Man muss Arbeit und Muße wieder zusammen denken

Man muss Arbeit und Muße wieder zusammen denken

Text von Andrea S. Klahre

Es gibt Worte, die aus einer fernen Zeit ins Heute sprechen. Muße ist so ein Wort, ein kurzes mit einer längeren Ausdehnung. Was erschließt sich, wenn man über seinen Klang und seine Bedeutungen nachdenkt – oder gar über sein Verschwinden? “Verschwindet Muße, stirbt mit dem Wort eine ganze Welt”, meint der Philosoph Holger Zaborowski und hat mit Gleichgesinnten die Gegenpole Absichtslosigkeit und Arbeit in der neuen Kategorie Arbeit 5.0 zusammengeführt.

Nachgefragt bei Holger Zaborowski

Lieber Professor Zaborowski, 2018 stand der Kultursommer Rheinland-Pfalz unter dem Motto “Industrie-Kultur”. Zu diesem Anlass haben Sie mit Ihrem Kollegen Martin W. Ramb den Sammelband Arbeit 5.0 oder: Warum ohne Muße alles nichts ist herausgegeben. Warum dieser Anlass?

Holger Zaborowski
Holger Zaborowski ist Professor für Geschichte der Philosophie und philosophische Ethik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar und seit 2017 Rektor der Hochschule. Er schreibt unter anderem über Fragen des Mensch(lich)seins und hat anlässlich der Europawahl in dem Sammelband Heimat Europa? darüber nachgedacht, ob und wie Europa Heimat sein kann und soll. Foto: Matthias Cameran

Das Motto „Industrie-Kultur“ beinhaltet eine Spannung. Industrie kommt vom lateinischen “industria”, dem Wort für Arbeit, Betriebsamkeit oder Fleiß. Zu einer Kultur gehört wiederum nicht nur die Arbeit, das herstellende Handeln, das immer für etwas gut sein muss, sondern auch die Muße als mächtiger Gegenpol, die ihren Zweck ausschließlich in sich selbst findet. Das wird heute oft vergessen. Daher wollten wir daran erinnern, dass man Arbeit und Muße wieder zusammen denken muss.

Arbeit ist nur menschlich, wenn sie in Mußezeiten eingebunden ist. Weil man die digitale Arbeitswelt als Industrie 4.0 oder Arbeit 4.0 bezeichnet, wollten wir mit “Arbeit 5.0” darüber hinausgehen und die Vision einer neuen Integration von Arbeit und Muße entwickeln. Hierbei bedeuten Mußestunden nicht einfach Nichtstun; sie können sehr aktiv sein – und anstrengend. Denken Sie an jemanden, der musiziert, kocht, liest, seinen Garten pflegt oder wandert.

 

Passt Arbeit 5.0 dann nicht zur Idee des Europäischen Gerichtshofs, die Arbeitszeit in Deutschland besser zu erfassen, oder ist die wirklich “wie aus der Zeit gefallen”, wie nicht wenige Arbeitgeber und Verbände kritisieren?

Wenn man sieht, wie sehr Freizeit und Arbeitszeit sich mittlerweile durchdringen, wirkt sie tatsächlich wie aus der Zeit gefallen. Doch hat das, was altertümlich wirkt, oft eine Aufgabe. So kann die Verpflichtung daran erinnern, wie wichtig ein gesundes Verhältnis zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit ist, und welche Bedeutung es hat, die Arbeitszeit zu begrenzen: Eine solche Grenze schützt uns vor Arbeitssucht, vor der Instrumentalisierung des Menschen. Eine bloße Erinnerung daran scheint nicht ausreichend zu sein.

In Ihrem eigenen Beitrag zum Buch stellen Sie unter dem Titel “Die Menschlichkeit der Muße” den Begriff in verschiedene Kontexte. Sie verbinden die Unfähigkeit zum beziehungsweise den Mangel an Müßiggang mit Orientierungslosigkeit und Sinnverlust. Welche Orientierungen und welchen Sinn meinen Sie?

