„Partizipation im Arbeitsleben ist die Ausnahme, dabei sollte sie die Regel sein.“ | Interview mit Rupay Dahm

Ein BesprechungsraumFoto: Kyle Nieber | unsplash

 

„Partizipation im Arbeitsleben ist die Ausnahme, dabei sollte sie die Regel sein.“

Interview mit Rupay Dahm | veröffentlicht am 14.08.2024

Rupay Dahm berät als Rechtsanwalt Kollektivbetriebe und Genossenschaften und vertritt Arbeitnehmer*innen und Betriebsräte. 2020 gründete er gemeinsam mit anderen die Reinigungskooperative Berlin, ein Reinigungsunternehmen ohne Chef*in. Mit seinem Wissen und seinen Erfahrungen hat er ein Handbuch für Gründer*innen und Interessierte verfasst, das Schritt für Schritt durch die Herausforderungen eines demokratisch selbstorganisierten Betriebes führt. Das Buchprojekt befindet sich gerade in der Crowd-Funding-Phase.

agora42-Redakteur Georg Spoo hat mit Rupay Dahm über Chancen und Herausforderungen selbstbestimmter und selbstorganisierter Betriebe gesprochen.


Lieber Rupay, Dein Buch widmet sich selbstbestimmtem und selbstorganisiertem Arbeiten in demokratischen Unternehmen. Warum sollten Unternehmen demokratisch organisiert sein? Reicht es nicht, dass das politische Gemeinwesen demokratisch organisiert ist? Die Politik kann für die Wirtschaft doch Leitplanken und Regeln formulieren?

Ich bin ein großer Fan von Demokratie und Mitsprache. Niemand mag es, wenn andere über seinen oder ihren Kopf hinweg wichtige Entscheidungen fällen. Alle finden es gut, nach ihrer Meinung gefragt zu werden, wenn es ernst gemeint ist und nicht ständig passiert wie nach jedem Onlinekauf. Ich bin heilfroh, dass wir alle vier Jahre die Regierung abwählen können, aber das reicht nicht. Es würde auch nicht helfen, das häufiger zu tun, denn das Kreuz auf dem Wahlzettel ist viel zu unscharf und führt zu keiner Mitsprache im Alltag. Zum Beispiel konnten Menschen in Ostdeutschland nach der Wende zwar die Bundesregierung mitwählen. Bei den vielen Massenentlassungen und Betriebsschließungen hatten sie jedoch keinerlei Mitsprache, dabei wäre das bitter nötig gewesen. Unternehmen mit professionellem „Change Management“ achten darauf, die Belegschaft bei großen Veränderungen partizipativ einzubinden, sonst scheitert jede Veränderung am stillen Widerstand. Partizipation im Arbeitsleben ist aber die Ausnahme, dabei sollte sie die Regel sein. Entscheidungen im Betrieb haben viel direktere Auswirkungen auf unsere Lebensqualität als die meisten Bundestagsbeschlüsse. Als Arbeitsrechtsanwalt habe ich zum Beispiel Mandant*innen, die Teilzeit arbeiten wollen um Angehörige zu pflegen und die Chef*innen sagen einfach: „Nein, das hier ist ein Schichtbetrieb und kein Wohlfahrtsverein.“ Auch Betriebsräte kann man nur alle vier Jahre wählen und sie gewähren keine Mitbestimmung im betrieblichen Alltag. Dabei sollte das ein Grundrecht sein. Dafür braucht man wiederum eine gute Politik.

 

Wie weit kann und soll Demokratisierung und Mitbestimmung in Betrieben gehen? Wenn man etwa an betriebsinterne Arbeitsabläufe, aber auch betriebsübergreifende Produktionsketten in einer arbeitsteiligen Gesellschaft denkt: Welche Grenzen von Demokratisierung und Mitbestimmung gibt es und wie geht man mit diesen Grenzen um?

