Foto: Deutsche Wohnen & Co. enteignen
„Wir Mieter*innen wollen mitbestimmen, wie wir in unserer Stadt leben“
Interview mit Constanze Kehler | Deutsche Wohnen & Co. enteignen | online veröffentlicht am 27.06.2023
Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWE)“ ist aus der Berliner Mieter*innenbewegung hervorgegangen, in der sich seit Jahren Gemeinschaften und Gruppen für erschwingliche Mieten, gegen Verdrängung und dafür engagieren, die Stadt mitzugestalten. 2018 startete die Initiative mit dem aufsehenerregenden Slogan „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ eine Kampagne für einen Volksentscheid über die Vergesellschaftung nicht nur des angesprochenen Wohnungskonzerns, sondern aller Berliner Unternehmen „mit Gewinnerzielungsabsicht gleich welcher Rechtsform“, die mehr als 3.000 Wohnungen besitzen. Das würde mehr als 200.000 Wohnungen betreffen, für die die Initiative die Schaffung einer Anstalt des öffentlichen Rechts vorschlägt, in der die Mieter*innen, aber auch die Stadtgesellschaft maßgeblich mitentscheiden können sollen. Beim Volksentscheid stimmten im September 2021 59,1 Prozent der Abstimmenden – mehr als eine Million Berliner*innen – für ein solches Gesetz. DWE hat mit der Kampagne nicht nur einen Abstimmungserfolg erzielt, sondern auch die Diskussionen um den „schlafenden Artikel“ 15 des Grundgesetzes wiederbelebt: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“
NACHGEFRAGT BEI CONSTANZE KEHLER VON „DEUTSCHE WOHNEN & CO. ENTEIGNEN“:
Der Name Ihrer Initiative ist „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, in Ihren Forderungen beziehen Sie sich aber nicht auf den Artikel 14, Absatz 3 des Grundgesetzes (Enteignung), sondern auf den Artikel 15 (Vergesellschaftung). Warum verwenden Sie dennoch den Enteignungsbegriff und was ist der Unterschied zwischen Enteignung und Vergesellschaftung?
Die Enteignung von großen Immobilienkonzernen zu fordern, war ein provokanter Einstieg in die Debatte um die Probleme fehlenden Wohnraums und hoher Mieten. Diese Debatte hat sich in der Zwischenzeit wesentlich weiterentwickelt. Die Möglichkeit zur Vergesellschaftung war noch nicht so bekannt wie heute. Um der Forderung eine Öffentlichkeit zu verschaffen, war der polarisierende Begriff der Enteignung ein guter Ausgangspunkt. Eigentlich sind Enteignungen in Deutschland ja gang und gäbe: Zum Bau von Autobahnen oder für den Kohleabbau sind sie tägliche politische Praxis. Doch in unserem Fall geht es um große Konzerne und auf einmal polarisiert es.
Enteignung ist für uns ein Mittel zum Zweck – die Vergesellschaftung ist das Ziel. Die Enteignung beschreibt den bloßen Eigentümerwechsel, also die Übertragung von Grund und Boden gegen eine angemessene Entschädigung. Die Vergesellschaftung der Wohnungsbestände bedeutet hingegen, Privateigentum in Gemeineigentum zu transformieren und es unter demokratische Verwaltung zu stellen. Es geht uns natürlich nicht nur um die Veränderung der Eigentumsverhältnisse. Entscheidend ist, dass wir Mieter*innen mitbestimmen wollen, wie wir in unserer Stadt leben.
Das grundsätzlich Neue ist also nicht die Enteignung selbst, sondern dass wir enteignen wollen, um zu vergesellschaften. Nach 30 Jahren, in denen die Profitinteressen der Aktionär*innen die Entwicklung unserer Städte maßgeblich diktiert haben, machen wir die demokratische Kontrolle über unsere Häuser wieder zu einem politischen Ziel und rücken die Bedürfnisse von uns Berliner*innen wieder in den Fokus. Vergesellschaftung ist mehr als ein Mittel gegen steigende Mieten: Wir kämpfen für eine Stadt des selbstbestimmten Wohnens und einen Wohnungsmarkt, der sich nicht länger an den Profitinteressen ausrichtet.
Warum ist die Vergesellschaftung großer Wohnunternehmen notwendig, warum löst der Markt das Problem nicht?
Die Situation auf dem Wohnungsmarkt war in Berlin nie so schlimm wie heute, und in vielen anderen Städten sieht es ähnlich aus. Als ich vor einigen Jahren nach Berlin gezogen bin, war ich schockiert über die Wohnungsnot. Egal bei welcher Gelegenheit ich neue Personen kennenlerne, sehr schnell geht es um die Schreckensgeschichten über den Wohnungsmarkt: ewige Wohnungssuche und Verdrängung, Rechtsstreit und Schikane durch Wohnungskonzerne und Hausverwaltungen. Auf dem Markt gilt das Recht der Stärkeren und wir Mieter*innen werden gegeneinander ausgespielt.
