Zeitgerechtigkeit – ein Beitrag zur resilienten Stadt | Caroline Kramer & Dietrich Henckel

Stadt und MobilitätFoto: Alex Wong | unsplash

 

Zeitgerechtigkeit – ein Beitrag zur resilienten Stadt

Text: Caroline Kramer & Dietrich Henckel | online veröffentlicht am 04.05.2023

In Krisenzeiten wie der gegenwärtigen Coronapandemie ist der Wohlfahrtsstaat in besonderer Weise gefordert. Bislang gründet er auf einer Umverteilung materieller Ressourcen (Geld) und der Sicherung eines materiellen Existenzminimums. Mittlerweile wird jedoch Zeit – die wichtigste immaterielle Ressource – als eine zweite Säule des Wohlfahrtsstaates gesehen. Dabei geht es im Kern darum, neben der Sicherung eines materiellen auch ein „zeitliches Existenzminimum“ zu sichern.

Bislang gibt es bestenfalls erste Ansätze zur Definition oder gar Quantifizierung eines zeitlichen Existenzminimums. Kürzlich veröffentlichte Ergebnisse eines Projekts des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zeigen zumindest einen Weg zur Definition und Messung von Mindeststandards für Zeitwohlstand auf.

Ein Blick auf die meisten gegenwärtigen Krisen zeigt, dass sie häufig als zeitliche Krisen, meist als Beschleunigungskrisen, interpretiert werden können, sei es die Coronakrise, die Klimakrise, die Finanzkrise, die Energiekrise oder die Carekrise. Aus diesem Grund führt unseres Erachtens kein Weg daran vorbei, sich mit den zeitlichen Implikationen unseres Handelns auseinanderzusetzen. Erst die Sensibilisierung dafür und der Blick auf die zeitlichen Aspekte lassen erkennen, an welchen Stellen politischer Handlungen implizit auch weitreichende zeitliche Entscheidungen getroffen werden. Nur wenn diese impliziten Zeitpolitiken sichtbar gemacht werden, bestehen auch Chancen für explizite zeitliche Politiken, die auf eine nachhaltige, enkeltaugliche Zukunft, auf eine resiliente Entwicklung abzielen. Dabei wird Resilienz nicht im Sinne einer Sicherung des Status quo bzw. einer Rückkehr in eine vermeintlich heile Welt gedacht, sondern im Sinne einer verträglichen Anpassung an (veränderte) natürliche und soziale Rahmenbedingungen.

Leitbilder für eine zukunftsfähige Stadt

Städte stellen seit jeher Orte dar, an denen sich soziale, kulturelle, ökonomische und politische Prozesse verdichten, seien es Krisen, aber auch Visionen für zukünftige Entwicklungen. Derzeit werden Leitbilder, wie die nachhaltige, die gemeinschaftliche oder die gerechte Stadt diskutiert. Für eine nachhaltige Zukunft der Stadt spielen unseres Erachtens drei Konzepte, die eng miteinander verknüpft sind, eine zentrale Rolle – das Recht auf Stadt, das Recht auf Zeit und die zeitgerechte Stadt.

Das Recht auf Stadt – ursprünglich von dem französischen Soziologen Henri Lefebvre formuliert und von verschiedenen Autor*innen weiterentwickelt – ist kein einheitliches Konzept, beinhaltet aber vor allem das Recht auf Zugang zu allen städtischen Ressourcen und Gelegenheiten, das Recht auf Nutzung der Stadt in all ihren Facetten sowie den Zugang zu politischen Debatten und Entscheidungen über die Zukunft der Stadt.

