Kostenlose Mittagessen mit geretteten Lebensmitteln, achtsame Partys, Rat und Beistand in asylrechtlichen Fragen, Kunstausstellungen: All das organisieren Ehrenamtliche im Stadtteilzentrum PRISMA in Stuttgart-Bad Cannstatt. Die Schwaben-Bräu-Passage mit den namensgebenden prismenförmigen Streben im Innenhof war in den Sechzigern einst ein schickes Hotel und Kino – einige Jahrzehnte später stand das Gebäude leer und verfiel. Bis zur Gründung des PRISMA im Jahr 2021 wurde die Passage vor allem von Tauben als Unterschlupf genutzt. Mittlerweile ist es das Zuhause eines zivilgesellschaftlichen und subkulturellem Zentrums für ganz Stuttgart und voller Leben. Valentin, Surja, Giuliano und Goni sind Hauptamtliche des Vereins Fläche e. V., der 2022 gegründet wurde, um die Verwaltung der Räumlichkeiten zu erleichtern. Im Interview erzählen sie, warum das PRISMA ein Musterbeispiel für sinnvolle Nutzung von Leerstand ist, wodurch die vielen unterschiedlichen Initiativen miteinander verbunden sind und was Stuttgart fehlt.
a42: Das Projekt gibt es ja jetzt seit 2021 und es ging ziemlich schnell los, nachdem ihr euch die Räume hier im ersten Stock einmal angeguckt hattet. Wie war denn die erste Begehung? Was war euer erster Eindruck?
Valentin: Da war ich alleine hier, montagsmorgens um zwanzig nach neun mit drei Leuten von der Stadt und der Wirtschaftsförderung. Wir sind in dreißig Minuten einmal durchs komplette Stockwerk durchgegangen. Und nach den dreißig Minuten wurde ich gefragt, ob ich Interesse hätte und ich meinte so: Ja, das kriegen wir schon hin – aber es gab niemanden außer mir! Das war irgendwas zwischen Naivität und Überzeugung. Mir war klar, dass ich genügend Leute zusammenkriege, weil das Bedürfnis nach Raum und gleichzeitig der ungenutzte Leerstand hier in Stuttgart schon seit Jahren Thema sind. Drei Interessierte wurden von der Wirtschaftsförderung miteinander verbunden: Heide Fischer, die den alternativen Club im Sinn hatte, die Palermo Galerie und ich. Wir haben dann schnell beschlossen, gemeinsam in das Stockwerk zu gehen. Dann habe ich noch Matthias Murjahn von der Commons Kitchen gefragt. Im Juni 2021 haben wir die Schlüssel bekommen und einfach angefangen. Und drei Jahre später sind wir vier Hauptamtliche!
Habt ihr für den Eindruck, ob und wenn ja wie sich die Dynamik in der Stadt geändert hat, seit es das PRISMA gibt?
Valentin: Von Seiten der Verwaltung wird das Thema Leerstand jetzt ernst genommen. Es stehen in der Innenstadt ja auch immer mehr Geschäfte leer, also es wird sehr augenscheinlich, dass eine Nutzung von Leerstand notwendig ist.
Giuliano: Und ich glaube, wenn man auf die gesellschaftliche Dynamik guckt – das PRISMA ist genau das, was wir in Stuttgart brauchen, wovon wir eigentlich viel mehr brauchen, am besten in jedem Stadtteil. Solche großen Häuser, wo verschiedenste Arten von Subkulturen zusammenkommen, gab es hier vorher nicht. Ich meine, es gibt hier Leute, die künstlerisch arbeiten, Leute, die Musik machen, es gibt ein Unterstützungsangebot für Geflüchtete, es gibt Vorträge zu gesellschaftlichen Themen. Und das sind alles nicht-kommerzielle Angebote.
Wie geht ihr damit um, wenn es durch diese Vielfalt und das offene Konzept Konflikte gibt?