In Spanien ist der siebtgrößte Arbeitgeber ein Verbund von Mitarbeitergenossenschaften. Dabei handelte es sich um klassische  Industriebetriebe, wie Automobilzulieferer, aber auch um die Supermarktkette Eroski. Das zeigt, dass mitarbeitergeführte Unternehmen auch in global verflochtenen Produktionsketten möglich sind. In Deutschland werden Stahlbetriebe nach dem Montanmitbestimmungsgesetz paritätisch geführt. Auch das hat ihnen nicht geschadet, sondern durch viele Krisen geholfen. Auch Konzerne können und sollten demokratisiert werden. Allerdings sind die Möglichkeiten direkter Demokratie in Großbetrieben begrenzt. Es können nicht alle über alles mitentscheiden. Stattdessen sind demokratische Cluster nötig, also dezentrale Arbeitskreise wie in der Soziokratie. Beim größten niederländischen Anbieter häuslicher Pflege, Buurtzorg, bilden sich regionale Teams von ca. zehn Personen, die untereinander die Aufgaben selbst organisieren. Die Schwierigkeit liegt darin, eine Brücke zu schaffen zwischen repräsentativer Demokratie auf Führungsebene (wie in der Montanmitbestimmung) und der Mitbestimmung im Alltag zum Beispiel auf Teamebene. Vom Hersteller von Goretex wird berichtet, dass sich alle Mitarbeiter*innen ihre eigenen Aufgaben und Projekte suchen können. Das ist ein Beispiel radikaler Partizipation in einem globalen Konzern, noch dazu in der hart umkämpften Textilbranche. Vermutlich bedarf das aber einer ausgeklügelten Koordination und einer unterstützenden Personalbegleitung.

 

Wie verhindert man, dass Mitbestimmung gewissermaßen ‚gekapert‘ und als Legitimationsbeschaffer ausgenutzt wird, ohne damit tiefergehende Veränderungen zugunsten der Belegschaft anzustoßen? Wie verändern Demokratisierung und Mitbestimmungen einen Betrieb oder ein Unternehmen im Sinne der Belegschaft als Ganzes? Gibt es Beispiele dafür?

Tatsächlich kritisieren Gewerkschaften zu Recht Formen der Mitarbeiterkapitalbeteiligung, bei der Unternehmen ihren Angestellten einen Teil des Lohns als Anteile auszahlen. Dann droht im Falle der Krise nicht nur der Verlust des Arbeitsplatzes sondern auch der ersparten Anteile. In solchen Modellen erhält die Belegschaft nie die Hälfte der Anteile, bleibt also immer in der Minderheit. Die Mitarbeiter*innen tragen also unternehmerisches Risiko ohne mitentscheiden zu können. Das soll sie zu höheren Leistungen im Interesse der Mehrheitsinhaber*innen anspornen. Anders in belegschaftseigenen Unternehmen. Auch hier droht im Falle einer Insolvenz zwar der Verlust der Anteile. Aber die Belegschaft kann über alles mitentscheiden, schuftet nicht für den Profit anderer und kann auch kollektiv entscheiden, einen Gang runter zu schalten. Im mitarbeitergeführten Krankenhaus Spremberg entschied sich die Belegschaft zum Beispiel, mehr Personal einzustellen und dafür etwas weniger zu verdienen.

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Bisweilen wird kritisiert, dass Betriebsräte in ein rein arbeitgeberfreundliches Co-Management abgleiten. Warum liegt die Lösung nicht genau darin, dass der Betriebsrat weitaus mehr Mitbestimmungsrechte und Managementaufgaben bekäme? 

Aufgabe des Betriebsrats ist es, als Gegenspieler der Geschäftsführung aufs Wohl der Mitarbeitenden zu achten, deren Forderungen zu artikulieren und über die Einhaltung von Arbeitnehmerrechten zu achten. Wenn der Betriebsrat Teil der Geschäftsführung wird, gibt es keinen Betriebsrat mehr, der die Perspektive der Belegschaft einnimmt. Tatsächlich kann auch in einer belegschaftseigenen Genossenschaft ein Betriebsrat sinnvoll sein, der das Wohlbefinden der Arbeitenden im Blick behält, während die Geschäftsführung sich um die Zahlen kümmert (siehe Gastbeitrag von Rupay Dahm). Co-Management ist mit dem Problem verbunden, dass die gewählten Arbeitnehmervertreter*innen sich mit der Zeit von der Basis entfernen. Das lässt sich nicht völlig verhindern. Deswegen muss repräsentative Demokratie, wie jene der Montanmitbestimmung, nach dem Mitbestimmungs-, VW-Gesetz oder von Betriebsräten, durch direkte Selbstorganisation auf Teamebene und eine Repolitisierung der Vollversammlungen ergänzt werden. Auch hier kommt es darauf an, wem das Unternehmen gehört. Haben die gewählten Vertreter*innen zunehmend den wirtschaftlichen Erfolg im Blick, dient das im belegschaftseigenen Betrieb immer noch den Mitarbeitenden, nicht irgendwelchen Shareholder*innen. Anders ist es in scheindemokratischen Start-ups, die behaupten, ohne Chef*innen zu arbeiten.
Eine genossenschaftliche Eigentumsverteilung bewirkt, dass Unternehmen eher auf Stabilität setzen, als auf ständiges Wachstum. Das sieht man etwa bei den genossenschaftlichen Volksbanken oder dem von Ecosia verkörperten „gebundenen Vermögen“. In allen genannten Fällen kommt es also darauf an, dass das Eigentum am Betrieb, also die Anteile, demokratisiert ist.

