„We are nature defending itself“
Auf dem Weg zu einem neuen Naturverhältnis
von Christoph Sanders und Martin Krobath
Die Kamera wackelt und zoomt näher an eine erschöpfte junge Frau im Wald. Eine Stimme bittet sie: „Magst du erzählen, was gerade passiert ist?“ Winter, so steht ihr Name unter dem Videoclip, ist offensichtlich gerade von Polizisten aus ihrem Baumhaus im Hambacher Forst geräumt worden. In voller Kampfmontur, die Frau an Körpergröße weit überragend, stehen zwei Polizisten neben ihr. Sehr bewegt und mit großer Bestimmtheit erklärt sie in die Kamera, warum sie sich gegen die Rodung des Waldes einsetzt:
„Und sie denken wahrscheinlich, sie hätten gewonnen, aber sie können nicht gewinnen, weil sie den Wald genauso brauchen […]. Sie werden nie verstehen, wie es ist, mit Menschen zusammenzuleben, denen es scheißegal ist […], was du für’n Schulabschluss hast, dass wir hier versuchen hierarchiefrei zu leben, uns gegenseitig zu respektieren ohne Geld […]. Dass wir jeden Morgen aufgewacht sind und wissen, dass wir am richtigen Ort sind […] und dass das die schönste Zeit meines Lebens war hier und ich so viel gelernt hab’, alles das, was ich draußen in der Gesellschaft nie hätte lernen können; dass ich die ganze Scheiße, die mir die Gesellschaft eingetrichtert hat, erst wieder vergessen muss – mich mit anderen Menschen zu vergleichen oder zu konkurrieren, was angeblich wichtig ist, wie wir aussehen […].“ (https://youtu.be/uYfW2LogrAs)
In diesem Statement wird klar, dass Winter nicht wegen abstrakter Messungen zum Klimawandel einen Baum besetzt hat, sondern dass es ihr vielmehr um die Frage geht, wer wir als Mensch sein wollen und wie wir uns zur Welt und zur Natur in Beziehung setzen. Damit wird ein Aspekt sichtbar, der bislang in der Diskussion um Klima und Natur wenig präsent ist: Wie wir mit Natur umgehen, hat direkt etwas mit uns selbst zu tun, mit unserem Bild von der Welt und unserem zwischenmenschlichen Umgang.
Das Andere muss kontrolliert werden
Aber was beschreibt denn der Begriff „Natur“ eigentlich? Für moderne Menschen ist Natur in der Regel das Andere; all das, was nicht Mensch ist und was nicht so weit mit menschlichen Techniken bearbeitet und so verformt wurde, dass es Kultur oder Maschine geworden ist. Natur ist auch ein Sehnsuchtsort der vermeintlichen Gesundheit und Balance. Diese romantische Vorstellung wurde als Gegenentwurf erst durch die Konstruktion von Natur als dem bedrohlichen Anderen möglich, das durch Naturkatastrophen und Krankheiten die Menschen bedrohte. Dieses Andere galt und gilt es folglich zu kontrollieren – ab dem Beginn der Moderne mit wissenschaftlich gestützten Techniken. Der Kern des modernen Naturverhältnisses ist folglich Naturbeherrschung. Dieser liegt eine spezifische Wahrnehmung zugrunde: die radikale Trennung von Körper und Geist. Seit der Erkenntnistheorie von René Déscartes, die die neuzeitliche Beziehung zur Welt maßgeblich prägt, spalten wir die Welt ab dem 17. Jahrhundert in eine rationale, geistige, vernünftige Seite und in eine materielle, körperliche, emotionale, natürliche Seite auf.
Der Mensch, in der Moderne meist gedacht als weißer Mann, verfügt demnach über die Fähigkeit zur Selbstreflexion und hat die Möglichkeit, absichtsvoll zu handeln. Die Natur und all jene, die mit ihr assoziiert werden, können das vermeintlich nicht. Ihr Verhalten könne aber vorhergesehen und berechnet werden, da es regelmäßige Naturgesetze gibt. So schwingt sich der Mensch zum Herrscher über die Welt auf. Wie eine Maschine könne sie mithilfe von Bauplänen auseinander und wieder zusammengesetzt werden. Diese Wahrnehmung und die daraus resultierende Weltbeziehung war und ist für privilegierte Menschengruppen mit erheblichen Vorteilen verbunden. Doch die Aufteilung der Welt etabliert Macht- und Ausbeutungsverhältnisse, die mit den großen Krisen unserer Zeit eng verbunden sind.
