Das Ende des Hoffens – Kann ein Leben ohne Zukunft Qualität haben?
von Gilbert Dietrich
Wir kennen die Phasen der Trauer, die solche Patienten durchmachen, deren Krankheit unausweichlich zum Tode führt: Wut, Leugnen, Feilschen, Depression und schließlich Akzeptanz. In der Phase der Akzeptanz tritt man einen Schritt zurück und überlegt sich, wie man die Zeit, die einem noch bleibt, verbringen möchte und wie man sie mit etwas Würde durchstehen kann. Ich denke darüber inzwischen auch öfter nach. Was ist mit Ihnen?
Die Menschheit, so könnte man meinen, ist in einer ähnlichen Situation wie ein Todkranker: Uns wird zunehmend klar, dass unsere Existenz als Gattung auf diesem Planeten zu einem Ende kommt. Wir sind sieben Milliarden Menschen und werden noch mindestens zwei Milliarden mehr werden. Die Erde wird zunehmend wärmer, ohne dass wir unseren Kohlendioxidausstoß reduzieren können. Die Eismasse der Arktis schrumpft zusehends. Das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten beschleunigt sich trotz WWF und Greenpeace.
Unsere erste Reaktion, als wir mit dem Waldsterben, Tschernobyl und dem Wal-Schlachten konfrontiert wurden, war Wut. Ich denke, dass wir völlig zu Recht wütend waren und dass es sogar das aufrichtigste Gefühl war, das wir haben konnten. Wir protestierten, gründeten militante Öko-Gruppen oder trugen Kröten über die Landstraße. Damit hoben wir die ökologischen Probleme zum ersten Mal auf die politische Agenda. Was hat es genutzt? Bis heute gibt es auch Gruppen, welche die sich vor unseren Augen weiterhin abspielende ökologische Katastrophe leugnen. Viel größer aber ist die Gruppe der Leute, die begonnen haben zu feilschen: Man könnte das Fortschrittsoptimismus nennen. Ich selbst neigte zu diesem Glauben, dass wir durch technischen Fortschritt, mit Solarzellen und Windkraft, den ökologischen Raubbau kompensieren können. Mittlerweile kommen mir Zweifel: Nicht weil es prinzipiell unmöglich wäre, sondern weil die Schäden so massiv sind, dass jedes politisch vertretbare Gegensteuern lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein ist.
Die letzten Phasen der Trauer
Im englischen Oxford hat sich vor einigen Jahren eine Bewegung mit dem Namen The Dark Mountain Project formiert. Ganz bewusst sind sie zu den letzten Trauerphasen Todkranker übergegangen: zur Depression und letztlich zur Akzeptanz. Die Gruppe besteht aus einer Reihe von Schriftstellern, Künstlern und Denkern, die aufgehört haben, an die Geschichten zu glauben, die wir uns heute selbst erzählen. Die gängigste Geschichte geht etwa so: Der Menschheit als exponiertem Sonderfall der Natur fällt die Aufgabe zu, die gesamte Natur und alles Leben zu steuern. Die ökologischen und ökonomischen Katastrophen unserer Tage sind lediglich technische Ausfälle, die wir nur zu beheben haben. The Dark Mountain Project meint hingegen, dass neue und weniger heilsversprechende Geschichten für die finsteren Tage vor uns vonnöten seien.
Dieses Projekt sieht sich als kreative Plattform, auf der wir ohne Selbsttäuschung lernen können zu akzeptieren, dass die Zukunft nichts für uns bereithält. „Wir sehen, dass die Welt in ein Zeitalter des ökologischen Zusammenbruchs eintritt (…) und wir möchten diese Realität annehmen und spiegeln, anstatt sie zu leugnen.“ Man könne nicht mehr so tun, als wären die Schäden rückgängig zu machen, als könne man diese Welt noch retten, so die Aussage des ehemaligen Aktivisten der Anti-Globalisierungsbewegung und Gründer des Projekts Paul Kingsnorth.
Man könne nicht mehr so tun, als wären die Schäden rückgängig zu machen, als könne man diese Welt noch retten.
Liest man das Manifest der Bewegung mit dem Titel Uncivilization von 2009, dann wird klar, dass die damals gerade eingetretene globale Finanzkrise den Pessimismus der Autoren kräftig befeuert hat. Nicht nur, dass überall asymmetrische Kriege entstanden, die man nicht gewinnen konnte, und dass die Naturzerstörung andauerte, sondern plötzlich war auch noch die eigene Immobilie wertlos. Wo sollte da noch Optimismus herkommen? Vielleicht von den Grünen und ihren Öko-Supermärkten? Nein: „Eine ehemals radikale Infragestellung der Zivilisationsmaschine wurde in eine weitere Möglichkeit zum Shoppen verwandelt“ (Uncivilization). Pessimismus ist ein anderes Wort für den Abfall vom Glauben an den Fortschrittsmythos. Im Manifest heißt es: „Alles wird gut. Nein, wir glauben nicht, dass alles wieder gut wird. Wir sind uns nicht einmal sicher, ob wir auf der Grundlage der heutigen Definition von Fortschritt überhaupt wollen, dass es wieder gut wird.“
Akzeptanz statt Aktionismus
Wie kann man als vernünftiger Mensch an diesem Punkt die Hände in den Schoß legen und sich in sein Schicksal ergeben? Das ist ja beinahe verbrecherisch. Kingsnorth sagt, dass sein Projekt den Menschen die Möglichkeit gäbe, falsche Hoffnungen zu begraben. Nur noch hoffen zu können, sei ein verzweifelter Akt derer, die keine Macht hätten, wirklich etwas zu ändern.
