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Demokratie selber machen
Text: Robert Jende & Gerald Beck | online veröffentlicht am 11.04.2025
Um die Demokratie zu bewahren, muss sie sich verändern. Ihre Versprechen – Repräsentation, Partizipation, Responsivität – gilt es dabei aufrechtzuerhalten und zu verwirklichen. Dazu kann der Ansatz des Philosophen John Dewey helfen, Demokratie als Lebensform zu begreifen, als alltägliche Praxis also, die an konkreten Orten stattfindet. Demokratiecafés können solche Orte sein.
Nicht nur Unternehmen und wirtschaftliche Organisationen brauchen bisweilen einen Umbau, um sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. Auch die historischen, sozialen und kulturellen Kontexte für das Gelingen von Demokratien ändern sich und erzeugen so Innovationsbedarf für die Demokratie selbst. Eine Demokratie, die sich ausschließlich auf Parteiendemokratie reduziert, ist ein Auslaufmodell. Die demokratischen Institutionen und Praktiken brauchen ein Update und neue Features.
Drei Prinzipien sind besonders relevant für eine funktionierende Demokratie: Repräsentation, Partizipation und Responsivität. Idealtypisch meint Repräsentation in einer repräsentativen Demokratie, dass die gewählten Politiker*innen die Interessen der Wähler*innen in den demokratischen Gremien (zum Beispiel Parlamente oder Stadträte) vertreten. Politische Partizipation umfasst alle Möglichkeiten der Beteiligung und Einflussnahme auf demokratische Gestaltungsprozesse (zum Beispiel Wahlen oder Bürgerräte). Der Grad der Responsivität drückt das Resonanzverhältnis aus, also die Anbindung zwischen den Anliegen der Leute und den demokratischen Institutionen.
Beispiele für die Ausweitung von Partizipationsmöglichkeiten und die Herstellung von Responsivität sind parallel zu Krisenerscheinungen auftretende demokratische Innovationen. Einerseits werden Bürger*innen zu sogenannten Invited Spaces, wie zum Beispiel einem Klimarat oder einer Bezirksausschussversammlung, eingeladen, um die Responsivität zwischen Bürger*innen und gewählten Vertreter*innen zu verbessern. Andererseits machen sich zivilgesellschaftliche Akteure in Reaktion auf Repräsentationsdefizite selbst auf den Weg und erzeugen als Graswurzelbewegungen neue Beteiligungs- und Selbstermächtigungsräume, sogenannte Invented Spaces. Als eine hybride, verbindende Form zwischen Einladung und Selbstermächtigung haben wir im Forschungsprojekt RePair Democracy (https://fordemocracy.de/projekte/projekt-02) an der Hochschule München das „Demokratiecafé“ entwickelt. Über die Vervielfältigung der Beteiligungsräume wird die Repräsentation lokaler und kleinteiliger. Gleichzeitig werden neue Verbindungen zu den demokratischen Institutionen geknüpft.
Kulturen des Selbermachens
An Orten wie urbanen Gemeinschaftsgärten, offenen Werkstätten oder Repair Cafés treffen Menschen aufeinander, die gemeinsam an einer Sache arbeiten – im Grunde eine urdemokratische Situation. In Gemeinschaftsgärten treffen beispielsweise unterschiedliche Vorstellungen aufeinander, wie das Ergebnis, also der gemeinsam bewirtschaftete Garten, am Ende aussehen soll. Um auf ein gemeinsames Ergebnis zu kommen, sind Aushandlungsprozesse nötig, die zumeist selbst organisiert werden (müssen). Selbst Hand anzulegen und zusammen mit anderen Lebensräume zu gestalten, zeichnet Kulturen des Selbermachens aus: Es wird nicht delegiert und auf andere gewartet, dass sie etwas tun, sondern es wird selbst angepackt. Dabei werden Selbstwirksamkeitserfahrungen gesammelt, die auch für eine Verortung in einer Demokratie relevant sind. Im Garten üben die Akteure Demokratie in kleinem Maßstab – was freilich auch Konfliktpotenzial in sich birgt.
Auch im Repair Café werden nicht nur Alltagsgegenstände, sondern auch zwischenmenschliche Beziehungen und gesellschaftliche Verhältnisse repariert. Das Kleine wirkt im Großen und kann den Rahmen verändern: So gäbe es ohne die vielen kleinen Reparatur-Initiativen und offenen Werkstätten heute wahrscheinlich kein EU-Recht auf Reparatur. An diesem Beispiel zeigt sich die Möglichkeit der Anbindung – RePair – einer widerständigen Praxis an bestehende demokratische Institutionen als Ausdruck einer gelungenen Responsivität. Repair Cafés entstehen für gewöhnlich als Graswurzelinitiative und ermächtigen sich im Rahmen des Möglichen, die Sorge um die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.