Der Wohnungsmarkt ist aktuell eine riesige Umverteilungsmaschine von unten nach oben. An erster Stelle stehen für die profitorientierten Wohnungskonzerne die Interessen der Aktionär*innen, nicht die der Mieter*innen oder der Stadtgesellschaft. Es ist die Logik des Marktes, dass diese Konzerne die Mieten so stark wie möglich erhöhen und die Kosten so niedrig wie möglich halten. Deshalb lässt sich das Problem fehlender erschwinglicher Wohnungen nicht mit Neubau lösen – denn es geht gar nicht um Nachfrage und Angebot, es geht um Profite. Neubau hat keinen signifikanten Einfluss auf die Mietpreisentwicklung, das hat gerade eine großflächige Vergleichsstudie für ganz Deutschland von Zeit Online gezeigt. Grund dafür ist, dass die Konzerne nicht bauen, um jede Nachfrage zu erfüllen, sondern sie bauen teure Wohnungen, um ihre Profite zu maximieren.
Die Angst und das Gefühl der Ohnmacht über die Zustände auf dem Berliner Wohnungsmarkt sind längst der Wut gewichen. Die Mieter*innen haben begonnen, sich zu wehren. Die Gespräche der letzten Jahre mit Mieter*innen in ganz Berlin zeigen: Wir wollen nicht länger mit unserer überteuerten Miete die Dividenden der Aktionär*innen zahlen. Wir wollen unsere Lebensentwürfe nicht nach den Gewinnmargen von Großinvestor*innen richten und wir wollen uns nicht länger gegeneinander ausspielen lassen. Kollektiv wütend zu sein, ist gut, denn es nährt den Gestaltungswillen. Wir wollen unseren Wohnraum der Marktlogik entziehen und selbst über das Leben in unserer Stadt bestimmen.
Sie kritisieren nicht nur „Deutsche Wohnen & Co.“, sondern auch landeseigene Wohnungsunternehmen. Was ist das Problem dieser Unternehmen in öffentlicher Hand?
Landeseigene Wohnungsunternehmen leisten in Berlin einen großen Beitrag zur Wohnraumversorgung. Sie garantieren günstige Mieten, investieren in Neubau und vor allem auch in den sozialen Wohnungsneubau. Dank der Möglichkeit der politischen Steuerung durch den Berliner Senat konnten in den aktuellen Krisenzeiten sowohl ein Mieten- als auch ein Kündigungsstopp in den landeseigenen Wohnungsunternehmen durchgesetzt werden. All das sind riesige Erleichterungen für die dort lebenden Mieter*innen. Gleichzeitig gibt es bei den Landeseigenen auch noch einiges an Verbesserungspotenzial. Im Besonderen betrifft das die gewinnorientierte Bewirtschaftung, die Instandhaltung der Bestände, die politische Mitbestimmung der Mieter*innen und Beschäftigten sowie die Anstellungsverhältnisse. Die landeseigenen Wohnungsunternehmen denken diese Aspekte bisher nur im Ansatz mit, aber die privaten Wohnungskonzerne erheben erst gar nicht den Anspruch.
Ein gutes Beispiel ist das Neue Kreuzberger Zentrum (NKZ) am Kottbusser Tor. Der Gebäudekomplex gehört der landeseigenen GEWOBAG und gilt als Vorzeigemodell der Mieter*innenmitbestimmung. Das Unternehmen und der Mieter*innenrat haben sich in den letzten Jahren darauf geeinigt, dass über die Vergabe von Gewerbeflächen in Abstimmung mit den Mieter*innen entschieden werden soll. Gegen den Entschluss und den Protest der Anwohner*innen wurde jedoch Anfang des Jahres eine der größten Gewerbeeinheiten zu einer Polizeistation umgewandelt. Es enttäuscht die Menschen und macht sie wütend, wenn so gegen ihren Willen gehandelt wird. Langfristig führt es dazu, dass sich weniger Menschen in solchen Räten engagieren. Deswegen braucht es echte demokratische Kontrolle, bei der die Entscheidungsmacht bei den Mieter*innen liegt.
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Ihr Alternativvorschlag ist eine „Anstalt öffentlichen Rechts“. Was können wir uns darunter vorstellen?
Die vergesellschafteten Wohnungsbestände müssen natürlich auch verwaltet und bewirtschaftet werden. Dafür halten wir eine Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) am besten geeignet. Das ist eine typische Rechtsform für öffentlich-rechtliche Betriebe, in Berlin sind zum Beispiel die Verkehrsbetriebe (BVG) und die Stadtreinigungsbetriebe (BSR) so organisiert. Der größte Unterschied zu den privaten als auch den landeseigenen Wohnungsunternehmen ist, dass eine AöR keine Gewinnerzielungsabsicht verfolgt, sondern dem gesellschaftlichen Versorgungsauftrag verpflichtet ist. Im Unterschied zu Genossenschaften ist die AöR allerdings den Interessen aller Berliner*innen verpflichtet – nicht nur denen ihrer Mitglieder.