 

Wie verändert die Möglichkeit der Mitbestimmung und Demokratisierung ganz konkret die individuelle Erfahrung und den Stellenwert von Arbeit im Alltag? Wird Arbeit weniger entfremdet und weniger als bloßes Mittel zum Zweck wahrgenommen? Werden der Zusammenhalt und die Verbindung innerhalb der Belegschaft gestärkt?

In der von mir mitgegründeten Reinigungskooperative konnte ich beobachten, wie Menschen, die ganz unten auf der gesellschaftlichen Hierarchie mit Reinigungsarbeit anfingen, ihren Lebensunterhalt zu erkämpfen, von eingeschüchterten Menschen zu selbstbewussten, humorvollen Personen aufblühten, die ihre Rechte einfordern. Das lag daran, dass sie gemerkt haben, dass wir eine solidarische Gemeinschaft sind, die es ernst meint mit der Mitbestimmung auf Augenhöhe und man auch nicht gleich verstoßen wird, wenn man Fehler macht. Fehler müssen besprochen und korrigiert werden. Das funktioniert am besten, wenn niemand dabei runtergemacht wird. Als ich anfing, mein Buch zu schreiben, lag mein Fokus auf Rechtsformen und Entscheidungsverfahren. Mit den Jahren wurde mir immer klarer, dass eine gute Wertschätzungs- und Fehlerkultur viel wichtiger ist. Das stellt nun einen zentralen Teil des Buches dar.

 

Wird Mitbestimmung manchmal vielleicht auch als anstrengend, konflikthaft oder ablenkend empfunden?

Mitbestimmung ist auf jeden Fall konflikthaft und anstrengend. Aber auch in strikt hierarchischen Unternehmen gibt es anstrengende Prozesse, Machtkämpfe oder Intrigen. Vielleicht sogar mehr als in selbstorganisierten Betrieben, aber dafür verdeckter? Leider gibt es kaum arbeitspsychologische Untersuchungen von belegschaftseigenen Betrieben. Mich würde es brennend interessieren, was dabei herauskäme. Mein Eindruck ist, das in hierarchischen Chefbetrieben mehr unter der Hand gemeckert wird, weil die Angestellten ja gar nicht die Möglichkeit haben, ihre Ideen und Bedenken konstruktiv einzubringen. Aber genauso kommt es vor, das selbstorganisierte Projekte sich zerstreiten. Ich vermutet, das liegt an zu hohen Erwartungen. Klar ist, dass Demokratie und Selbstorganisation eine offene, vertrauensvolle und wertschätzende, aber auch ehrliche Kommunikation erfordern. Das schreckt manche Menschen ab, genauso wie die unternehmerische Mitverantwortung. Ich sehe die Aufgabe darin, demokratische Mitbestimmung niedrigschwelliger zu gestalten, indem alle sich nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten einbringen, aber keiner muss. Auch darin geht es in meinem Buch. Bernd Oestereich nennt das übrigens Pullprinzip: Alle ziehen sich die Verantwortungsbereiche zu, auf die sie Lust haben.

Vielen Dank für das Interview!

Rupay Dahm
Rupay Dahm hat Politik und Jura studiert. Er forscht und schreibt über Wirtschaftsdemokratie, berät Kollektivbetriebe und Genossenschaften im Gründungsprozess, bei der Rechtsformgestaltung und Organisationsentwicklung und vertritt Arbeitnehmer*innen und Betriebsräte als Fachanwalt für Arbeitsrecht. Mehr dazu: kollektivberatung.de
Zum Buchprojekt: Selbstbestimmt arbeiten, Betriebe demokratisieren (oekom crowd)
Buchcover von Dahm: Selbstbestimmt arbeiten

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