Ausbeutung basiert auf der Ansicht, dass vermeintlich Wertvolles gefördert werden muss und vermeintlich Wertloses dieser Förderung zu dienen hat. Denker aus dem globalen Süden, feministische Theoretikerinnen und Kritiker kolonialer Kontinuitäten weisen darauf hin, dass in der Moderne globales Zentrum/globaler Norden, Öffentlichkeit, Zivilisation, Vernunft und Männlichkeit als wertvoll gelten, während auf der anderen Seite Kolonien/globaler Süden, Privatheit, Natur, Gefühl und Weiblichkeit wertlos erscheinen. Gleich zu Beginn der europäischen Naturwissenschaften formulierten aufklärerische Denker wie Francis Bacon, dass die Geheimnisse der (als weiblich gedachten) Natur ihrem Schoß vom männlichen Forscher mit Gewalt entrissen werden müssten und sich die Natur zum Untertan gemacht und versklavt werden solle. All diejenigen Menschen, die vermeintlich nicht oder unzureichend in der Lage sind, Natur mittels Wissenschaft und Technik zu kontrollieren, werden als primitiv(er) wahrgenommen. Sie seien, so der verbreitete Diskurs, „unterentwickelt(er)“. Sie werden näher an die Natur herangerückt. Sie werden ausgebeutet und verdrängt – oder können sich bestenfalls „entwickeln“.
Die ökologische Krise ist eine Beziehungskrise
Naturbeherrschung ist auch das Mittel der Wahl zur Bekämpfung des Klimawandels. So beruhen die Strategien zur CO2-Reduktion in erster Linie auf Kontrolle und Management von ökologischen Prozessen. Diese Herangehensweise ist fatal, weil übersehen wird, dass der Klimawandel letztlich ein Resultat radikaler Naturausbeutung ist. Viele Menschen glauben immer noch, dass wir ihn mit denselben Mitteln aufhalten können, die ihn verursacht haben. Es handelt sich beim Klimawandel aber nicht um eine ökologischen Krise, die es zu beherrschen gilt, sondern um eine Beziehungskrise, eine Krise unseres Naturverhältnisses.
Der Klimawandel ist zu einer Quelle fundamentaler Verunsicherung geworden, indem er uns unsere Abhängigkeit von der Natur wieder bewusst macht. Das moderne Versprechen, durch Naturbeherrschung unabhängig und frei zu werden, trägt immer weniger, stattdessen sind unsere Lebensgrundlagen bedroht: So bringen die Klimaveränderungen letztlich auch unsere tiefliegenden Vorstellungen über die Trennung von Mensch und Natur ins Wanken. Diese Verunsicherung zeigt sich auch in der momentanen regressiven kulturellen Bewegung, die durch Rassismus, Sexismus und Nationalismus versucht, die vermeintlich naturnahen Anderen weiter zu unterdrücken und Privilegien für wenige Menschen zu sichern. Wir werden die grassierende Verunsicherung aber nicht dauerhaft durch ein Gefühl der Sicherheit ersetzen können, wenn wir nicht anfangen, konstruktiv mit anderen Welt- und Naturverhältnissen zu experimentieren. Wir brauchen kritische Blicke auf das Selbstverständliche – sei es von außen oder aus dem Repertoire der kulturellen Gegenbewegungen, die es seit der Aufklärung und dem Beginn der Moderne gibt.
Ein neues Beziehungsfundament
Unsere wirtschaftlich geprägte Lebensweise und eigennützigen Naturverhältnisse können sich nur ändern, wenn wir Räume schaffen, die neues Denken fördern und mit gemeinschaftlichen Modellen experimentieren. Solche experimentellen Räume gibt es etwa im Bildungsbereich, in sozialen Bewegungen oder alternativen Lebensgemeinschaften. Derzeit ist der Hambacher Wald ein Ort, der Raum bietet, um einen anderen Umgang mit der Natur zu erproben.
