Welche Demokratie verteidigen? | Tamara Ehs

Protestschild auf einer Demonstration: "Aufstehen gegen Rechtspopulismus und seine Steigbügelhalter"Foto: Christian Lue | unsplash

 

Welche Demokratie verteidigen?

Text: Tamara Ehs | online veröffentlicht am 10.11.2024

Das Jahr 2024 begann unter dem Motto Demokratie verteidigen. Auf Großdemonstrationen und wissenschaftlichen Tagungen, in Feuilletons und TV-Dokumentationen wurd vor einem Rechtsruck bei den kommenden Wahlen oder speziell vor AfD und FPÖ gewarnt, schließlich der Vergleich mit den 1930er-Jahren bemüht. Doch es reicht nicht aus, das bestehende Demokratiemodell zu verteidigen, um uns vor der Autokratie zu bewahren. Vielmehr bedarf es eines erneuerten Demokratieverständnisses unter dem Vorzeichen der Daseinsvorsorge.

Das Pathos Demokratie verteidigen leidet an einem Zielkonflikt, denn auch Rechtsautoritäre überzeugen ihre Wählerschaft mit der Anrufung der Demokratie. Oftmals versprechen sie mehr direkte Demokratie, um dem „wahren Volkswillen“ zur Durchsetzung zu verhelfen. Ihr moralischer Alleinvertretungsanspruch gegenüber dem Volk bedarf jedoch keiner auf Kompromiss ausgerichteten pluralistischen Demokratie; Parlamente werden als „Quatschbuden“ entwertet und institutionelle Sicherungen wie Verfassungsgerichte als „woke Volksfeinde“ diffamiert. Ihr Modell ist nicht jenes der liberalen, rechtsstaatlich eingebetteten Demokratie, sondern entspricht Viktor Orbáns Idee von „illiberaler Demokratie“. Der Historiker Timothy Snyder nennt sie treffend „potemkinsche Demokratie“. 

Wundmale der Demokratie

Der bloße Fingerzeig, dass wir die Demokratie verteidigen müssten, hilft folglich nicht weiter. Auch die Anhänger von AfD und FPÖ sehen die Demokratie in Gefahr, weil von „linken Eliten“ in Politik, Wissenschaft und Medien unterwandert. Die Krisenkaskade der vergangenen Jahre von Corona über Klimawandel bis Ukrainekrieg und Inflation befeuerte das Misstrauen ins politische System. Während in Umfragen eine überwältigende Mehrheit der Befragten von der Demokratie als Herrschaftsform grundsätzlich überzeugt ist, sinken die Zufriedenheit mit dem realpolitischen System und das Vertrauen in die gewählten Institutionen und ihre Vertreter*innen. Das Narrativ der Demokratieverteidigung wirkt auf beiden Seiten, meint aber Unterschiedliches.

Wer sich auf den #DemokratieVerteidigen-Demos versammelt, für ihn oder sie funktioniert unsere Demokratie – und sie ist deshalb schützenswert. Sebastian Koos und Marco Bitschnau fanden mittels Teilnehmerbefragung dreier Protestveranstaltungen heraus, dass sich die meisten der oberen Mittelschicht zugehörig fühlen, politisch mitte-links verorten und überdurchschnittlich hohe Bildungsabschlüsse besitzen. Sie stehen jenem nicht unwesentlichen Teil der Bevölkerung gegenüber, der „Wundmale der Demokratie“ (Theodor Adorno) offenbart, weil dort Teilhabe im politischen und im ökonomischen Sinn nur unzureichend verwirklicht ist.

Die Zusammenhänge zwischen der subjektiv erlebten Verschlechterung der Lebensqualität und einem geringeren Vertrauen ins politische System sind empirisch belegt. Der Eindruck, dass Angehörige der unteren Klassen von der Politik weniger wahrgenommen werden, trügt nicht. Lea Elsässer wies in Wessen Stimme zählt? (2018) nach, dass die deutsche Politik nicht in gleichem Maße auf die Anliegen aller sozialen Klassen antwortet. Für einen Zeitraum von über 30 Jahren (1980 bis 2013) und über unterschiedliche Regierungskonstellationen hinweg zeigen ihre Daten, dass die politischen Entscheidungen des Bundestages stark zugunsten der oberen Berufs- und Einkommensgruppen verzerrt sind. Die unteren Klassen haben kaum Chancen, dass ihre Anliegen politisch umgesetzt werden – außer sie stimmen mit jenen der oberen Klassen überein.

