Der Reiz des eigenen Tempos
von Andrea S. Klahre
Die Gesellschaft von morgen ist bereits chronisch krank, bevor sie überhaupt erwachsen werden kann: dünne Haut, Risse in der Seele, überreagierende Atem- und Verdauungswege. Und sonst so? Die Welt ist ein härter werdender Ort. Eine Beschreibung der Befindlichkeiten kommt nicht mehr ohne immer schrillere Begrifflichkeiten aus.
Hyperaktivität ist ein solches Wort, Optimierungszwang ein anderes. Oder Augenblicksgier. Die Angst etwas zu verpassen, FOMO (Fear of Missing out) soll die erste „Social-Media-Krankheit“ sein, mit Symptomen wie: ständig online, dauernd im Austausch. Und natürlich: machen machen machen. Es ist ein Hetzen und Treiben, im Job, auf den Straßen, selbst im Wochenendkurzurlaub. Und sowieso in Großstädten. Wo sich gefühlt alles pausenlos rasanter dreht, sieht sich das äußere Zwecke erfüllende Ich – das (sich) produzierende und konsumierende Ich – permanent erpresst, die Geschwindigkeit anzupassen.
Dieses noch junge Jahrhundert mit aller Mobilität, Flexibilität, Konnektivität hat generationenunabhängig schon eine Mehrheit sehr leidensfähig gemacht; sie hat gelernt, sich in überhitzte Leistungssysteme einzufügen, die von anderen für sie definiert werden. Sicher, Arbeit ist aus vielerlei Gründen das Salz in der Lebenssuppe. Doch vor lauter Abstrampelei wird ganz vergessen, dass es kein Maßstab für Gesundheit ist, sich gut an eine kranke Umwelt anzupassen.
Vor lauter Abstrampelei wird ganz vergessen, dass es kein Maßstab für Gesundheit ist, sich gut an eine kranke Umwelt anzupassen.
Ein derartiges Grundrauschen erzeugt große latente Müdigkeit, beobachtet der Philosoph Byung-Chul Han. In dem Band Die Müdigkeitsgesellschaft hat Han bereits 2010 diagnostiziert, dass jedes Zeitalter seine Leitkrankheiten habe, und dieses wäre das der neuronalen Erkrankungen. Der in den Hamsterrädern der Betriebsamkeit trabende Dauergestresste ende in Depressionen, Aufmerksamkeitsdefiziten, Borderline- und Überforderungs-Syndromen.
Tatsächlich gewähren Gesundheitsreports seit Jahren regelmäßige Einblicke in die Abgründe des deutschen Arbeitsalltags. Seelische Störungen standen bei 44 Millionen Erwerbstätigen auf Platz 2 der Krankschreibungen, mit rund 110 Millionen Fehltagen im Jahr 2017, nur übertroffen von Rückenschmerzen. Die Lebenswelten dieser Menschen sind durchsetzt von Druck, unangemessener Bezahlung, dem „Pendlersyndrom“, Mobbing, „von einer Erschöpfung, die keine positive Potenz mehr hat“, schreibt Han. „Die neuronale Müdigkeit beginnt, sich auf der Hinterseite der globalen Hyperaktivität der Gegenwart festzusetzen.“ Und: Sie mache unmündig.
Wer sich mit seinen Stressoren auseinandersetzen möchte, dem hilft nicht so sehr das Stochern im äußeren Nebel, sondern Kontakt zu sich. Ein Blick auf die eigenen Anteile, Ein- und Vorstellungen kann helfen, sich aus jenen Umständen zu befreien, in denen man sich gern als Opfer sieht – als Opfer eigener Ansprüche an Machbarkeit oder der anderer. Im Gefühl von Fremdbestimmung wird leicht übersehen, dass persönliches Wohl darin liegt, wie man selbst der Welt begegnet. Auf dem Weg zu neuen Ufern und zu Antworten ist es daher hilfreich, sich nicht noch zusätzlich unter Druck zu setzen.
Die ruhige Wachheit
Nun gibt es einen mentalen Zustand, der wie „ruhige Wachheit“ funktioniert – wie ein Resonanzraum für heilsame, große oder gar keine Gedanken; wie ein Ort, der einlädt zu einem unaufgeregteren Rhythmus. Das hat nichts mit einem bisschen Trödelness für die gestresste Seele zu tun. Sondern mit Wahrnehmung einer neuen Zeitqualität, die etwas befördern kann, das die amerikanische Psychologin Jane Loevinger als Ich-Entwicklung bezeichnet hat und andere mit einem guten Leben verbinden: Die Entdeckung des eigenen Tempos. Jenseits von Hetzen und Bummeln.
Was, wenn sie herausfänden, dass ihre Gangart im Grunde langsam ist?
Viel zu viele wissen gar nicht, dass sie das haben, ein ureigenes Tempo. Was, wenn sie herausfänden, dass ihre Gangart im Grunde langsam ist? Wenn es ein Ziel sein könnte, persönliche Geschwindigkeit und jeweilige Tätigkeiten anzugleichen? Warum es lohnt, Dingen Zeit zu geben? Forscher sagen: Künftig wird Stress nicht mehr als Zeichen des Zuviel gedeutet, sondern als Unmöglichkeit, eine Balance zwischen Rasanz und Ruhe herzustellen.
Im griechischen Götterhimmel gab es neben der messbaren, chronologischen Zeit (Kronos) eine qualitative Dimension: Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks, steht für den richtigen Zeitpunkt – dafür, etwas zu tun, das als zutiefst sinnvoll erlebt wird. Was immer das sein mag, zunächst geht es weniger darum Tempo zu drosseln, als das Denken in quantitativen Maßstäben zu verlassen und Spielräume für Gemächlichkeit zuzulassen. Eigentlich geht es überhaupt nicht mehr um Zeitökonomie, sondern darum, sich selbstbewusst und selbstverantwortlich, mit Wissen und Können, Haut und Haar an etwas hinzugeben. Wer Fragen stellt wie: „Kann ich noch selbst entscheiden, was sinnvoll ist, was drängt und was Zeit hat?“, macht sich per se zum Untertan.
Es gab schon weniger passende Anlässe für solche Gedanken. Die Stimmung kippt gerade. Hochkonjunktur und Prosperität durch beständige Beschleunigung – diese Formel stimmt nicht mehr. Es entstehen Hohlräume in den Systemen. Der englische Ökonom John Maynard Keynes glaubte, dass die Tragödie der Wohlstandsgesellschaft darin besteht, dass sie mit der freien Zeit, die sie sich immer gewünscht hat, nichts anzufangen weiß.
Ein junger Brite, der früher Lehrer war, würde Keynes widersprechen. Er hat Spiegel online 2017 erzählt, wie er heute als Truck-Designer alte Lkw zu originellen Wohnwagen umbaut: „Nichts von dem, was ich vorher gemacht habe, hat sich so gut angefühlt wie das, was ich jetzt tue. Ich kann kreativ sein und es ist extrem befriedigend, fremden Menschen das Leben durch meine Arbeit angenehmer zu machen.“ Dem eigenen Lebensentwurf folgen. Beliebigkeit ausschließen. Momente haben. Sind die größten Geschenke, die man sich machen kann, richtig? Machen wir uns also auf den Weg und widmen uns unseren Themen, konzentriert und konsequent, lassend und wartend, auf unser Herz hörend.