Über Zeitwohlstand und kluge Lust
von Andrea S. Klahre
Entschleunigen. Fritz Reheis hat das Thema zu einer Zeit aufgegriffen, als dieses Wort noch kaum bekannt war. Heute steht es im Duden. Sein Buch Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung, das rund 50.000 Mal verkauft wurde, hat ganz sicher dazu beigetragen. Der Soziologe und Erziehungswissenschaftler über Mut zu Utopien, einen Lebensstil mit richtig verstandener Langsamkeit und “kluge Lust”, eine neue Form des Genießens.
Nachgefragt bei Fritz Reheis
Lieber Professor Reheis, bereits 1996 haben Sie eines der ersten wissenschaftlichen Bücher über die Notwendigkeit zum Entschleunigen geschrieben. Es ist in mehreren Auflagen erschienen und gilt als Klassiker. Seinerzeit haben Sie Mut zur Utopie bewiesen. Was ist aus den Utopien geworden?
Mit Entschleunigungsangeboten lässt sich offenbar viel Geld verdienen. Entschleunigung wird heute mit allem Möglichen verbunden: mit Ratgebern für Zeitmanagement und Work Life Balance, als Lockmittel beim Verkauf von Polstermöbeln, Wellnesswochen und Urlaubsregionen. Leider dient sie dabei meist dazu, die Menschen möglichst schnell wieder fit zu machen für die nächste Runde – für noch effizienteres Beschleunigen.
Das ist meine Utopie nicht. Mir geht es um unseren Lebensstil insgesamt, um die Art des Lebens und des Wirtschaftens auf unserem Planeten. Und da gilt es als erstes innezuhalten und zu prüfen: Wie wollen wir eigentlich leben? Wie leben wir tatsächlich? Und woher kommt die Diskrepanz? Vielleicht ist individuelle Entschleunigung ein erster notwendiger Schritt, auf den der zweite, das kollektive Entschleunigen folgen muss.
Vor das Entschleunigen hat der Gott des Geldes das Beschleunigen gesetzt. Schneller, höher, weiter: Wir steigern fast alles, was uns in die Finger kommt, schreiben Sie. Welche Fehler liegen dem allgegenwärtigen Tempozwang bzw. Steigerungsprinzip zugrunde?
Wir unterwerfen dem ökonomischen System unser Leben, und zwar mit zunehmender Konsequenz, in allen Bereichen. Das Diktat der Steigerung des Tempos, der Wegrationalisierung von Pausen und des Multitasking ergreift unseren Umgang mit der sozialen Mitwelt und der natürlichen Umwelt ebenso wie mit uns selbst, unserer Innenwelt. Und zwar ohne Rücksicht auf Verluste.
Innerhalb des ökonomischen Systems regiert das Geld die Märkte, und diese regieren immer mehr die Welt. Nicht der Verbraucher sitzt am „Manual der Wirtschaftsorgel“, wie ein Ökonom die Ideologie vom souveränen Konsumenten einmal ausgedrückt hat, sondern das Geld, das sich verwerten soll. Die von der Akkumulation des Geldes ausgehenden Beschleunigungszwänge bestimmen den Takt des Wirtschaftens – und setzen alles, was langsam ist, dem Zwang zum Schnellerwerden aus.
Einer derart hastigen Gegenwart und Entrhythmisierung des Lebens haben Sie Visionen gegenüberstellt. Wie sahen die aus, welche Zeiträume hatten Sie im Blick – und Zwischenbilanz: Was haben Sie bewirkt?
Mein Denken ist stark von einem ganzheitlichen wissenschaftlichen Ansatz beeinflusst: der “Ökologie der Zeit”. Dieses Konzept wurde zwischen 1990 und 2015 an der Evangelischen Akademie in Tutzing entwickelt, auch von mir. Zentral ist die Erkenntnis, dass wir Zusammenhänge besser verstehen und gestalten können, wenn wir uns genauer damit befassen, wie Systeme mit Zeit umgehen. In vielen Bereichen – von der Landwirtschaft über das Klima, von der Medizin über die Bildung, von den Medien über die Politik – geht es immer wieder darum, System- und Eigenzeiten zu respektieren und auf Rhythmen, Elastizitäten und Vielfalt zu achten: damit wir mit unseren Angelegenheiten besser vorankommen (Robert Walser).
