Immer der Muschel nach – Ein Gespräch mit der Pilgerin Andrea Löffler

Immer der Muschel nach

Text und Fotos: Andrea S. Klahre

Was will der Mensch auf dem Jakobsweg, der nicht nur aus der historischen Route besteht – dem Camino de Santiago zur Grabstätte des Heiligen Jakobus in Santiago de Compostela –, sondern der ein in Europa kaum überschaubares Wegenetz ist. Viele, auch konfessionslose Pilger, die spätestens nach Hape Kerkeling zunächst durch Spanien gegangen sind, waren überrascht, als sie die blau-gelben Jakobsmuschel-Wegweiser in Deutschland entdeckten. Oder in Frankreich, Portugal, Norwegen, der Schweiz. Unterwegs sein auf kultur- und geschichtsträchtigen Strecken ist eine Herausforderung, intensive Natur- und Selbsterfahrung eine andere. Jeder Pilger hat eine eigene Geschichte zu erzählen, am Ende eint wohl alle, dass es innere Wege sind: Gedanken, Gefühle, (Selbst-)Gespräche ermöglichen einen (neuen) Zugang zu Lebensthemen. Andrea Löffler ist 2018 den Münchner Jakobsweg gegangen: 300 Kilometer in 15 Tagen und 13 Etappen á 18 bis 26 Kilometer, vom Angerkloster am Jakobsplatz in München nach Lindau am Bodensee. Übernachtet hat sie in Pilgerherbergen, einem Kloster, der Sakristei einer Kirche, bei einer 90-jährigen Dame, die seit 60 Jahren ihr Haus für Pilger öffnet, und zweimal in einem Luxushotel. Bis auf zwei Etappen war sie allein unterwegs. Immer der Muschel nach – Ein Gespräch mit der Pilgerin Andrea Löffler weiterlesen

Über Zeitwohlstand und kluge Lust

Über Zeitwohlstand und kluge Lust

von Andrea S. Klahre

Entschleunigen. Fritz Reheis hat das Thema zu einer Zeit aufgegriffen, als dieses Wort noch kaum bekannt war. Heute steht es im Duden. Sein Buch Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung, das rund 50.000 Mal verkauft wurde, hat ganz sicher dazu beigetragen. Der Soziologe und Erziehungswissenschaftler über Mut zu Utopien, einen Lebensstil mit richtig verstandener Langsamkeit und “kluge Lust”, eine neue Form des Genießens.

Nachgefragt bei Fritz Reheis

Lieber Professor Reheis, bereits 1996 haben Sie eines der ersten wissenschaftlichen Bücher über die Notwendigkeit zum Entschleunigen geschrieben. Es ist in mehreren Auflagen erschienen und gilt als Klassiker. Seinerzeit haben Sie Mut zur Utopie bewiesen. Was ist aus den Utopien geworden?

Mit Entschleunigungsangeboten lässt sich offenbar viel Geld verdienen. Entschleunigung wird heute mit allem Möglichen verbunden: mit Ratgebern für Zeitmanagement und Work Life Balance, als Lockmittel beim Verkauf von Polstermöbeln, Wellnesswochen und Urlaubsregionen. Leider dient sie dabei meist dazu, die Menschen möglichst schnell wieder fit zu machen für die nächste Runde – für noch effizienteres Beschleunigen. Über Zeitwohlstand und kluge Lust weiterlesen

Man muss Arbeit und Muße wieder zusammen denken

Man muss Arbeit und Muße wieder zusammen denken

Text von Andrea S. Klahre

Es gibt Worte, die aus einer fernen Zeit ins Heute sprechen. Muße ist so ein Wort, ein kurzes mit einer längeren Ausdehnung. Was erschließt sich, wenn man über seinen Klang und seine Bedeutungen nachdenkt – oder gar über sein Verschwinden? “Verschwindet Muße, stirbt mit dem Wort eine ganze Welt”, meint der Philosoph Holger Zaborowski und hat mit Gleichgesinnten die Gegenpole Absichtslosigkeit und Arbeit in der neuen Kategorie Arbeit 5.0 zusammengeführt.

Nachgefragt bei Holger Zaborowski

Lieber Professor Zaborowski, 2018 stand der Kultursommer Rheinland-Pfalz unter dem Motto “Industrie-Kultur”. Zu diesem Anlass haben Sie mit Ihrem Kollegen Martin W. Ramb den Sammelband Arbeit 5.0 oder: Warum ohne Muße alles nichts ist herausgegeben. Warum dieser Anlass?

Holger Zaborowski
Holger Zaborowski ist Professor für Geschichte der Philosophie und philosophische Ethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar und seit 2017 Rektor der Hochschule. Er schreibt unter anderem über Fragen des Mensch(lich)seins und hat anlässlich der Europawahl in dem Sammelband Heimat Europa? darüber nachgedacht, ob und wie Europa Heimat sein kann und soll. Foto: Matthias Cameran

Das Motto „Industrie-Kultur“ beinhaltet eine Spannung. Industrie kommt vom lateinischen “industria”, dem Wort für Arbeit, Betriebsamkeit oder Fleiß. Zu einer Kultur gehört wiederum nicht nur die Arbeit, das herstellende Handeln, das immer für etwas gut sein muss, sondern auch die Muße als mächtiger Gegenpol, die ihren Zweck ausschließlich in sich selbst findet. Das wird heute oft vergessen. Daher wollten wir daran erinnern, dass man Arbeit und Muße wieder zusammen denken muss.