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Ungleichheit und soziale Kränkungen

Die soziologische Forschung in der Tradition Robert Castels verweist zudem auf die Bedeutung von „sozialen Kränkungen“ für die politische Kultur. Sie entstünden durch die zunehmende Ungerechtigkeit der Gesellschaft basierend auf ökonomischer Ungleichheit, Prekarisierung von Erwerbsarbeit und mangelnder Wertschätzung. Jüngst bestätigte eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung Kränkungserfahrungen im Job und Vertrauensbruch in gesellschaftliche Versprechen als wesentliche Indikatoren für rechtsautoritäre Einstellungen: Je weniger man im Betrieb mitbestimmen kann, je ausgelieferter man den Entscheidungen der „Elite“ ist, desto eher ist man geneigt, sich selbst zu erhöhen, indem man andere (Ausländer, Muslime etc.) abwertet. Doch rechtsextreme Einstellungen nehmen signifikant ab, sobald Menschen in der Arbeit mitbestimmen können, so das Resultat der Studie.

Neben Nichtwählen als vorrangige Reaktion der prekarisierten Arbeiterklasse sind in der unteren Mittelschicht vor allem populistische Einstellungsmuster zu beobachten. Ihr angesichts von Wirtschaftskrise und Rezession wachsendes Unbehagen wird von rechtsautoritären Parteien in horizontale Kämpfe (Inländer gegen Ausländer, Deutschland gegen „Brüssel“ etc.) überführt. Sie überdecken die vertikale, wirtschaftliche Ungleichheit, zerstören Solidaritäten und beschädigen das Demokratiebewusstsein.

Kultur der Enttäuschung

Viele Anhänger*innen von AfD und FPÖ fühlen sich vom Staat übergangen und enttäuscht. „Gekränkte Freiheit“ nennen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey jene libertären Autoritären, die seit der Coronakrise als Wählerreservoir für rechtspopulistische Parteien aufscheinen. Mehr noch als die Abstiegsangst sitzt ihnen das Gefühl der Ungerechtigkeit im Nacken: Man habe sich an alle Regeln der bürgerlichen Gesellschaft gehalten, werde dafür aber nicht belohnt, ja nicht einmal beim Zahnarzt gegenüber Migrant*innen bessergestellt. Sie leben in einer „Kultur der Enttäuschung“, weil die kapitalistische Wettbewerbsgesellschaft nicht halte, was sie verspricht, aber von den Einzelnen stetig den Beweis einfordere, dass dieses Versprechen eben doch eingelöst werden könne. Warum sollten sie diese Demokratie verteidigen?

Die Enttäuschten und Übergangenen fehlen auf den #DemokratieVerteidigen-Demos ebenso wie viele Nichtwähler*innen. Was beide Gruppen prägt, sind Erlebnisse von staatlich erzeugter Ungerechtigkeit und fehlende positive Teilhabeerfahrungen. Sie äußern sich zwar unterschiedlich – während die einen Rechtspopulist*innen auf den Leim gehen, wenden sich die anderen gänzlich von der Politik ab – aber letztlich mindern beide Gruppen die Chancen für den Fortbestand der liberalen Demokratie. Über soziale Verwerfungen vollzieht sich so ein Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen vom Demokratiemodell, zu dessen Verteidigung aufgerufen ist.