Was wir mit dem Projekt und ich mit meiner kapitalismuskritischen Erweiterung erreicht haben, weiß ich natürlich nicht. Zumindest haben wir das Bewusstsein für zeitliche Zusammenhänge geschärft, wie übrigens auch der Verein zur Verzögerung der Zeit. Die teils von Mitarbeitern des Tutzinger Projekts 2002 in Berlin gegründete Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik ist zum Beispiel in Bezug auf die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie ein geschätzter Ratgeber des Bundesfamilienministeriums geworden.
Worin besteht die Kreativität der Langsamkeit, ist Langsamkeit ein Wert an sich?
Langsamkeit ist oft allein deshalb schon kreativ, weil sie das Destruktive der Schnelligkeit begrenzt. Richtig verstandene Langsamkeit wendet sich gegen die Vergewaltigung von System- und Eigenzeiten. Der Notarzt muss zwar schnell am Unfallort sein. Aber der, der ihn braucht, war vermutlich zu schnell, deshalb hat es ihn aus der Kurve getragen. Es geht um angemessene Geschwindigkeiten. Und die gilt es erstens herauszufinden und zweitens muss die Möglichkeit geschaffen werden, sich daran auch zu orientieren: beim Essen und Bewegen, beim Lernen und Arbeiten, in der Wirtschaft und in der Politik, beim Umgang mit den Lebensgrundlagen. So wenig wie Schnelligkeit kann also auch Langsamkeit ein Wert an sich sein. Alles hat seine Zeit, heißt es im Alten Testament. Und alles braucht seine Zeit, müssen wir ergänzen.
Bei allem geht es Ihnen nicht um Askese, sondern um eine neue Form des Genießens: eine “kluge Lust”. Wie klug kann Lust sein?
Die Idee der klugen Lust stammt aus der antiken griechischen Philosophie (hedone). Vielen Philosophen ging es darum, die Menschen von ihren oft zermürbenden Ängsten vor Göttern, vor Krankheit und Tod zu befreien und zum Genuss ihres Lebens zu ermutigen. Dabei dachten sie an einen Genuss, den man am Ende nicht bereut. Wer nach kluger Lust strebt, berücksichtigt die Kosten und Konsequenzen des Genießens bereits im Vorfeld. Das tun die heute nicht, die sich mit ungesundem Essen vollstopfen, sich zu wenig bewegen, aber auch das Gemeinwesen verlottern lassen und Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen treiben.
In die Sprache der Ökonomie übersetzt, bedeutet kluge Lust die Korrektur des Verständnisses von Wohlstand. Ersetzen wir im reichen Norden der Welt den Geld- und Güterwohlstand doch durch den Zeitwohlstand als Leitbild. Nur der ist universalisierbar und offen für ein selbstbestimmtes Leben.
Die Krankheit heißt Beschleunigung. Der Patient Homo Oeconomicus. Die Therapie Lassen statt Tun? Haben Sie Anregungen für ein kleines Entschleunigungsprogramm, für ein bisschen Eigenzeit- und Reflexionshygiene?
Die ersten beiden Sätze Ihrer Frage sind treffend, der dritte nicht. Wir müssen schon etwas tun, bloß das Richtige. Von selbst wird vieles nicht besser, sondern schlechter, weil sich dann die Mächtigen ungehindert durchsetzen können und sich das Hamsterrad ungebremst weiter beschleunigt. Beim Thema “Lassen versus Tun“ kommt es wie bei fast allem darauf an, sich der elementaren Kreisläufe des Lebens bewusst zu werden: Einatmen und Ausatmen, Anspannen und Entspannen, Wachsein und Schlafen und so weiter.
All das tun Pflanzen und Tiere auch. Der Mensch hat zusätzlich einen besonderen Zyklus, der ihn als einzige Art dazu befähigt, über die biologische auch eine kulturelle Evolution zu vollziehen: Es ist der basale Zyklus zwischen Eingreifen und Begreifen dessen, was das Eingreifen bewirkt. Das scheint mir der Kern des Entschleunigungsprogramms zu sein: individuell und kollektiv diese Fähigkeit des Begreifens zu hegen und pflegen.