Anstatt zu versuchen, die Erde zu retten, sollten die Menschen lieber darüber reden, was überhaupt noch machbar sei. Kingsnorth wünscht sich eine neue Ehrlichkeit: Ökologischer Aktivismus täusche seine Anhänger zum Beispiel mit der falschen Hoffnung, den Klimawandel stoppen zu können. Dabei sei klar, dass er nicht gestoppt werden könne und dass solche falschen Hoffnungen nur zu noch mehr Enttäuschung und Verzweiflung führten. Für die Anhänger von Dark Mountain gibt es immerhin eine Möglichkeit, sich die Wahrheit einzugestehen und die damit einhergehenden Gefühle von Furcht und Trauer zuzulassen. Erst wenn wir uns das Ausmaß der Zerstörung eingestünden, könnten wir anfangen, neue Wege zu sehen:
„Was passiert, wenn du die kommenden Veränderungen akzeptierst? Dinge, die du schätzt, werden verschwinden, es werden Sachen passieren, die dich unglücklich machen. Du wirst nicht erreichen können, was du erreichen wolltest und du musst damit leben. Weiterhin wirst du aber Schönheit sehen, es wird weiterhin Dinge geben, die dir einen Sinn vermitteln und du kannst immer noch irgendetwas tun, um die Welt ein bisschen weniger schlecht zu machen.“ (Paul Kingsnorth in der New York Times)
Kingsnorth findet die Idee, dass man die katastrophalen Folgen der Klimaerwärmung aufschieben kann, nicht nur falsch, sondern widerwärtig. Sie zeige die ganze Verzerrung der Beziehung zwischen Menschen und der natürlichen Umwelt. Sogar die Umweltschützer hätten damit die Idee aufgegeben, dass Natur auch einen Wert an und für sich habe, der über ihren Nutzen für uns hinausginge. Wenn wir dieses Ideal vergessen, um unseren Arsch zu retten, wenn wir überall Windräder hinstellen und Solarfelder anlegen, dann gehen wir nichts anderes als einen faustischen Pakt ein: Wir verkaufen unsere Seele, die Schönheit der Natur, um ein paar Jahre länger zu leben.
Nun gut, man könnte auch sagen, dass die Existenz des Menschen ohne einen solchen Teufelspakt nicht zu denken ist. Wir kennen ja Frankensteins Monster. In der Philosophie findet man dafür den Begriff der Entfremdung: Die Prozesse, die wir initiieren, um alles besser zu machen, entfremden sich und wenden sich letztlich gegen uns. Das ist alles höchst sinnlos und erscheint unveränderlich. Das Trotzdem, die Tat, so würde Albert Camus vielleicht sagen, ist gleichzeitig Auflehnung gegen das Absurde und Eingeständnis der Sinnlosigkeit dessen, was über diese Tat selbst hinausgeht.
Das Trotzdem, die Tat, so würde Albert Camus vielleicht sagen, ist gleichzeitig Auflehnung gegen das Absurde und Eingeständnis der Sinnlosigkeit dessen, was über diese Tat selbst hinausgeht.
In dieser Tradition steht auch The Dark Mountain Project: Statt verzweifelt zu versuchen, die gottlose Schöpfung zu verstehen und zu retten, reibt man sich am Untergang und macht ihn zur Folie des eigenen Schaffens. Dieses Schaffen ist dabei ganz vielfältig, beispielsweise gibt es neben zahlreichen Publikationen auch Uncivilisation Festivals, wo versucht wird, die Akzeptanz ästhetisch über Musik, Malerei, Aufführungen, Debatten und das Erzählen von Geschichten zu stärken. Das ist kein dekadenter Tanz im Angesicht des Untergangs, sondern eine bewusste und nüchterne Konfrontation mit dem Ende der Welt, wie wir sie kennen.
Die Radikalität dieses Gedankens finde ich mutig und attraktiv. Wir haben von unseren Ärzten erfahren, dass wir nur noch einige Monate zu leben haben und können dieses Leben erst dann führen, wenn wir aufhören wütend gegen unser Schicksal anzurennen oder mit Hilfe von Chemotherapie und Lungenmaschine um jede Minute zu feilschen. Wenn wir unser Los akzeptieren, können wir noch einmal die Augen aufmachen, die Schönheit des Lebens sehen und bewusst genießen. Wir können uns darauf konzentrieren, das Beste daraus zu machen.
In vielerlei Hinsicht starren wir immer wieder ohne viel Hoffnung ins Nichts, sei es die unfassbare Tatsache, dass das eigene Leben begrenzt ist, seien es furchtbare Kriege oder sei es die unaufhaltsam scheinende Naturvernichtung. Vielleicht müssen wir lernen, absurde Hoffnungen fahren zu lassen, damit wir zu Sinnen kommen und uns den Herausforderungen stellen können. Dann könnten wir das eigene und einzige Leben als Auflehnung gegen die endlos reproduzierte Sinnlosigkeit und seine traurigen Umstände begreifen.
Und irgendwo ganz hinten im Kopf haben wir doch noch diesen unbesiegbaren kleinen und allzu menschlichen Schimmer Hoffnung: Vielleicht haben sich die Ärzte ja doch geirrt und wir leben länger als prognostiziert? Vielleicht doch lieber mit dem Rauchen aufhören und dem Schicksal ein paar Monate mehr abtrotzen? Oder wie es im 8. Prinzip des Manifests von The Dark Mountain Project heißt:
„Das Ende der Welt wie wir sie kennen, ist nicht das Ende der Welt. Wir werden eine Hoffnung jenseits der Hoffnung finden: den Pfad, der uns zu jener unbekannten Welt führt, die vor uns liegt.“