Der gesellschaftliche Auftrag der Anstalt ist die dauerhafte Versorgung der Berliner*innen mit erschwinglichem Wohnraum und eine möglichst bedarfsgerechte und diskriminierungsfreie Wohnungsvergabe. In den vergesellschafteten Beständen soll nicht mehr wie auf dem privaten Wohnungsmarkt das Recht der Stärkeren gelten. Aber auch die demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten, eine nachhaltige Kiezentwicklung, zum Beispiel durch die Gewerbevergabe anhand nicht-gewinnorientierter Kriterien, konsequenter Klima- und Umweltschutz und die bedarfsgerechte Instandhaltung, Instandsetzung und Modernisierung der Bestände, gehören zu den Kernaufgaben der AöR. Erträge aus der Bewirtschaftung sollen zur Erfüllung der festgelegten Ziele reinvestiert werden, um so in der Stadt zu bleiben.
Artikel 15 des Grundgesetzes steht einem Ihrer Texte zufolge in einer langen Tradition der Gemeinwirtschaft. Was können wir uns unter „Gemeinwirtschaft“ vorstellen und wie sieht diese Tradition aus?
Gemeinwirtschaft ist ein Gegenmodell zur kapitalistischen Verwertungslogik und zur finanzmarktgetriebenen Globalisierung. Historisch gesehen, konnte durch gemeinwirtschaftliche Bewirtschaftung die Grundversorgung gerade in Krisenzeiten schon oft gewährleistet werden. Mit rein marktwirtschaftlichen Methoden hätte es beispielsweise den sozialen Wohnungsbau der 1920er-Jahre in Berlin nicht gegeben.
Gemeinwirtschaft wirft die Frage auf: Für wen wollen wir wirtschaften? Für die Profite von wenigen oder für uns alle? Grundlage der Gemeinwirtschaft ist, dass nicht Profite im Vordergrund stehen, sondern die Versorgung der Gemeinschaft und das Gemeinwohl. Solche hochtrabenden Worte bleiben aber leere Worthülsen, wenn wir nicht auch konkret mitbestimmen können, was denn eigentlich gut für uns alle ist. Deshalb geht es auch um Mitbestimmung. Unserer Erfahrung nach wissen die Mieter*innen oft genau was sie wollen: So würden viele Deutsche Wohnen-Mieter*innen sicher lieber den Aufzug reparieren oder das Heizsystem erneuern lassen, als eine sinnlose Luxussanierung zu bezahlen.
Artikel 15 des Grundgesetzes zur Vergesellschaftung ist schon lange ein Gegenstand der politischen Auseinandersetzung. Als 1949 das Grundgesetz beschlossen wurde, machte die SPD den Artikel 15 zur Bedingung für ihre Zustimmung. Zuvor stand der Vergesellschaftungsartikel schon in der Weimarer Verfassung von 1919. Er wurde dort auf Druck der Arbeiterbewegung reingeschrieben, die sich für gemeinwirtschaftliche Betriebe und die Demokratisierung der Wirtschaft einsetzte. Und während heute unsere Bürger*inneninitiative darauf hinarbeitet, den Artikel 15 das erste Mal anzuwenden, versucht die FDP ihn seit Jahren erfolglos aus dem Grundgesetz zu streichen. Wir stehen also nicht nur in der Tradition der Gemeinwirtschaft, sondern auch in der Tradition progressiver sozialer Kämpfe.
Die zu schaffende Anstalt öffentlichen Rechts soll die Bewirtschaftung des Wohnraums in Berlin demokratisieren. Vorgesehen ist auch, das Kleingewerbe zu stärken sowie Kitas, Jugendzentren und (Klein-)Kunst mehr Platz zuzugestehen. Warum ist das notwendig und wie soll das gelingen?
Wir wohnen in unseren Häusern, aber wir leben in unseren Nachbarschaften, unseren Kiezen – das sind unsere Lebensräume. Es sollte selbstverständlich sein, dass die Kieze deshalb nach den Bedürfnissen ihrer Bewohner*innen gestaltet werden. In meinem Alltag brauche ich den Friseurladen, den Imbiss, den Kiezladen dringender als den dritten McDonalds. Gelebte Nachbarschaft braucht auch ganz konkrete Orte der Begegnung. Kleingewerbe und Nachbarschaftsinitiativen haben es aber auf dem Immobilienmarkt wegen unzureichender Mietregulierungen besonders schwer. Die Anwohner*innen sollen selbst entscheiden können, wie sich ihre Nachbarschaft entwickeln soll – und das kann für jeden Kiez ein bisschen anders aussehen. Wir sind seit Jahren mit vielen Initiativen, Nachbarschaftsorganisationen und Mieter*innen im Gespräch und eins ist sicher: Wohnungspolitik hört für uns Berliner*innen nicht bei der Miethöhe auf!
Constanze Kehler, vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Eneia Dragomir.
Dieses Interivew ist zuerst in agora42 2/2023 WERT/E in der Rubrik LAND IN SICHT erschienen. In dieser Rubrik werden Projekte, Initiativen und Unternehmen vorgestellt, die ökonomisches und gesellschaftliches Neuland betreten.

Constanze Kehler ist Politikwissenschaftlerin und engagiert sich seit 2020 bei „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“.
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