Entsolidarisierte Gesellschaften

Schließlich darf die oberste Vermögensklasse nicht aus der Verantwortung genommen werden, wie zuletzt der rassistische Vorfall auf Sylt in Erinnerung rief: Auch sie fehlt auf den Demonstrationen. Vermögende profitieren zwar von der liberalen Demokratie und zeigen in Umfragen die größte Zufriedenheit mit dem politischen System, allerdings sind sie weder auf ihre Teilnahme bei politischen Versammlungen noch bei Wahlen oder auf kollektive Interessenvertretung angewiesen. Denn sie pflegen persönlichen Kontakt zu Politiker*innen und nutzen ihr Vermögen, um Kandidat*innen, Parteien, Wahlkämpfe oder meinungsbildende Medien zu finanzieren, wie Julia Cagé in The Price of Democracy (2020) herausarbeitete. Ihr „Lifestylerassismus“ (Manuela Honsig-Erlenburg) ist Ausdruck einer entsolidarisierten Oberschicht, die sich nicht mehr an den Gesellschaftsvertrag gebunden fühlt.

Schließlich fehlen auch CDU/CSU- sowie FDP-Wähler*innen laut der Studie von Koos und Bitschnau auf den Demonstrationen. Es sind am Ende die Volksparteien, die Rechtsautoritäre als Partner in Regierungsverantwortung holen. Damit geht eine Schwächung der Unterstützung für die liberale Demokratie unter den Wähler*innen einher. Die Politikwissenschaftler Derek Epp und Enrico Borghetto wiesen nach, dass die Gesetzgebung dieser Koalitionen ihren Fokus auf jene Politikbereiche setzt, die den Wohlstand der Reichen absichern, und gleichzeitig die Interessen der übrigen Wählerschaft auf Identitäts- und Migrationspolitik lenkt: Kulturkampf für die Massen, Steuersenkungen für die Reichen. Natascha Strobl spricht deshalb von „radikalisiertem Konservatismus“, und der Historiker Philipp Ther erinnert an den „alten Topos der europäischen Geschichte: Entsolidarisierte Gesellschaften sind ein Nährboden für Nationalismus und xenophobe Einstellungen“.

Sozialstaatsgebot

Es bedarf deshalb eines erneuerten Demokratieverständnisses, das nicht nur liberal, sondern auch sozial für alle funktioniert. Demokratische Abläufe, die Sicherstellung ihrer sozioökonomischen Grundlagen und schließlich die gleiche Responsivität gegenüber allen Bevölkerungsgruppen müssen mehr als bisher zur Daseinsvorsorge gezählt werden – Demokratie als gemeinsames Recht auf das, was alle brauchen. Um mit dem Vokabular der Coronakrise zu sprechen: Demokratie ist systemrelevant. Daraus erwächst der politische Auftrag für die Gestaltung gerechter sozialer Beziehungen. Relevant ist nicht nur das Ausmaß der individuell verfügbaren Ressourcen, sondern deren Verteilung innerhalb der Gesellschaft.

Von der 1965 ausgerufenen „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) sind wir heute weit entfernt. Je ungleicher aber die Gesellschaft ist, desto mehr streben die politischen Präferenzen auseinander und desto schwieriger wird die Lösung anstehender Probleme. Der britische Historiker Tony Judt sah in der Beantwortung der sozialen Frage die Voraussetzung erfolgreicher Politik: „Von all den konkurrierenden und nur partiell miteinander zu vereinbarenden Zielen, die wir anstreben, muss an oberster Stelle der Abbau von Ungleichheit stehen. Bei dauerhafter Ungleichheit sind alle anderen erstrebenswerten Ziele viel schwerer zu erreichen.“

Wir müssen das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes wieder als Basis unseres Gesellschaftsvertrags verstehen. Es war einst verankert worden, um die Errungenschaften des politischen Liberalismus wie parlamentarische Demokratie und Rechtsstaat gegen die Verwerfungen des freien Marktes zu verteidigen.