Surja: Das ist ganz unterschiedlich. Wenn jetzt jemand die Küche anders nutzt, als sie ursprünglich gedacht war, dann besprechen die Beteiligten sich und finden eine Lösung. Wir kommen hier in Situationen, die anstrengend und konfliktgeladen sind, aber das passiert halt. Wir versuchen auch nicht, das zu vermeiden, weil das ja auch gar nicht geht bei so vielen unterschiedlichen Gruppen. So richtige Eskalationen sind auch noch nicht passiert. Und was wir alle teilen als Gruppen, ist so eine grundsätzliche Haltung von Respekt zueinander oder …
Giuliano: … Menschlichkeit.
Surja: Ja, wo wir uns auch immer wieder drauf berufen können. Es gibt hier ein Topic, das mit Gemeinschaftlichkeit und Gleichberechtigung zu tun hat. Aber eben auch das Prinzip, offen für vieles zu sein.
Giuliano: Ich würde da vielleicht noch ergänzen: Ich glaube, dass die Rate von Personen, die hier aktiv sind und die zum Beispiel sich mit dem Thema Awareness beschäftigt haben, extrem hoch ist. Das heißt nicht automatisch, dass damit dadurch besser umgegangen wird. Aber es gibt eben so ein breites Bewusstsein dafür und alle Beteiligten tun, was eben möglich ist, damit Menschen hier sicher sind.
Goni: Ich glaube, das Zeit auch voll der große Faktor ist. Ich meine, Orte wie diesen hier gibt es nicht viele in Stuttgart – wir haben wenige Vorbilder. Also wenn wir sagen: Wir wollen offen sein gegenüber wohnungslosen Menschen, dann gibt es ja wenig Beispiele, an denen wir uns orientieren oder mit denen wir uns austauschen können. Das heißt, viele Konflikte brauchen Zeit, bis da eine Lösung gefunden ist, mit der viele Leute auch übereinstimmen.
Awareness im Kulturbereich bedeutet, dass Veranstalter*innen einen Leitfaden entwickeln, wie sie mit Vorfällen von Diskriminierung und Gewalt auf ihrer Veranstaltung umgehen wollen. Oft gibt es Ansprechpersonen, an die Besucher*innen sich wenden können, wenn sie Hilfe brauchen. Das Konzept geht auf Methoden und Erfahrungen der Bewegung Transformative Justice (Transformative Gerechtigkeit) und Community Accountability (Kollektive Verantwortungsübernahme) aus den USA zurück. Sie basiert auf der Erkenntnis, dass Frauen, queere Personen und insbesondere Personen of Color sich in gefährlichen Situationen meist nicht auf Hilfe von staatlichen Institutionen verlassen können. Bei Awareness-Arbeit geht es also darum, gemeinsam Verantwortung füreinander zu übernehmen, ohne auf Polizei und Justiz zurückzugreifen.
Ich höre als gemeinsame Grundlage heraus: Alle schätzen diesen Ort und wollen ihn erhalten, weshalb man auch im Konflikt nicht ausschließlich gegeneinander ist.
Giuliano: Ich finde ein Beispiel dafür ist: 2022, als hier alles gestartet ist und es nach und nach immer mehr Veranstaltungen gab, waren hier ein, zwei Sachen pro Woche. Dann wurde es ein bisschen mehr und dann kam es zum ersten Mal vor, dass hier an einem Samstagabend drei Veranstaltungen gleichzeitig waren. Wir haben dann überlegt, ob das irgendwie blöd ist, wenn so viel gleichzeitig ist, bis wir verstanden haben: Hey, das ist keine Konkurrenz, das ist bereichernd. Und natürlich birgt das Konfliktpotenzial, aber Konflikte werden dann eben besprochen.
Ist diese Gleichzeitigkeit von ganz verschiedenen Gruppen und Veranstaltungen eher dem Zufall geschuldet oder Teil des Konzepts?