Das Recht auf Zeit ist – weitestgehend durch den Rechts- und Politikwissenschaftler Ulrich Mückenberger formuliert – viel jünger und umfasst fünf zentrale Aspekte: keine unautorisierte Fremdbestimmung der eigenen Zeit, keine Diskriminierung der Zeitnutzung, keine Entwertung der Zeitnutzung, das Recht zur Entwicklung und Ausübung einer eigenen Zeitkultur, das Recht zur Entwicklung und Ausübung gemeinsamer (kollektiver) Zeiten. Es handelt sich (noch) nicht um ein kodifiziertes Recht. Als solches würde es Ähnlichkeiten mit dem Gleichheitsgrundsatz der Geschlechter im Grundgesetz aufweisen: Die Formulierung eines Ziels und eines Anspruchs, der zwar noch nicht durchgesetzt ist, aber als Norm Gültigkeit hat und damit die Umsetzung des Anspruchs zumindest erleichtert. Zum ersten Mal wurde das Recht auf Zeit offiziell in einem europäischen Dokument 2010 im Rahmen des Kongresses der Städte und Regionen des Europarates formuliert. Mittlerweile nimmt die Diskussion darüber an Fahrt auf. Eine Umsetzung würde nicht nur Anwendungs- und Durchsetzungsmechanismen sowie Mechanismen zur Lösung von Zeitkonflikten benötigen, sondern zunächst Instrumente und Methoden der Sensibilisierung für Zeitpolitiken voraussetzen.

Die Vorstellung einer zeitgerechten Stadt verknüpft die räumliche und die zeitliche Dimension. Das zentrale Ziel des Konzepts der zeitgerechten Stadt ist die Ermöglichung und Sicherung von Zeitwohlstand und Zeitautonomie der Bewohner*innen. Es ist offenkundig, dass im Zuge der Ausdifferenzierung und Individualisierung der Gesellschaft und damit der Ansprüche, Erwartungen und Handlungsoptionen, eine einheitliche Definition von Zeitgerechtigkeit utopisch ist. Es handelt sich dabei um normative Vorgaben, Ziele, die nie vollständig erreicht werden können, weil es widerstreitende Interessen, Unvereinbarkeiten etc. gibt. Daher sind immer nur Annäherungen möglich, die auch immer wieder neu verhandelt werden müssen, weil sich ökonomische, technische sowie soziale Rahmenbedingungen ändern und sich Wertvorstellungen wandeln. Zwei Dimensionen der Gerechtigkeit sind aus unserer Sicht für die Beurteilung der Zeitgerechtigkeit einer Stadt von zentraler Bedeutung:

  • Die Verteilungsgerechtigkeit. Damit sind gerechter Zugang und Erreichbarkeit zentraler Ressourcen und Dienstleistungen gemeint. Schon aufgrund der erst in Anfängen vorhandenen Möglichkeiten, die Zugänglichkeit zu messen, Vergleiche über zeitliche Strukturen und zeitliche „Zumutungen“ zwischen Stadtteilen oder gar ganzen Städten anzustellen, sind Aussagen über (raum)zeitliche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten bestenfalls in Ansätzen und nur für enge Teilbereiche möglich. Damit ist ein weitreichender Auftrag an die zukünftige Forschung formuliert.
  • Prozedurale Gerechtigkeit. Um auf dem Weg zur zeitgerechten Stadt voranzukommen, ist eine zweite Dimension von entscheidender Bedeutung. Nicht nur die Zeit als Analysekategorie muss „eine Stimme“ bekommen, muss in allen stadtpolitischen Feldern als integraler Bestandteil der Betrachtung verankert werden, sondern auch alle gesellschaftlichen Gruppen müssen an der Debatte darüber, wie eine zeitgerechte Stadt aussehen könnte, beteiligt werden. Dafür müssen geeignete Prozeduren gefunden werden.
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Zeit-Gerechtigkeit und Raum – Mobilitätschancen

