Ulrike Guérot: Komm, wir bauen einen europäischen Staat …

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Komm, wir bauen einen europäischen Staat …

Ulrike Guérot

„Die Nation ist eine gefühlsmäßige Gemeinschaft, deren adäquater Ausdruck ein eigener Staat wäre, die also normalerweise die Tendenz hat, einen solchen aus sich herauszutreiben.“

Max Weber (1912)

Wie viele Texte wurden in den letzten Wochen und Monaten vor den Europawahlen vom Mai 2019 geschrieben über „Europa erneuern“, „Europa richtig machen“ oder „Europa neu denken“? Dutzende europäische Verfassungsentwürfe zirkulierten im Vorfeld der Wahlen im Internet, Jan Böhmermann veröffentlichte auf Twitter einen fiktiven europäischen Pass und so weiter und so fort. Die Sehnsucht nach mehr oder jedenfalls einem anderen Europa scheint groß bei den europäischen Bürgerinnen und Bürgern. Doch die Realität sieht anders aus: Kaum war die Europawahl vorbei, wurde das Spitzenkandidaten-Verfahren, das erst zum zweiten Mal in Anwendung war und Unionsbürgern ein Mitspracherecht bei der Auswahl der Kandidatin beziehungsweise des Kandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten einräumt, quasi außer Kraft gesetzt – und Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin bestimmt. Der Europäische Rat (EU-Rat) hatte sich wieder einmal durchgesetzt. Europäische Demokratie mit Bauchschmerzen …

„Alle Souveränität geht vom Volke aus“, so steht es in vielen Verfassungen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Frei nach Kurt Tucholsky möchte man fragen: „Und wo geht sie hin?“ Tatsächlich verhindert schon die bloße Existenz des EU-Rats, dass die politischen Subjekte der EU, also die Bürgerinnen und Bürger Europas, ihrer Souveränität Ausdruck und rechtlichen Bestand geben können (Souveränität wird hier verstanden als Wahl- beziehungsweise Abwahlrecht; sprich: Die europäischen BürgerInnen können weder den Rat in seiner Gänze abwählen noch ihre Präferenzen – beispielsweise eine europäische Arbeitslosenversicherung – durchsetzen; es besteht also eine Krise der politischen Repräsentation). Überdies sind die Mitglieder des Europäischen Rats, der den Großteil der Entscheidungskompetenzen in der EU auf sich vereint, jeweils bloß national, nicht aber gesamteuropäisch legitimiert. Hier ist eine europäische Institution absurderweise nationalstaatlich ausgerichtet, das heißt, die einzelnen Ratsmitglieder sind immer nur ihrer jeweiligen nationalen Untergruppe gegenüber rechenschaftspflichtig und müssen versuchen, für diese – und nur für diese – das „Beste“ herauszuholen. Dadurch werden permanent Bürgerinnen und Bürger eines europäischen Staates gegen diejenigen eines anderen gestellt. Wie soll sich vor diesem Hintergrund ein gesamteuropäisches Bürgertum etablieren können?

Ulrike Guérot
Ulrike Guérot ist Gründerin und Direktorin des European Democracy Lab (EDL) in Berlin und seit 2016 Professorin und Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems/Österreich. Gerade ist ihr neues Buch Was ist die Nation? im Steidl Verlag erschienen. Foto: Dominik Butzmann
Im letzten Wahlkampf drängten die europäischen Bürgerinnen und Bürger nun aber erstmals massiv in das europäische Bewusstsein: Sie wollten gehört werden. Es gab Bürgerbefragungen und Informationsveranstaltungen noch und nöcher und Emmanuel Macron adressierte die Europäer – und nicht die Staats- und Regierungschefs (!) – direkt in einem Brief, den er wenige Wochen vor den Europawahlen in 28 europäischen Sprachen und Zeitungen veröffentlichte.

Dächte man also ernsthaft über Volkssouveränität im europäischen Rahmen nach beziehungsweise möchte man die Frontstellung zwischen Staatenunion und Bürgerunion der EU durchbrechen, dann müsste man erstens den EU-Rat mit seiner intransparenten Entscheidungsfindung abschaffen und zweitens die Souveränität der europäischen Bürgerinnen und Bürger durch eine vollständige Parlamentarisierung des europäischen Systems aufwerten, die im 21. Jahrhundert auch partizipative Elemente enthalten müsste. Eine veritable europäische Staatsbürgerschaft und die konsequente Durchsetzung des allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatzes für alle europäischen Bürgerinnen und Bürger könnte der erste Schritt auf dem Weg in die vollständige Demokratisierung Europas sein. Zumindest wäre es der wichtigste!

Denn das Problem mangelnder Souveränität liegt letztlich darin begründet, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas keine Rechtsgleichheit genießen: nicht bei Wahlen, nicht bei den Steuern und nicht beim Zugang zu sozialen Rechten – sie fehlt also in allen Bereichen, die den bürgerlichen Status der Europäer erst ausmachen. Damit bleibt aber die Grundannahme des Maastrichter Vertrages von 1992, der zufolge die EU gleichzeitig eine „Union of States“ und eine „Union of citizens“ ist, zur Hälfte unerfüllt. De facto ist die EU bisher nur eine Staatenunion und noch keine richtiggehende Bürgerunion.