Arbeit ist nur menschlich, wenn sie in Mußezeiten eingebunden ist. Weil man die digitale Arbeitswelt als Industrie 4.0 oder Arbeit 4.0 bezeichnet, wollten wir mit “Arbeit 5.0” darüber hinausgehen und die Vision einer neuen Integration von Arbeit und Muße entwickeln. Hierbei bedeuten Mußestunden nicht einfach Nichtstun; sie können sehr aktiv sein – und anstrengend. Denken Sie an jemanden, der musiziert, kocht, liest, seinen Garten pflegt oder wandert. Man muss Arbeit und Muße wieder zusammen denken weiterlesen

„Zeit ist die Dimension des Lebendigen“ – Der Verein zur Verzögerung der Zeit

„Zeit ist die Dimension des Lebendigen“

Im Gespräch mit Martin Liebmann vom Verein zur Verzögerung der Zeit

Text und Fotos: Andrea S. Klahre

Verein zur Verzögerung der Zeit. Wer das liest, hat eine Frage. Die Autorin hatte im Frühling 1993 gleich mehrere; sie reiste nach Klagenfurt, verbrachte einen halben Tag mit dem Gründer – und brauchte einige Jahre, bis die Zeit reif war für das Thema. Nun bereitete sich Professor Dr. Peter Heintel darauf vor, aus der Zeit zu gehen. Das Gespräch mit Martin Liebmann ist gleichsam  Erinnerung an einen „untypischen Wissenschaftler, reflektiert wie kaum jemand.“ (Liebmann)

 

Herr Liebmann, „Leben und Soziales bewegt sich in eigenzeitlichen Rhythmen, die man nicht beliebig verändern, beschleunigen, verkürzen kann“, hat Peter Heintel gesagt. Somit auch nicht verzögern.

Liebmann: Nein, natürlich nicht. Hinter dem leicht ironischen, sperrig-verdrehten Titel des Vereins steht die Idee, wie Eigensinniges im globalisierten Einerlei überhaupt noch Platz haben kann. Zeit lässt sich anders bestimmen, wenn man als wenig produktiv und passiv empfundene Un-Tätigkeiten berücksichtigt: Nachdenken, Selbstreflexion, Müßiggang, Tagträumen … Wir können unser Leben etwas langsamer und bewusster wahrnehmen oder dem Temporausch einfach etwas entgegensetzen. Das scheint schwierig zu sein, weil Geschwindigkeit so normal ist. Innerhalb der Zeitordnung gibt es aber hohe Freitheitsgrade individueller Gestaltbarkeit. „Zeit ist die Dimension des Lebendigen“ – Der Verein zur Verzögerung der Zeit weiterlesen

Der Reiz des eigenen Tempos – Langsamkeit wagen

Der Reiz des eigenen Tempos

von Andrea S. Klahre

Die Gesellschaft von morgen ist bereits chronisch krank, bevor sie überhaupt erwachsen werden kann: dünne Haut, Risse in der Seele, überreagierende Atem- und Verdauungswege. Und sonst so? Die Welt ist ein härter werdender Ort. Eine Beschreibung der Befindlichkeiten kommt nicht mehr ohne immer schrillere Begrifflichkeiten aus.

Hyperaktivität ist ein solches Wort, Optimierungszwang ein anderes. Oder Augenblicksgier. Die Angst etwas zu verpassen, FOMO (Fear of Missing out) soll die erste „Social-Media-Krankheit“ sein, mit Symptomen wie: ständig online, dauernd im Austausch. Und natürlich: machen machen machen. Es ist ein Hetzen und Treiben, im Job, auf den Straßen, selbst im Wochenendkurzurlaub. Und sowieso in Großstädten. Wo sich gefühlt alles pausenlos rasanter dreht, sieht sich das äußere Zwecke erfüllende Ich – das (sich) produzierende und konsumierende Ich – permanent erpresst, die Geschwindigkeit anzupassen.

Dieses noch junge Jahrhundert mit aller Mobilität, Flexibilität, Konnektivität hat generationenunabhängig schon eine Mehrheit sehr leidensfähig gemacht; sie hat gelernt, sich in überhitzte Leistungssysteme einzufügen, die von anderen für sie definiert werden. Sicher, Arbeit ist aus vielerlei Gründen das Salz in der Lebenssuppe. Doch vor lauter Abstrampelei wird ganz vergessen, dass es kein Maßstab für Gesundheit ist, sich gut an eine kranke Umwelt anzupassen. Der Reiz des eigenen Tempos – Langsamkeit wagen weiterlesen

agora42-Blogserie zum Thema Langsamkeit

agora42-Blogserie zum Thema Langsamkeit

Der Einzelne wähnt sich so fest im Geschwindigkeitsgriff, dass er Selbstausbeutung mit Selbstbestimmtheit verwechselt und übersieht, dass Gesundheit und Glück auch daraus erwachsen, Raum und Zeit für Besinnung, Wertebildung oder echtes Miteinander zu finden.  Wir eröffnen deshalb eine Online-Kolumne, die in den kommenden Monaten den einen oder anderen Besucher unserer Website zum Widerstand gegen die Kultur der Eile inspirieren möchte:

Andrea S. Klahre hat auf der Suche nach Visionären Künstler, Wissenschaftler und Querdenker gefunden, die Impulse geben, Richtungen weisen, in jedem Fall bereichern, bestenfalls erfreuen. Freuen Sie sich unter anderem auf: agora42-Blogserie zum Thema Langsamkeit weiterlesen