Valentin: Beides, glaube ich. Wir haben uns am Anfang ja eher zufällig zusammengetan. Deshalb bringen die vier Hauptprojekte jeweils einen eigenen Personenkreis mit sich und diese Kreise mischen sich hier, obwohl sie sich sonst nicht getroffen hätten. Aber das ist auch gut so, weil der Ort nicht Gefahr läuft, monothematisch zu werden: Wir haben hier nicht nur eine Kunstausstellung, sondern die Austellung findet statt, während direkt im Raum daneben Rechtsberatung für Personen mit Migrationserfahrung ist – und die gehen danach vielleicht noch rüber in die Galerie.
Goni: Der Ort bietet einem auch viel Freiheit. Ich habe den Eindruck, es sind auch viele Leute, die einen Ort für sich und ihre Ideen gesucht haben und hier gefunden haben, und – klar, diese Freiheit oder diese Offenheit kann dann auch manchmal überfordern, aber ich glaube, dass viele Leute auch genießen, einen Ort zu bespielen, der noch geformt werden kann.

Giuliano: Ich habe so ein bisschen das Gefühl, dass das hier das gesamte Gebäude dreißig Modellprojekte auf einmal ist. Aber alles nicht gefördert, sondern selbstverwaltet. Klar, es gibt uns vier Hauptamtliche und es gibt von der Stadt dazu noch ein bisschen Geld für die Miete, damit alle Projekte hier mietkostenfrei ohne Druck ihr Ding machen können. Aber dabei geht es ja nur darum, den Raum zu halten. Der Rest lief bisher einfach nach dem Motto: Wir machen mal. Das, was die Stadt oder das Land vielleicht aufwendig planen und dann Modellprojekt nennen würde – zum Beispiel Kochen gemeinsam mit wohnungslosen Menschen im Küchenkollektiv – das passiert hier einfach aus einer Notwendigkeit heraus, weil eben jeder reinkommen und mitmachen kann. Und dann gucken wir halt, wie wir das hinbekommen.
Wie geht ihr damit um, dass das Projekt als Quasi-Zwischennutzung ein Ablaufdatum hat? Gibt es schon Ideen oder Pläne für die Zeit danach?
Valentin: Also erstmal ist nicht ganz klar, wie lange wir hier bleiben können. Ab 2030 will die Stadt das ganze Straßeneck mit allen Gebäuden hier „projektieren“, also: Abriss und Neubau. Bis 2027 können wir jetzt sicher hierbleiben und dann vielleicht noch ein bisschen länger.
Giuliano: Und abgesehen davon muss natürlich auch ein politischer Wille da sein, um Kunst und Kultur hier im PRISMA zu fördern. Wenn zum Beispiel der Gemeinderat mal sagen sollte: Wir geben euch das Geld für die Miete nicht mehr, dann wird es für uns fast unmöglich sein hierzubleiben. Und dann würde das Stockwerk einfach wieder leerstehen. Natürlich sind wir auch dankbar, dass es gerade seitens der Verwaltung diese Unterstützung für das PRISMA gibt, aber meiner Meinung sollte das eine Selbstverständlichkeit sein.
Leider ist ja das Gegenteil der Fall. In Stuttgart kämpfen subkulturelle Orte in der Regel alle paar Jahre damit, dass sie ihre Räume wieder verlieren …
Valentin: Ja, klar, das ist mega das Wagnis. Aber ich finde, auch wenn uns immer der Stempel Zwischennutzung aufgedrückt und damit unser eigenes Ende suggeriert wird, macht es trotzdem Sinn, dieses Gebäude zu bespielen, statt es leer stehen zu lassen, egal, wie lange wir am Ende hier bleiben können. Also, ich finde – klar, uns wurde jetzt dieser Raum angeboten, aber das ist die Ausnahme. Eigentlich müsste sich die Stadt verpflichtet sehen, das mit anderem Leerstand in Zukunft auch zu machen.