Maßnahmen einer Demokratie als Daseinsvorsorge

Um Politik nicht an immer weiter auseinanderstrebenden Partikularinteressen, sondern am Gemeinwohl auszurichten, könnte man…

… mit einem permanenten Bürgerrat nach dem Vorbild Ostbelgiens arbeiten. Per Zufallslos werden 24 Teilnehmer*innen aufgrund der Merkmale Geschlecht, Alter, Wohnort und Berufstätigkeit ausgewählt, um deskriptive Repräsentation zu gewährleisten. Sie sind 18 Monate lang als „Politiker auf Zeit“ tätig und arbeiten mit der Regierung zusammen. Mit dem Einbezug gewöhnlicher Bürger*innen sollen Meinungen von Menschen in den Diskurs Eingang finden, die ansonsten aufgrund ihrer sozialen Herkunft in der politischen Elite kaum abgebildet sind.

… Demokratie als Alltagserfahrung gestalten, insbesondere durch Betriebsdemokratie. Positive Teilhabeerfahrungen im Job schützen nachweislich vor Radikalisierung. Auch wenn Beteiligung nicht unmittelbar bestimmte politische Einstellungen beeinflusst, so immunisieren Erfahrungen von Handlungsfähigkeit doch gegen kompensatorische Versuche der Selbstermächtigung auf Kosten anderer. Wo Demokratie nicht als positiv und funktionierend erfahren wird, sinkt tendenziell die Bereitschaft, für sie einzutreten.

… die seit 1997 ausgesetzte Vermögenssteuer aktivieren, denn die stetig extremere Konzentration von Vermögen und Macht gefährdet die Demokratie. Während in den kommenden Jahren hunderte Milliarden Euro an das reichste Zehntel der deutschen Haushalte steuerfrei vererbt werden, ist Arbeit übermäßig besteuert. Dies straft die Erzählung vom Leistungsprinzip Lügen und vertieft die „Kultur der Enttäuschung“ aufgrund nicht erfüllter Versprechen der Demokratie.

Das Konzept der deskriptiven Repräsentation meint, dass die Repräsentant*innen den Repräsentierten gemäß ihrer soziodemografischen Daten ähnlich sind – ein Parlament, Landtag oder eben Bürgerrat demnach ein Spiegelbild der Gesellschaft ist. Forscher*innen der deskriptiven Repräsentation wie Karen Bird fanden heraus, dass beispielsweise Menschen mit Migrationsgeschichte, die unter den Abgeordneten niemanden sehen, der ihnen ähnlich ist, das Parlament als weniger responsiv für ihre Anliegen und Bedürfnisse empfinden – und folglich ihr Wahlrecht seltener als der Durchschnitt ausüben. Jane Mansbridge (2015) argumentierte zudem, dass die Interessen derjenigen, die im politischen System deskriptiv weniger vertreten sind, auch substanziell beim politischen Output weniger berücksichtigt werden; und eine solche strukturelle Benachteiligung von Teilen der Bevölkerung würde zu einem Legitimationsdefizit des politischen Systems führen.

Demokratie für alle

Es gilt demnach, der Ausdünnung des Wohlfahrtsstaates entgegenzuwirken und (wieder) ein dichtes Geflecht von sozialen Beziehungen und öffentlichen Diensten zu bauen beziehungsweise zu stärken. Je ungleicher eine Gesellschaft ist, desto mehr streben ihre politischen Präferenzen auseinander, desto leichter lässt sie sich polarisieren und desto weniger sieht sie in der Demokratie ein Gesellschaftsmodell, das zu verteidigen ist. ■

Dieser Beitrag ist zuerst in agora42 3/2024 zum Thema AUSLAUFMODELL DEMOKRATIE? erschienen.
Tamara Ehs studierte Politik-, Kommunikations- und Rechtswissenschaften und ist als Demokratieberaterin unter anderem für die baden-württembergische Landesregierung, die European Association for Local Democracy (ALDA) und das österreichische Klimaministerium tätig. Zudem engagiert sie sich in der politischen Erwachsenenbildung, insbesondere im Rahmen der von ihr konzipierten Demokratie Repaircafés. Die akademische Grundlage hierzu bilden zahlreiche Forschungs- und Lehraufträge, zuletzt in Frankfurt am Main, Wien und Budapest. Zum Thema von ihr erschienen (mit Martina Zandonella): Wessen Demokratie verteidigen? Wie Ungleichheit politische Teilhabe prägt (WISO, 2024).
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