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Neben den genannten Bottom-up-Initiativen gibt es auch Beteiligungsformen, zu denen die etablierten demokratischen Institutionen einladen. Die Vielfalt der Formate reicht von Informationsveranstaltungen über lokale Bürgerversammlungen bis hin zu bundesweiten Bürgerräten. Die Beteiligungsqualität variiert mit dem Grad an Repräsentativität – Wer beteiligt sich überhaupt? – und der Verbindlichkeit der Umsetzung von Ergebnissen. Eine verbindende Variante zwischen Bottom-up-Ermächtigung und Top-down-Einladung ist das Demokratiecafé.
Das Demokratiecafé
Das Demokratiecafé ist ein von Repair Cafés inspiriertes Veranstaltungsformat. Im Gegensatz zu einem Repair Café bringen die Menschen aber keine defekten Alltagsgegenstände mit, sondern Anliegen, die sich auf die Gestaltung des lokalen Umfelds beziehen. Das kann der Wunsch nach mehr Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum oder ein besserer Austausch zwischen verschiedenen Gruppen sein. Es hat sich in der Praxis bewährt, den Veranstaltungen relativ offene Oberthemen zu geben, wie etwa „gutes Campusleben“ oder „gutes Leben im Quartier“.
Konkret gibt es im Ablauf eines Demokratiecafés drei zentrale Phasen. Erstens die Sammlung der Anliegen, zweitens die Suche nach gemeinsamen Anliegen und drittens die Selbstorganisation. Doch zuvor schafft eine spielerische Kennenlernrunde eine angenehme, vertraute und wertschätzende Atmosphäre, mit der Perspektivübernahme und aktives Zuhören verlangt werden.
Alle Teilnehmenden werden schon beim Ankommen individuell begrüßt und mit den ersten Schritten vertraut gemacht. Das Herzstück ist dabei der Anliegenzettel, auf dem die Teilnehmenden ihre Anliegen notieren können. Nach der genannten Kennenlernrunde werden die Anliegen kurz vorgestellt und dabei thematisch sortiert. So entstehen Cluster aus verwandten Anliegen. Diesen Clustern folgend geht es dann in kleinere Gruppen, deren Aufgabe es ist, die Anliegen zu verstehen, zu hinterfragen und zu überlegen, was sich hinter den einzelnen Anliegen verbirgt bzw. diese miteinander verbindet. Die Arbeit an den Anliegen hat mindestens drei Funktionen. Erstens die Konzentration auf das Wesentliche, zweitens den Austausch zwischen den Beteiligten über ihre individuellen Anliegen und drittens bildet sich durch diese Zusammenarbeit und das gemeinsame Ergebnis im besten Falle schon eine Gruppe für die anschließende Projektphase.
Ziel des Demokratiecafés ist es, Prozesse der Selbstorganisation anzuregen und dafür einen Raum zu bieten. Das passiert in der letzten Phase, in der die Gruppen beginnen, eigene Projekte zu entwerfen, kreative Lösungen zu suchen, zu überlegen, wer noch einbezogen werden müsste und wie es weitergeht. So entstand zum Beispiel aus einem Demokratiecafé in einer Mall eine Gruppe, die einen leerstehenden Laden mit verschiedenen unkommerziellen Angeboten bespielt, oder ein Demokratiecafé an einer Schule entwickelte Beiträge über das Miteinander an der Schule zum Tag des Grundgesetzes.
Das Demokratiecafé wird so, nach dem Prinzip der griechischen Agora, zu einem Marktplatz lokaler Anliegen, auf dem unterschiedliche Perspektiven ausgetauscht und verhandelt werden. Dabei werden individuelle Anliegen als geteiltes Vorhaben vergemeinschaftet. Getreu dem Motto der Reparaturbewegung „If you can’t fix it, you don’t own it“ üben die Besuchenden von Demokratiecafés active citizenship aus, nehmen die Gestaltbarkeit des Lebensumfeldes also selbst in die Hand.