Keine geringe Aufgabe …
Wahrlich nicht. Mit einem kleinen Entschleunigungsprogramm und einem bisschen Eigenzeit- und Reflexionshygiene ist es nicht getan. Und doch beginnt es jeweils beim Einzelnen. So lange ich gehetzt und getrieben werde, stehen die Chancen zur Überprüfung meines Umgangs mit Zeit schlecht. Jeder weiß am besten, wo sich seine Insel der Verlangsamung befindet oder einrichten lässt, wo sein persönliches Kraftzentrum liegt. Dies kann allerdings nur der erste Schritt sein. Wer sich damit begnügt, trägt dazu bei, dass andere – vielleicht umso mehr – im Hamsterrad weiterhetzen müssen.
In Ihrem neuen Buch verbinden Sie Resonanz mit Nachhaltigkeit. Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun? Schließt sich vielleicht sogar ein Kreis zum Langsamerwerden?
Ich habe eben von angemessenen Geschwindigkeiten gesprochen. Wenn man nachfragt, was das denn jeweils ist, so muss man sich mit den zeitlichen Bedingungen jener Prozesse befassen, auf denen unser Leben beruht. Diese Prozesse betreffen die personale Innenwelt, soziale Mitwelt und natürliche Umwelt gleichermaßen. In allen drei Welten müssen wir uns synchronisieren. Und das genau ist der Kern des Leitbilds der nachhaltigen Entwicklung: diese so gestalten, dass alles zusammenpasst. Oder, wie ein afrikanischer Dorfältester einmal gesagt haben soll: dass genug da ist, für jeden, und immer.
Da wir nie ganz sicher sein können, ob unsere Bemühungen um Synchronisation zu dem erhofften Ergebnis führen, weil so vieles mit so vielem zusammenwirkt, sprechen wir von Resonanz, wenn es klappt: wenn unser Gegenüber uns versteht; wenn die Natur uns mit Früchten für sorgsame Behandlung belohnt; wenn wir uns mit einer Entscheidung gut fühlen. Resonanz ist ihrem Wesen nach unverfügbar, sagt Hartmut Rosa. Oder anders: Synchronisation ist die Voraussetzung für Resonanz und damit auch für Nachhaltigkeit. Doch Gewissheiten gibt es nicht.
Praktisch gewendet: Wir können nur die zeitlichen Voraussetzungen für Resonanzen bereitstellen, ergeben müssen sie sich dann von selbst. Zum Beispiel können wir als Einzelne in unserem Alltag Auszeit-Inseln einrichten, in der Hoffnung, dass sich unser Leben dann stimmiger anfühlt. Oder wir können als Gesellschaft ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen und den Verbrauch nicht erneuerbarer Naturressourcen hoch besteuern oder verbieten – in der Erwartung, dass sich dann beim Menschen Existenzängste und in der Natur Krisen besser begrenzen lassen. Nur gibt es keine Garantie, dass dies auch wirklich eintritt. Wie gesagt: Resonanz lässt sich nicht erzwingen, aber sie kann durch eine Strategie wahrscheinlicher werden.
RESONANZ LÄSST SICH NICHT ERZWINGEN
Wenn wir gut darin sind, Begegnungen, Handlungen oder Gegebenheiten richtig zu synchronisieren, ist das die beste Voraussetzung für Resonanz: ein Mit-, Nach- und Zurückschwingen im Augenblick und darüber hinaus. Eins wie das andere fühlt sich stimmig an und kann der Beginn von etwas Besonderem sein. Muss aber nicht. Und: Resonanz ist mehr als poetische Metapher. In seinem neuen Buch Die Resonanzstrategie taucht Fritz Reheis tief in den Resonanzbegriff ein. Dieser ist für ihn auch Instrument, mit dem sich komplexe Sachverhalte und Entwicklungen analysieren lassen: Behutsamkeit, Achtsamkeit, Langsamkeit. Wer von Nachhaltigkeit spricht, darf über den Umgang mit der Zeit nicht schweigen, lautet einer der wuchtigen Gedanken, mit denen er den Leser zu ein paar geistigen Dehnübungen inspiriert. Denn vieles steht in Wechselwirkung miteinander: Nur wenn der Mensch seine Umwelt, Mitwelt und Innenwelt als Resonanzräume erfährt, wird nachhaltige Entwicklung möglich. oekom-verlag.de