibt, dann ist eine klimaneutrale Wirtschaft nur denkbar, wenn man auf sämtliche Flugreisen und das private Auto verzichtet. Auch Banken und Versicherungen sind weitgehend überflüssig, wenn eine Wirtschaft schrumpft. Gleiches gilt für PR-Berater*innen, Reisebüros, Messelogistiker*innen oder Grafikdesigner*innen.

In einer klimaneutralen Wirtschaft würde niemand hungern – aber Millionen von Arbeitnehmer*innen müssten sich umorientieren. Zum Beispiel würden sehr viel mehr Menschen in der Landwirtschaft und auch in den Wäldern benötigt, um die Folgen des Klimawandels zu lindern.

Diese Sicht auf die Zukunft mag radikal erscheinen, aber sie ist „alternativlos“. Wenn wir unseren CO2-Ausstoß nicht auf netto Null reduzieren, geraten wir in eine „Heißzeit“, die von selbst dafür sorgt, dass die Wirtschaft schrumpft. In diesem ungeplanten Chaos käme es wahrscheinlich zu einem Kampf aller gegen alle, den die Demokratie nicht überleben würde.

Der Rückbau des Kapitalismus muss geordnet vonstatten gehen. Zum Glück gibt es bereits ein historisches Schrumpfungsmodell, an dem man sich orientieren könnte: die britische Kriegswirtschaft ab 1940. Damals standen die Briten vor einer monströsen Herausforderung: Sie hatten den Zweiten Weltkrieg nicht kommen sehen und mussten nun in kürzester Zeit ihre Friedenswirtschaft auf Krieg umstellen, ohne dass die Bevölkerung hungerte. Es entstand ein Kapitalismus ohne Markt, der bemerkenswert gut funktioniert hat. Die Fabriken blieben in privater Hand, aber die Produktionsziele von Waffen und Konsumgütern wurden staatlich vorgegeben – und die Verteilung der Lebensmittel öffentlich organisiert. Es gab keinen Mangel, aber es wurde rationiert. Die Briten erfanden also eine private und demokratische Planwirtschaft, die mit dem dysfunktionalen Sozialismus in der Sowjetunion nichts zu tun hatte.

Heute herrscht zum Glück Frieden, aber die gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist beim Klimawandel ähnlich groß. Wieder geht es ums Überleben der Menschheit. Aus der Corona-Krise lässt sich zwar nicht viel für die Zukunft lernen, aber eine Lektion hält sie doch parat: Der Staat hat erneut gezeigt, dass er schnell und wirkmächtig handeln kann. Diese Kompetenz muss er als nächstes nutzen, um geordnet aus dem Wachstum auszusteigen. ■

Ulrike Herrmann
Ulrike Herrmann arbeitet als Wirtschaftskorrespondentin bei der tageszeitung (taz). Zuletzt von ihr erschienen: Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen (Westend Verlag, 2019).
(Foto: Andrew James Johnston)
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