Was geschieht eigentlich in den Zeiten der Muße? Wir kommen nicht einfach nur zur Ruhe und sind von Arbeit frei. Das ist die Logik der „Freizeit“, in der wir uns von der Arbeit und im Hinblick auf die nächste produktive Tätigkeit erholen können. Im Denken der Antike findet sich ein anderer Zusammenhang: Arbeit wurde als Negation der Muße verstanden und nicht umgekehrt die Muße als von der Arbeit freie Zeit. Muße hatte eine hochgeschätzte, schöpferische Bedeutung, und Arbeit diente ihr.

Dies hat sich heute weitestgehend umgekehrt. Wir haben uns daran gewöhnt, mehr noch: Allem wird mittlerweile der Stempel der Arbeit aufgedrückt und muss etwas “bringen”. Selbst in der Freizeit müssen wir Ziele erreichen. Sogar Beziehungsarbeit gibt es. Effizientes Tun folgt dem Diktat einer nie endenden Steigerung. Der jeweilige Ort wird dann zum Durchgang: Der Mensch lebt in einer existenziellen Transitzone.

Aufgrund solcher Vorherrschaft gehen jene Zeiten verloren, in denen wir etwas um seiner selbst willen tun:  ein Buch lesen – um des Lesens willen; spazieren gehen – um des Spaziergangs willen; sich unterhalten oder Freunde treffen – um der Unterhaltung oder des Miteinanders willen. In solchen Tätigkeiten zeigt sich in besonderer Weise, wer der Mensch ist. Dies ist nicht zuletzt so, weil er darin Sinn und Orientierung erfahren kann.

Ohne Muße hetzen wir von einem Ziel zum anderen, immer atemloser und schließlich immer verzweifelter. Vielleicht sind Zeiten, die als wertvoll wahrgenommen werden, das beste Mittel gegen das Ausbrennen: gegen die Erfahrung jener Sinnlosigkeit, die einen treffen kann, wenn alle Ziele, um die man sich bemüht, sich als fragwürdig oder leer erweisen.

”Vielleicht benötigt man daher heute nichts so sehr, wie das, was das alte Wort ‚Muße‘ anzeigt: den Widerstand zum Einerlei der Arbeit, die Befreiung von Zwängen, die lange schon den Schein der Normalität angenommen haben, die Feier des Lebens.”

Holger Zaborowski

Wer wenig hyperaktiv und selbstoptimierend unterwegs ist, dem braucht das “in diesen Zeiten” also nicht peinlich zu sein?

Es gibt heute tatsächlich einen großen Druck, aktiv zu sein und dabei etwas zu produzieren – eben auch ein optimiertes Selbst. Wir fragen daher immer häufiger: „Was bringt mir das?“ Alles, was zunächst einmal nichts zu bringen scheint, rückt in den Hintergrund. Man bewegt sich dann nicht mehr aus der Freude an der Bewegung, sondern um Kalorien zu verbrauchen. Doch damit geht ein zentraler Aspekt der Menschlichkeit verloren.

Wir müssen nicht immer nur funktionieren, sondern dürfen auch Zeit haben, in der es um nichts geht. Das ist eigentlich ein befreiender Gedanke. Daher ist es genau umgekehrt: Wer nur hyperaktiv und selbstoptimierend unterwegs ist, dem sollte es peinlich sein – weil er sich funktionalisiert. Im Grunde richtet sich dieses Verständnis des Lebens gegen die Würde des Menschen. Kant formulierte den Gedanken, dass der Mensch nie nur Mittel sein dürfe, sondern immer auch als Zweck an sich selbst betrachtet werden müsse.

