Es ist wohl nur als Ironie des Schicksals zu bezeichnen, dass die Zeitenwende ausgerechnet von jemandem ausgerufen wurde, der beispielhaft für das krampfhafte Festhalten am Status quo steht. Und Olaf Scholz steht nicht alleine: All jene, die sich tief in unserer auf Sicherheit, Konsum und Wirtschaftsdienst bedachten Gesellschaft vergraben haben, wurden durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine – und zuvor die COVID-19-Pandemie – unsanft aus ihrer Biedermeier-Normalität gerissen. Dabei sind beide Ereignisse nur die Ouvertüre zu jenem epochalen Umbruch, der sich schon seit der Weltfinanzkrise von 2007 ankündigt und dessen Konturen nun immer deutlicher zu sehen sind.
Was die Biedermeier*innen nur sehen, ist, dass alles immer schlechter wird. Denn für wen die bisherige Normalität alles war, für den geht nun, da sie sich auflöst, sprichwörtlich die ganze Welt unter. Dass sich die Zeit wendet, bedeutet also für viele, dass ihre Zeit abgelaufen ist – weshalb sie sich umso mehr an die alte Zeit klammern. Jetzt muss verhindert werden, dass durch diese regressive Energie die ohnehin schwierige soziale und ökologische Situation verschlimmert und die Gesellschaft in den Abgrund gezogen wird.
Angesichts der Zeitenwende ist also eine Wende im Denken gefordert: Als gefährlich sind jene radikalen Normalen einzuschätzen, die ein Weiter-so wollen und bereit sind, eine lebenswerte Zukunft auf dem Altar ihrer beschränkten Vorstellungen und überkommenen Gewohnheiten zu opfern. Der Fanatismus lauert im Herzen unserer Gesellschaft und kommt oft ganz rechtschaffen daher. Er findet sich in überkommenen Arbeits- und Produktionsverhältnissen, in Konsum- und Freizeitgewohnheiten sowie, nicht zuletzt, in den etablierten Parteien. Weil diese durch ihr unbedingtes Beharren auf dem Wirtschaftswachstum eine sinnvolle Weiterentwicklung der Gesellschaft verhindern, werden demokratiefeindliche Bewegungen erst hervorgerufen. Kurz: Es darf kein „Wirtschaftswachstum über alles“ geben. Es muss allen klar sein, dass ein Festhalten am Wachstum, sei es schwarzes, braunes, rotes oder grünes, die Demokratie zerstören muss.
Eine Zeitenwende würde bedeuten, dass Wirtschaft endlich entideologisiert wird; und dass man begreift, dass jene Gesellschaften einen „Wettbewerbsvorteil“ haben – sprich: künftig ein sinnvolleres, erfüllteres Leben ermöglichen – die sich am konsequentesten von dem verabschieden, was bislang selbstverständlich war. ■
Ihr Frank Augustin
Chefredakteur, faugustin@agora42.de

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Hat Geschichte und Philosophie studiert und war danach Redakteur beim Journal für Philosophie der blaue reiter. Kapitalismus ist für ihn primär ein kulturelles und weniger ein wirtschaftliches Phänomen. Seiner Lebensgrundlage, dem festen Glauben an die segensreiche Kraft von Wachstum und Fortschritt, entzogen, geht es im Kapitalismus inzwischen nur noch um ein leeres Mehr des Geldes und um die Gleichschaltung aller Lebensbereiche unter quantitativen Gesichtspunkten. Franks Frage ist: Kann die sogenannte Normalität noch verrückter werden?