Viele wollen nicht wahrhaben, dass das zunehmende Chaos System hat. Sie beruhigen sich damit, die negativen Ereignisse nicht miteinander in Verbindung zu bringen und sich immer nur auf ein einziges Problem zu fokussieren: den Stau, den ausgefallenen Zug, die wegen Personalmangels geschlossene Kita, die Kopfschmerzen, das defekte Haushaltsgerät, das
fehlende Ersatzteil oder Medikament, den Stress bei der Arbeit …
Verständlich? Irgendwie schon. Schließlich wäre es weitaus weniger erquicklich, sich eingestehen zu müssen, dass sich die Probleme insgesamt häufen und verschlimmern und ein gesellschaftlicher Kollaps immer wahrscheinlicher wird. Zudem ist es versäumt worden, ein Denken einzuüben, das sich mit den großen Zusammenhängen befasst und uns in die Lage versetzen würde, die gesellschaftliche Normalität konstruktiv infrage zu stellen. Das kam in Schule, Ausbildung und Beruf zu kurz. Eher ging es da um bestmögliche Anpassung. So wurde die Normalität allzu normal – zu unserer zweiten Natur. Resultat: Wir wähnen uns in einem alternativlosen System gefangen, starren wie Kaninchen auf „den Markt“ und richten die Politik daran aus, ob der Wachstumsgott sein Einverständnis gibt. Mittelalter? Schlimmer!
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agora42 1/2026 TECHNIK
11,80 €
Dass sich angesichts dieser systemischen Verwahrlosung kein demokratisches Selbstbewusstsein herausbilden konnte, ist nicht weiter verwunderlich. Das zeigt sich gerade dann, wenn es um Technologie geht, die vollständig der Profitlogik unterworfen wurde und längst zur Sklavin des Wirtschaftswachstums geworden ist. Es ist schon peinlich: Da werden Tech-Unternehmer wie Musk/Bezos/Zuckerberg (stellvertretend für ungezählte andere), denen man aus 100 Metern Entfernung ansieht, dass sie große, getriebene Kinder mit erheblichen charakterlichen und emotionalen Defiziten sind, wie Könige hofiert. Niemand braucht solche Typen, schon gar nicht in einer Demokratie. Selbstbewusste Bürger*innen wissen: Fortschritte sind niemals rein technisch. Technik kann nur die Begleitmusik einer allgemeinen gesellschaftlichen Emanzipation sein.
Technik muss getragen werden von moralischen Werten, denn technische Fortschritte kann man auch bei der massenhaften Tötung von Menschen erzielen – oder bei der Zerstörung eines Planeten, der alles ist, was wir haben.
Ihr Frank Augustin
Chefredakteur, faugustin@agora42.de
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Dieser Artikel ist von
Hat Philosophie und Geschichte studiert und war Redakteur beim Journal für Philosophie der blaue reiter. Kapitalismus ist für ihn ein kulturelles, nicht in erster Linie ein wirtschaftliches Phänomen – und längst zur gesellschaftlichen Normalität geworden. Was aber normal war, steht in Frage: Ohne den festen Glauben an die segensreiche Wirkung von Wachstum und technischem Fortschritt wird dem Kapitalismus die Lebensgrundlage entzogen. Es bleibt ein sinnloses Weiter-so, ein leeres Mehr des Geldes und die Gleichschaltung aller Lebensbereiche unter quantitativen Gesichtspunkten.
Was tun? Wie kann man verändern, was als normal betrachtet wird? Wie befreit man die Wirtschaft von der Wachstumsideologie? Wie kommt man wieder ins Handeln und kann beginnen, den unvermeidlichen ökonomischen und gesellschaftlichen Zusammenbrüchen entgegenzuwirken?