Somit ist Muße auch Haltung – eine “würdevolle Selbstbezogenheit”, wie Sie schreiben? Das kann anstrengend sein für jene, die sich mit dem Loslassen schwertun. Von Nietzsche stammt das Zitat: “Ja, es könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange zur Vita Contemplativa (das heißt, zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe”.

Nietzsche hat das richtig gesehen, wie so vieles. Ihm war bewusst, dass wir immer mehr verzwecken – auch unser eigenes Leben. Er wusste um die Macht und die Gefahren einer ausschließlich instrumentalistischen Rationalität. Insofern ja: Muße setzt auch eine Haltung, eine Einübung voraus. Daher wäre es äußerst wichtig, wenn Kinder schon früh Muße erfahren. Eigentlich muss man sie das gar nicht lehren, im selbstvergessenen Spiel sind sie immer schon Meister der Muße. Nur darf man ihnen diese Fähigkeit zum Verweilen im Augenblick nicht austreiben. Die heutige Schule hat leider nur noch wenig mit “schole” zu tun, dem altgriechischen Wort für Muße. Wir bräuchten dort und anderswo viel mehr Freiräume. Zeiten der Muße sind ein Geschenk für wichtige Erfahrungen, die man nicht einfach “machen” kann.

Ein Beispiel?

Echte Muße stellt den Menschen mit allem, was ihm gewiss ist, in Frage. Müßiggang ist jenes Handeln, das es ihm erlaubt, sich und sein Leben stets neu auszurichten. Kein Mensch möchte immer nur etwas bewirken müssen. In Stunden der Muße können wir zu uns kommen. Glück spielt sich uns zu, ohne dass wir es planen oder sogar vorhersehen könnten.

Schön finde ich den Gedanken von der Muße als “Feier des Lebens”. Inwiefern sind Mußestunden Feierstunden?

Insofern als in Zeiten der Muße das Leben gefeiert wird. Der primäre Zweck liegt in der Feier an sich, andernfalls verliert sie ihren Charakter, sie fühlt sich dann wie Arbeit an. Denken Sie an ein Betriebsfest, das unbedingt den Zusammenhalt der Belegschaft stärken soll. Doch leider neigen wir dazu, alles zu funktionalisieren – auch das Nicht-Funktionalisierbare wie eben Mußezeiten, in denen der Mensch spielt und nichts erreichen will oder muss.

WAS MACHT MAN, WENN MAN NICHT ARBEITET?

Und: „Wozu eigentlich arbeiten?“ Diesen und weiteren Aspekten sind Holger Zaborowski und Martin W. Ramb, Beauftragter des Bistums Limburg, für den Kultursommer Rheinland-Pfalz in dem Sammelband Arbeit 5.0 oder: Warum ohne Muße alles nichts ist nachgegangen. Im Vordergrund stehen zentrale Fragen der gegenwärtigen Gesellschaft in der sich gewaltig transformierenden Arbeitswelt. Politik und Wirtschaft haben die Aufgabe, darüber neu nachzudenken – und, wenn man sich traut, einen unmodern gewordenen Begriff zu beleben: die Muße. In 26 Buchbeiträgen, unter anderem von Hartmut Rosa und Corinne Michaela Flick, wird dargelegt, was unter Muße zu verstehen ist und wie die Arbeitswelt – gerade mal bei 4.0 angekommen – auf diese Haltung angewiesen ist. wallstein-verlag.de

Die Blogserie zum Thema Langsamkeit

Mehr Langsamkeit wagen, Lust auf ein selbstbestimmtes (Lebens-)Tempo haben: Die aktuelle Ausgabe eröffnet mit diesem Text über die Entdeckung eigener Geschwindigkeiten eine neue Online-Kolumne, die in den kommenden Monaten den einen oder anderen zum Widerstand gegen die Kultur der Eile inspirieren möchte.

Andrea S. Klahre lässt Künstler, Wissenschaftler und Querdenker zu Wort kommen, die Impulse geben und in neue Richtungen weisen.

Hier geht’s zur Übersicht.