Demokratie als Lebensform
Das Demokratiecafé ist entsprechend weniger ein Entscheidungs- und Legitimationsmittel, sondern ein Ort zur Einübung von Praktiken eines demokratischen Miteinanders. So wird von Beginn an aktives Zuhören und Perspektivübernahme eingeübt, es wird für unterschiedliche Befindlichkeiten und Positionen sensibilisiert oder Offenheit und Vorbehaltlosigkeit praktiziert. Die Zeit des Demokratiecafés ist geprägt von Beziehungen gegenseitiger Anerkennung. Hier können die Leute Demokratie als Lebensform erfahren, wo sonst der Alltag von Hierarchien und häufig von Gefühlen der eigenen Wirkungslosigkeit geprägt ist.
Der Pädagoge und Philosoph des Pragmatismus John Dewey prägte die Vorstellung von Demokratie als Lebensform – ein way of life. Ihm ging es darum, der miteinander geteilten Erfahrung eines demokratischen Gemeinwesens Priorität einzuräumen. In diesem Konzept ist Demokratie keine Dienstleistung, die von Regierenden eingefordert wird, sondern eine Kultur, die eingeübt und gepflegt werden muss. Demnach muss Demokratie im alltäglichen Vollzug hergestellt und praktiziert werden. Sich als Gleiche*r unter Gleichen zu erfahren, sich als wirksam und Gestalter*in des eigenen Lebens wahrzunehmen, kann nicht nur von Verfahren und Institutionen geleistet werden. Dafür braucht es Räume und Gelegenheiten, in denen Menschen in Beziehung treten und Demokratie auch emotional erleben und aktualisieren. Demokratie wird zu einem Anlass für soziales Lernen, womit sich das Zusammenleben in wechselseitiger Abhängigkeit und Anerkennung verbessern und verfeinern lässt.
Das Demokratiecafé ist ein Übungsraum für eine als Lebensform verstandene Demokratie. Es geht weniger darum, zur Umsetzung gemeinsamer Projektvorhaben zu gelangen, sondern viel mehr um den Weg dahin: Wie kann eine Einigung gefunden werden, mit der alle daran Beteiligten gut leben können? Es müssen auch nicht immer alle bei allem dabei sein. Lokale kleine Gruppen versammeln sich um diejenigen Anliegen, die für eine hinreichende Anzahl an Leuten von Interesse sind. Wie können wir uns wechselseitig als Subjekte einer Demokratie erfahren und eine geteilte Vorstellung von Gemeinwohl entwickeln? Eine in diesem Sinne erweiterte Demokratie als Lebensform legt den Fokus darauf, die Antworten auf drängende gesellschaftliche Fragen nicht nur per Wahlzettel zu bestellen, sondern gemeinsam selbst Hand anzulegen und zum Beispiel in der eigenen Nachbarschaft aktiv zu werden, lokale Netzwerke zu bilden oder gemeinsame Lösungen für geteilte Bedürfnisse zu finden. ■
Dieser Beitrag ist zuerst in der agora42 3/2024 zum Thema AUSLAUFMODELL DEMOKRATIE? erschienen.

Gerald Beck ist Professor für Soziale Innovation und Organisationsentwicklung an der Hochschule München. Er ist Prodekan der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften und Mitglied der Studiengangsleitungen des Bachelorstudiengangs „Management Sozialer Innovationen“und des Masterstudiengangs „Gesellschaftlicher Wandel als Gestaltungsaufgabe“. In der Forschung beschäftigt er sich mit Sozialen Innovationen, Commons, Demokratie und Kontroversen im Rahmen der sozial-ökologischen Transformation.
Robert Jende ist promovierter Soziologe und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der anstiftung. Dort koordiniert er das Netzwerk Demokratiecafés und beforscht Kulturen des Selbermachens, die in Gemeinschaftsgärten, Repair Cafés oder offenen Werkstätten ihren Ort haben. Er ist Sprecher der „AG performative Soziologie“ in der Gesellschaft für transdisziplinäre und partizipative Forschung (GTPF), in der er mit einer transdiziplinären Gemeinschaft nach performativen Methoden zur partizipativen Umgestaltung der Gesellschaft sucht.

Gemeinsam haben Robert Jende & Gerald Beck zum Thema veröffentlicht: Das Demokratiecafé: If you can’t fix it, you don’t own it! (Ökologisches Wirtschaften, 30/2024) und Vor der eigenen Haustür ‚caren‘: Politik der Nachhaltigkeit im Paradigma des Terrestrischen (Soziologie und Nachhaltigkeit, 8/2022)
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