„Politische Repräsentation war noch nie unstrittig oder konfliktfrei“ – Interview mit Felix Trautmann

„Politische Repräsentation war noch nie unstrittig oder konfliktfrei“

Interview mit Felix Trautmann

Herr Trautmann, was ist das Imaginäre der Demokratie? Inwiefern hält es die demokratische Ordnung zusammen?

Politische Gemeinwesen ausgehend vom Imaginären zu verstehen, heißt zunächst einmal, die Kraft der Imagination, die Affekte und das Begehren in den Fokus zu rücken. Diese haben einen wesentlichen Anteil daran, ob und wie wir uns mit diesem Gemeinwesen identifizieren, uns in es investieren oder in ihm wiedererkennen. Jedoch sind sie auch allesamt Kräfte, die sich nicht vollends beherrschen lassen, weder durch uns selbst noch durch andere. Das heißt, dass wir affektiv, libidinös und eben im Imaginären an eine politische Ordnung gebunden sein können, die wir nicht gänzlich frei gewählt haben. Diese Wirkung lässt sich bereits für die monarchische Herrschaft beschreiben, in der die Untertanen dem König nicht nur gewaltsam unterworfen, sondern auch leidenschaftlich verhaftet sind. Doch das Imaginäre wirkt nicht nur in Fällen, in denen wir Gefangene unseres Begehrens, unserer Affekte oder Vorstellungen sind. Es steht zugleich für ein Moment der Freiheit. Die demokratische Revolution über das Imaginäre zu deuten, erlaubt es in diesem Sinne, sie als einen Prozess zu verstehen, durch den die alte Ordnung und ihre imaginären Bindungskräfte aufgebrochen und gleichzeitig neue Vorstellungen des politischen Gemeinwesens freigesetzt werden. Ich denke also, dass das Imaginäre in Bezug auf die Demokratie weniger im Sinne des Zusammenhalts zu verstehen ist, sondern dass es vielmehr diejenige Kraft beschreibt, die einen neuen Möglichkeitshorizont der Freiheit und der Gleichheit eröffnet. „Politische Repräsentation war noch nie unstrittig oder konfliktfrei“ – Interview mit Felix Trautmann weiterlesen

„Das Losverfahren kränkt den Narzissmus eines jeden, der sich für etwas Besseres hält“ – Dagmar Comtesse

„Das Losverfahren kränkt den Narzissmus eines jeden, der sich für etwas Besseres hält“

Interview mit Dagmar Comtesse

 

Lars Distelhorst schreibt in der aktuellen Ausgabe: „Was sich aktuell durchsetzt, ist eine postpolitische Demokratie, die das Politische durch eine Verwaltung des Status quo ersetzt.“ Frau Comtesse, ist die Demokratie nicht mehr zu wirklichen Entscheidungen und damit Veränderungen fähig?

Ja, es gibt zu wenig demokratische Entscheidungen; aber nein, es gibt keine Verwaltung des Status quo. Es bleibt ja nicht bei einem Status, sondern Entscheidungen werden die ganze Zeit getroffen: Sei es im Kleinen wie Aberkennung des gemeinnützigen Status von NGOs wie Attac oder Campact oder im Großen wie der Kohleausstieg. Veränderungen finden durch beide Entscheidungen statt: Wenn Gerichtshöfe Gemeinnützigkeit aberkennen, können NGOs weniger Macht entwickeln, es wird also eine Entwicklung verändert. Der Kohleausstieg wurde dagegen maßgeblich durch Mitglieder gewählter Parteien ausgehandelt und stellt historisch gesehen eine große Veränderung dar. Für das Maß der Demokratie ist hierbei zentral, von wem Entscheidungen getroffen werden. Dass Bürokratien (hier die Gerichtshöfe) „rational und legal“ (Max Weber) entscheiden, erfüllt die aus Aufklärung und bürgerlicher Revolution kommenden Kriterien von Vernunft und Herrschaft des Rechts. Dass eben diese moderne Bürokratien als Expertokratien nicht nur die Bevölkerung entmündigen, sondern auch noch bestimmten Interessen dienen, wie es kürzlich David Graeber wieder zeigte, macht sie zu einer tragenden Struktur der gouvernementalen Herrschaftslogik. Etwas besser steht es um die Kohlekommission, die zumindest einige gewählte Bundestagsabgeordnete aufweist. Dass hier jedoch insgesamt wenig Partizipation der Bevölkerung ermöglicht wird, die Aushandlung nicht-öffentlich stattfindet und die Interessen der Industrie durch deren Hauptvertreter garantiert werden, gibt dem an sich demokratischen Gremium wiederum einen gouvernementalen Charakter. Wie aber sieht es mit einem klaren Gegenmodell zu Bürokratie und verdeckten Regierungsgeschäften aus? Nehmen wir den Volksentscheid zum Brexit. Im Vorfeld der Brexit-Entscheidung warb der Befürworter Michael Glove mit Slogans wie „enough of experts“; die Gegenüberstellung von ‚herrschendem‘ (EU)-Expert*innen und beherrschtem Volk verfing. Der Volksentscheid über eine historische Alternative hat fraglos mehr britische Bürger*innen politisiert als jede Parlamentsdebatte es getan hätte. Die auch aus der Sicht der Befürworter ambivalenten Folgen des Brexit haben dem pauschalen Angriff auf Expert*innen den Wind aus den Segeln genommen und führen seit nun mehr 3 Jahren zu einer differenzierten Debatte. Eine Kultur von Volksentscheiden, wie sie in der Schweiz praktiziert wird, halte ich deswegen, trotz drohenden populistischen Interventionen, für wünschenswert. „Das Losverfahren kränkt den Narzissmus eines jeden, der sich für etwas Besseres hält“ – Dagmar Comtesse weiterlesen