Wie eng zeitliche und räumliche Gerechtigkeit zusammenhängen, wird am Beispiel von Mobilitätschancen gut erkennbar. Gesellschaftliche Teilhabe ist nur möglich, wenn Menschen Infrastrukturen, Arbeitsplätze, Treffpunkte der städtischen Gemeinschaft usw. von ihrem Wohnstandort aus erreichen können – unabhängig von ihren ökonomischen Ressourcen. Dazu muss zum einen ein Mobilitätsangebot auch Schichtarbeitenden, Alleinerziehenden und Jugendlichen zur Verfügung stehen. Zum anderen muss es auch finanziell Schwächeren möglich sein, Wohnraum in räumlicher und damit zeitlicher Nähe zu erreichen. Raum-Zeit-Gerechtigkeit bedeutet daher eine gerechte Verteilung von Zugänglichkeit. Damit sind zwangsläufig Kosten verbunden, sodass auch immer ökonomische Abwägungen erforderlich sind.

Zeitpolitik für eine zeitgerechte Stadt

Erste Überlegungen zu einer systematischen Integration von zeitlicher und räumlicher Planung fanden in italienischen Städten schon Mitte der 1980er-Jahre statt. Diese Vorreiterrolle kommt auch darin zum Ausdruck, dass ein Gesetz aus dem Jahr 2000 die Städte verpflichtet, sich systematisch mit Zeitfragen auseinanderzusetzen. In Verbindung mit einem gegenwärtig generellen Aufschwung der Zeitforschung gewinnt auch die Debatte um zeitrelevante Zukunftskonzepte der Stadt an Schwung.

Die Planung für die zeitgerechte Stadt – wie von uns 2019 formuliert (Das Recht auf Zeit und das Recht auf Stadt: Die zeitgerechte Stadt – eine Handlungs- und Forschungsagenda) – muss einerseits dafür sorgen, dass die Gelegenheiten, die die Stadt bietet, (chancen)gerecht verteilt werden, dass nicht systematisch Barrieren, Ungleichheiten oder Ungerechtigkeiten geschaffen werden und dass andererseits eine Mitwirkungsmöglichkeit für die Bewohner*innen an dieser Planung grundsätzlich gegeben ist. Da es in der Umsetzung darum geht, konkurrierende oder gar widersprüchliche Ziele auszubalancieren, sowie darum, öffentliche Güter bereitzustellen, die systematisch nicht (alleine) über den Markt in angemessener Weise bereitgestellt werden können, kommt der öffentlichen Hand eine zentrale Rolle zu. Wenn Zeitgerechtigkeit zu einer lebenswerten Stadt beitragen soll, geht es darum, die Stadt als Gesamtraum (bis in ihre Teilräume) sowie die Stadtbevölkerung mit ihren dauerhaften Anteilen (Bewohner*innen) wie ihren temporären (Pendler*innen, Gäste, Tourist*innen, Migrant*innen, Studierende etc.) systematisch in den Blick zu nehmen. Zudem gilt es, den unterschiedlichen sozialen Gruppen (Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status, kultureller Hintergrund usw.) und ihren unterschiedlichen Ansprüchen (zum Beispiel Feiernde und Ruhe Suchende in der Nacht) gerecht zu werden.

Zeitpolitik wird seit eh und je – zumindest implizit – betrieben, aber gerade dadurch ist ihre Wirkung meist nicht offenbar. Daher ist ein erster Schritt die Sensibilisierung für die zeitlichen Dimensionen des gesellschaftlichen Handelns. Diese Sensibilisierung schafft Transparenz, die wiederum Voraussetzung für eine Strategieentwicklung ist, die Zeit systematisch in (raum)planerisches Handeln auf unterschiedlichen Ebenen (Quartier, Stadtbezirk, Stadt, Region, Land, EU) einbezieht. Erst wenn einzelne Ressorts systematisch Zeitpolitik betreiben, kann erwartet werden, dass auf längere Sicht Zeitpolitik als Querschnittsaufgabe etabliert werden kann. Schließlich sind unterschiedliche Formen der Institutionalisierung denkbar, selbst wenn man nicht gleich an die Vision des französischen Philosophen Paul Virilio denkt, der 1978 in Geschwindigkeit und Politik formulierte, dass das Ministerium für Raumplanung eines Tages vom Ministerium für Zeitplanung abgelöst werde.