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Goni: Abgesehen davon wissen wir ja auch nicht, wie sich das PRISMA entwickelt. Entweder wir etablieren uns hier so sehr, dass wir nicht mehr wegzudenken sind. Oder irgendwann verändern sich der Zeitgeist, die Bedürfnisse, es gibt neue Gruppen, die neue Räume öffnen, und dann braucht es das PRISMA vielleicht nicht mehr. Ich finde das gar nicht so verkehrt, wenn diese Dinge ein bisschen im Wandel bleiben. Es ist voll schön, diesen Ort hier momenthaft zu denken und immer das Bewusstsein zu haben: Wir haben halt jetzt diesen Raum und können das Beste draus machen.
Giuliano: Und Leerstand – Leerstand zerfällt. Sobald Räume nicht benutzt werden, fangen sie an kaputtzugehen. Auch aus einem Nachhaltigkeitsgedanken ist Neubau die schlechteste Option. Als wir hier reingekommen sind, war das Gebäude echt in einem schlechten Zustand, eben weil es lange leer stand. Jetzt sind wir hier und das Gebäude in einem deutlich besseren Zustand als vor drei Jahren …

Alle lachen.
Da kommen Erinnerungen hoch …
Valentin: Ja, heute ist es in einem besseren Zustand: trocken!
Giuliano: Genau und darum geht es ja! Hier im Gebäude gibt es immer noch so viele ungenutzte Räume – wenn wir die auch bespielen könnten, dann könnte das Gebäude noch länger überleben. Und das muss doch auch ein Ziel sein der Stadt: Gebäude nicht zerfallen zu lassen, sondern sie zu nutzen.
Cannstatt, wo das PRISMA liegt, ist ja ein Arbeiter*innenviertel mit noch vergleichsweise recht günstigen Mieten. Ist das nicht klassischerweise der erste Schritt hin zu Gentrifizierung: Ein Arbeiter*innenviertel wird durch Subkultur hip, dadurch dann interessant für Investor*innen und ein paar Jahre später können sich die Leute die Miete dann nicht mehr leisten?
Giuliano: Tatsächlich finde ich das ein super spannendes Thema. Wir sprechen viel darüber, wie wir Teil von Gentrifizierung sind. Gleichzeitig: Würde das Haus abgerissen werden und noch ein neues Haus hingebaut werden, was die Stadt ja ab 2030 hier mit dem ganzen Straßeneck plant – das wäre pure Gentrifizierung. Und wir machen stattdessen eben Stadtteilarbeit, die ohne uns so nicht stattfinden würde.
Mal rausgezoomt: Giuliano, du meintest ja, dass jeder Stadtteil so ein selbstverwaltetes Stadtteilzentrum bräuchte wie das PRISMA. Welche Prioritäten müsste die Kommunalpolitik anders setzen, um solche Entwicklungen zu ermöglichen? Was müsste sich grundlegend strukturell ändern, um solche Orte und die Beteiligung, die dadurch entsteht, zu ermöglichen?
Surja: Die Stadt müsste leerstehende Räume unbürokratisch und wirklich kostenlos für Gruppen und Initiativen zur Verfügung stellen, denke ich.
Giuliano: Ja, und dafür bräuchte es Vertrauen in die eigene Stadtgesellschaft. Beim PRISMA hat das ja offensichtlich geklappt. Und das würde ja nicht nur hier passieren. Ich glaube, wenn man Leuten sagt: Hey, hier habt ihr Möglichkeiten, also einen Raum und ein bisschen Geld, dann würde noch viel mehr Schönes an vielen Orten entstehen.
Dieses Interview ist zuerst in der Rubrik LAND IN SICHT in der Ausgabe 02/2025 CHAOS erschienen. Die ganze Ausgabe CHAOS mit allen Artikeln gibt es in unserem Shop.
Dieser Artikel ist von
Lucia Parbel hat Agrarwissenschaften studiert und ihren Bachelor mit einer Arbeit über Geschlechterverhältnisse und Queerness in der Landwirtschaft abgeschlossen. Sie interessiert sich für feministische Denk- und Wirtschaftsweisen in Zeiten des drohenden ökologischen Kollaps. Lucia studiert im Master Landschaftsökologie in Stuttgart und wirkt bei agora42 an der Fertigstellung der Hefte mit, betreut den Blog sowie die Website und Social Media.