Der Hambacher Wald ist einerseits ein Raum, in dem kritische Blicke auf das Eigene geworfen werden und mit Alternativen experimentiert wird. Andererseits wird aus ihm politischer Druck für andere Naturverhältnisse erzeugt. Solche Orte sind unbequem, weil sie aufzeigen, dass die Ausbeutung all jener, die als „Natur“ gelten, eine Voraussetzung kapitalistischer Wirtschaft ist. Ungemütlich sind sie auch, weil sie dazu anregen, die Selbstverständlichkeiten unserer Lebensweise neu auszuhandeln. Wie wollen wir Energie im Lichte des Klimawandels gewinnen und nutzen, so dass möglichst alle ein gutes Leben haben? Aktuell werden ökologische, feministische, antirassistische und anti-koloniale Engagements immer mehr zusammengedacht. Das ist sinnvoll, denn sie sind die Stimmen jener „strukturellen Anderen“ der Moderne, die unter den Ausbeutungsverhältnissen leiden. „We are nature defending itself“ – ein bekannter Slogan der Klimagerechtigkeitsbewegung – nutzt diese Ineinssetzung von Andersartigkeit und Natur. „Wir sind die Natur, zu der ihr uns gemacht habt“, könnte dieser Slogan auch gedeutet werden, „und wir kämpfen jetzt gemeinsam für unsere Rechte, für unsere Repräsentation, für ein gutes Leben für alle.“
Unsere These ist, dass dies die enorme Anziehungskraft der Bewegung um den Hambacher Wald ausmacht: Hier fühlen sich Menschen selbstwirksam in ihrer Tätigkeit für eine enkeltaugliche Zukunft. Sie fühlen sich mit anderen, der Natur und damit auch mit sich selbst verbunden. Der erste Anreiz, sich im Hambacher Wald zu engagieren, beruht zwar häufig auf Frustration und Wut. Die Motivation zu bleiben beruht aber auf dem, was diese Menschen dort finden: Eine Alternative zu den Unterdrückungsmechanismen dieser Gesellschaft. An Orten wie dem Hambacher Wald entsteht ganz nebenbei, durch ein „Lernen in Bewegungen“, eine andere, bejahende Haltung gegenüber allem Leben. Hier kann ein kognitives, leibliches und emotionales Verhältnis zur Welt entstehen, das gerade dadurch erleichtert wird, dass sich unsere Vorstellungen von uns selbst, von Individualität und der aufgeteilten Welt verflüssigen. Vertrauen, Mitgefühl und Dankbarkeit können uns dabei helfen, dass diese verunsichernden Prozesse nicht in Angst, Hass und Abscheu münden.
Diese positive Haltung gegenüber dem Leben besteht bislang vor allem im eigenen Nahbereich – etwa gegenüber Freunden, der Familie oder Menschen aus demselben Land. Die Wahrnehmung einer wechselseitigen Verbundenheit über jenen Nahbereich hinaus, die die Natur einschließt, wird auch innerhalb des modernen dualistischen Denkens zunehmend wissenschaftlich erforscht und anerkannt. „We are nature defending itself“ schlägt die Brücke von diesem Nahbereich zu allen Lebewesen, ohne jedoch Unterschiede und individuelle Bedürfnisse einzuebnen.
Begegnen statt bezwingen
Es gilt schließlich zu hinterfragen, wie die Machtverhältnisse unserer Gesellschaft unsere Beziehungen beeinflussen. Dafür bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Wie denke und fühle ich? Warum ist das so? Welche verinnerlichten, selbstverständlichen Muster beruhen auf Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnissen? Menschen, die diese Fragen beantworten wollen, bilden oft Netzwerke, die stärkend wirken und die das Experimentieren mit anderen Wahrnehmungen und Beziehungsformen erlauben. Sie können Kraft geben, die eigenen Alltagspraktiken zugunsten eines respektvolleren Naturverhältnisses zu verändern. Es gilt, immer wieder auszuloten, wie alle möglichst frei, gut und selbstbestimmt leben können ohne anderen, einschließlich der Natur, den Raum für ihre Entfaltung und zum Antworten zu nehmen. Nehmen wir diese Herausforderung ernst und öffnen uns ihren emotionalen Implikationen, dann wird uns die Größe der Aufgabe bewusst. Viele Menschen wissen aus eigener Erfahrung: Das ist häufig schmerzhaft, überfordernd und entmutigend. Allein werden wir kaum damit fertig. Wir brauchen Menschen und Strukturen, die uns helfen. Gemeinsam können wir Widersprüche aushalten, kritisch konstruktiv, aber nicht verurteilend sein. Gemeinsam können wir uns mit den Emotionen befassen, die damit verbunden sind, das eigene Naturverhältnis und unsere Lebensweise ernsthaft verändern zu wollen. Dadurch kann Verständnis, Austausch, Wohlwollen, Mitgefühl und Dankbarkeit entstehen, Konturen einer Ethik also. In der Praxis sieht das auch so aus: Im Hambacher Wald wurde nach der Beendigung der Räumung viel darüber diskutiert, wie der Wald wieder zur Ruhe kommen und das von der Polizei entfernte Totholz (unter anderem von Barrikaden) ersetzt werden kann. Es gibt genügend Anlass anzunehmen, dass es nicht nur Opfer von uns fordert, anderen Wesen Entfaltungsraum zu lassen, sondern unser Leben auch bereichern kann.
Deshalb ist der Kampf um den Hambacher Wald nicht nur ein Kampf um die verschiedenen Machtzentren des fossilen Kapitalismus, sondern er ist gleichzeitig viel mehr: Ein Orientierungsrahmen für eine andere Welt. Claims wie „We are nature defending itself“ sind wichtig, weil sie den strukturellen Anderen der Moderne eine Stimme geben und gleichzeitig eine positive Vision der Zukunft einfordern.
Dieser Artikel ist in der agora42 NATUR UND WIRTSCHAFT erschienen. Zu diesem Thema finden Sie in unserem Archiv folgende Ausgaben:
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