Für die (internationale) Debatte um die zeitgerechte Stadt ist dabei von besonderer Bedeutung, dass im Jahr 2021 auf der Barcelona Time Use Week die Barcelona Declaration on Time Policies verabschiedet wurde. Darin wurde unter anderem gefordert, das Recht auf Zeit zu etablieren, eine Europäische Akademie für Zeitpolitik einzurichten sowie ein Netzwerk kommunaler und regionaler Regierungen für Zeitpolitik zu re-etablieren. Rund 100 Institutionen haben europaweit diese Deklaration unterzeichnet und sind damit auch in einen Aktionsplan eingebunden, der Zeitpolitik auf allen Ebenen, besonders auf kommunaler Ebene, etablieren soll. Im Rahmen dieser Tagung wurde auch die Notwendigkeit der Abschaffung der zweimaligen Umstellung der Uhren (im Frühjahr auf Sommerzeit und im Herbst zurück auf Standardzeit) unterstrichen. Diese Umstellung ist ein Paradebeispiel für eine nicht resiliente Zeitpolitik, die die Implikationen für das Wohlergehen der Bevölkerungen in Europa (und anderswo) nur unzureichend oder gar nicht berücksichtigt.

Zeit für einen neuen Wohlfahrtsstaat

Zeitgerechtigkeit muss als komplexes und kontingentes Konzept – wie wir 2019 ausgeführt haben – angesehen werden, als eine Vision, von der klar ist, dass sie – wie Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen, soziale Gerechtigkeit und andere Ziele – nicht vollständig zu erreichen ist. Aber als Vision hat sie als ein Orientierungspunkt und Maßstab zu gelten, an dem es sich auszurichten gilt. Auf dem Weg zu einer zeitgerechten Stadt, in der die zentralen Ressourcen und Gelegenheiten gerecht verteilt und für alle erreichbar sind, müssen Verfahren entwickelt werden, wie dieses langfristige Ziel der Zeitgerechtigkeit erreicht werden kann und wie die Bürger*innen gerecht an diesen Verfahren beteiligt werden können.

Die systematische Einbeziehung von Zeit in die zukünftige Konzeption des Wohlfahrtsstaates unter Einschluss des Rechts auf Zeit und die zeitgerechte Stadt ist unseres Erachtens ein zentraler Baustein auf dem Weg zu mehr Resilienz der Gesellschaften insgesamt und insbesondere der Städte. ■

Dieser Artikel ist zuerst in agora42 2/2022 RESILIENZ in der Rrubrik HORIZONT erschienen. In dieser Rubrik geht es um Entwürfe anderer gesellschaftlicher Wirklichkeiten sowie um die Perspektiven für konkrete Veränderungen.
Caroline Kramer ist Professorin für Humangeografie am Karlsruher Institut für Technologie. Sie beschäftigt sich mit räumlichen Aspekten von Zeit und Mobilität, Multilokalität und temporären Wohn- und Lebensformen, mit raum-zeitlicher Gerechtigkeit als Leitbild räumlicher Planung sowie mit Geografischer Bildungsforschung und Räumen des Wissens.
Dietrich Henckel war bis 2017 Professor für Stadt- und Regionalökonomie am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin. Seine Schwerpunkthemen waren unter anderem wirtschaftlicher Strukturwandel, neue Techniken und städtische Entwicklung. Er beschäftigt sich immer noch mit urbanen Temporalitäten, der Stadtnacht und Lichtverschmutzung.
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SACH-/FACHBUCH
Olaf Georg Klein: Zeit als Lebenskunst (Verlag Klaus Wagenbach, 2010)
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Modern Times von Charlie Chaplin 1936
Night on Earth von Jim Jarmusch 1991

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