Richard David Precht anlässlich seiner Herausgeberschaft der agora42
Mit der Ausgabe 1/2011 wurde der Bestsellerautor und Philosoph Richard David Precht Mitherausgeber der agora42. Seinen Entschluss begründet er wie folgt:
Ökonomie und Philosophie – in der heutigen Zeit wirken die beiden Begriffe einander so fremd wie die erdzugewandte und die erdabgewandte Seite des Mondes. Ökonomie, so scheint es, ist die Wissenschaft von etwas sehr Nützlichem und Praktischem, der Deckung des menschlichen Bedarfs. Philosophie dagegen ist, wenn überhaupt, die Wissenschaft von etwas Unnützem und Theoretischem, den Mußestunden des Lebens vorbehalten; ein Hobby für Menschen mit hinreichend Geld und Zeit.
Es scheint so. Tatsächlich jedoch ist Ökonomie eine sehr philosophische Wissenschaft. Denn was ist der menschliche Bedarf? Was gehört dazu und was nicht? Wer bestimmt die Ziele des Wirtschaftens? Liegen sie in Kurven und Tabellen verborgen, lassen sie sich kühl berechnen? Oder sind sie nicht vielmehr eine gesellschaftliche Festsetzung auf der Grundlage philosophischer Überlegungen?
Die bedeutendsten Ökonomen der Menschheitsgeschichte waren Philosophen, von Adam Smith über John Stuart Mill zu Karl Marx. Für sie war Ökonomie die praktische Umsetzung eines philosophischen Ziels: die Chance auf ein erfülltes Leben für möglichst viele Menschen. Dass sich Ökonomen kaum noch für Philosophie, Philosophen kaum mehr für Ökonomie interessieren, ist unter solchen Voraussetzungen ein gesellschaftliches Fiasko. Soll man den Wert und den Erfolg des Wirtschaftens allein am Wachsen des Bruttoinlandsprodukts bemessen? Ist Wirtschaft gut, wenn sie Wachstumsraten produziert, und schlecht, wenn sie stagniert? Und trägt materielles Wirtschaftswachstum zu allen Zeiten und ohne Einschränkung dazu bei, dass möglichst viele Menschen die Chance auf ein erfülltes Leben bekommen?
Sein Leben mit Gütern anzufüllen, so lehrt uns unser privilegiertes Leben in den reichen Ländern der westlichen Welt, ist noch nicht gleichbedeutend mit Erfüllung. Ökonomie ohne Philosophie ist leer. Philosophie dagegen, die sich um die ökonomischen Gegebenheiten nicht schert, ist blind für das tatsächliche Leben der Menschen. Viele Fragen nach einem erfüllten Leben sind heute unbeantwortet – wie auch die Theoreme der Wirtschaft oft unhinterfragt bleiben. In einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, die Güter wie Zeit, Anerkennung, Liebe und Achtung in den Mittelpunkt eines erfüllten Lebens stellt, stellen sich zugleich Fragen nach einer neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Was die Moderne leisten sollte, hat sie – zumindest in den wohlhabenden Ländern der westlichen Welt – erfüllt. Was nun ansteht, ist eine neue Moderne.
In dieser spannenden Zeit bietet die agora42 eine ganz hervorragende Plattform für Positionen und Theorien, Austausch und Streitkultur, Hintergrundwissen und Visionen. Ich freue mich deshalb sehr, die agora42 von nun an als Mitherausgeber begleiten und unterstützen zu dürfen.
Richard David Precht