Das Problem mangelnder Souveränität liegt letztlich darin begründet, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas keine Rechtsgleichheit genießen

Anders formuliert: Bezeichnet man die EU-Rechtsgemeinschaft als einen gemeinsamen rechtsstaatlichen Rahmen für Güter, Kapital, Dienstleistungen und Personen, dann bietet die EU Rechtsgleichheit für Güter (den Binnenmarkt), Kapital (den Euro) und für Dienstleistungen (beziehungsweise „Arbeitskräfte“), nicht aber für Personen als politische Subjekte. In diesem Zusammenhang sei auf die Urteile des EuGH zur Dienstleistungs- beziehungsweise Entsenderichtlinie verwiesen, die immer wieder gleiche Gehälter für die Bürger auf europäischem Territorium anmahnen. Sprich: Die eigentlichen bürgerlichen Belange bleiben quasi in nationalen Rechtscontainern eingeschlossen. Die Rechtsgleichheit, also die normative Ordnung, gleichsam auf Güter und Kapital zu begrenzen, ist aber der europäischen Geistesgeschichte unwürdig! Die Bürgerinnen und Bürger als politische Subjekte sind der eigentliche Souverän des politischen Systems in Europa; oder müssten es zumindest sein, wenn Europa demokratisch sein soll. Ein Finne kann zwar als Unionsbürger in Tansania zum portugiesischen Konsulat gehen; ein Portugiese erhält aber beispielsweise nicht das gleiche Arbeitslosengeld und zahlt auch nicht die gleichen Steuern wie ein Finne. Rechtsgleichheit im sogenannten „Sacre du Citoyen“ („Heiligtum der Bürger“), wie der französische Soziologe Pierre Rosanvallon das nennt, wäre aber die Voraussetzung jeder Demokratie.

Eine Europäische Staatsbürgerschaft

Vielleicht drängt der Begriff „European citizenship“ gerade deswegen vehement in die zeitgenössische europäische Debatte? Im Zuge der Brexit-Verhandlungen wurden auf der britischen Insel Pässe aus Kontinentaleuropa zu einem extrem begehrten Gut. Und Österreich bietet Tirolern auf italienischem Staatsgebiet österreichische Pässe an. Der Pass wird wieder zum Synonym für Zugehörigkeit – und auch für Rechte. Die österreichische Popband Bilderbuch, zusammen unter anderem mit dem deutschen Satiriker Jan Böhmermann, warb vor den Europawahlen für einen europäischen Pass. Würden die 66 Millionen Briten über einen solchen Pass verfügen, könnte das Vereinigte Königreich getrost aus der EU austreten, die Briten blieben dennoch europäische Bürger mit allen bürgerlichen und sozialen Anspruchsrechten. Schwuppdiwupp wäre durch einen europäischen Pass die Verwandlung von der EU-Staatenunion, in der der EU-Rat entscheidet, zu einer europäischen Bürgerunion, in der die Bürgerinnen und Bürger der Souverän sind, gelungen. Die Demokratisierung Europas könnte beginnen.

Das Prinzip „Eine Person, eine Stimme“ in ganz Europa wäre der nächste wichtige Schritt, wenn auf dem europäischen Kontinent eine demokratische, politische Einheit begründet werden soll.

Mit einer Staatsbürgerschaft einher geht das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. Das Prinzip „Eine Person, eine Stimme“ in ganz Europa wäre der nächste wichtige Schritt, wenn auf dem europäischen Kontinent eine demokratische, politische Einheit begründet werden soll. Erst dann könnte das Europäische Parlament wirklich zum Sachwalter einer europäischen Demokratie werden, die ihren Namen verdient. Anders formuliert: Wir müssen das Erbe der Französischen Revolution europäisieren. Die Republiken, die im Nachgang der Revolution als nationalstaatliche Rechtseinheiten begründet wurden, müssten verschmelzen, damit auch die bürgerlichen Rechte aller Europäer verschmelzen. Schon Jean-Jacques Rousseau schrieb 1792: „Es gibt heute keine Franzosen, Deutsche, Spanier, nicht einmal Engländer mehr, es gibt nur noch Europäer. Alle haben den gleichen Geschmack, dieselben Sitten, dieselben Leidenschaften, weil keiner unter ihnen die nationale Form(ation) durch die Hervorbringung einer besonderen Institution erhalten hat.“ Es hat also keine europäische Nation besondere politische Institutionen hervorgebracht, die sie von denjenigen anderer Nationen grundsätzlich unterscheiden würden. Im Grunde heißt das: Warum gründen sie dann nicht alle gemeinsam einen Staat?

Fatalerweise wird der Diskurs über eine europäische Staatsbürgerschaft weitestgehend entlang kultureller Bestimmungen geführt: Fast immer wird versucht, dem Begriff „European citizen“ eine gemeinsame europäische Identität oder ein gemeinsames, kulturelles Werteverständnis abzuringen (wobei diese „Werte“ nur selten spezifiziert werden). Sehr häufig wird dabei das Argument ins Feld geführt, dass eine europäische Demokratie nicht ohne eine „europäische Öffentlichkeit“, einen „europäischen Demos“ oder eine „gemeinsame europäische Identität“ begründet werden könne. Doch Bürger sein heißt nicht, sich lieb zu haben und die gleichen Werte zu teilen. Sondern Bürger sein heißt vor allem, die gleichen Rechte zu haben. Das ist etwas ganz anderes! Würde die EU nur dies einlösen, nämlich dass alle europäischen Bürgerinnen und Bürger die gleichen Rechte genießen, dann könnte man im Handumdrehen all die Dinge etablieren, die man braucht, um eine europäische Demokratie zu organisieren: zunächst ein europäisches Vereinsrecht, das banalste aller bürgerlichen Rechte; dann ein europäisches Parteienstatut, ein europäisches Stiftungsrecht etc. Die ersten transnationalen Parteien hat es bei den letzten EP-Wahlen gegeben: VOLT und DiEM. Diese mussten sich aber mit nationalem Parteirecht in den einzelnen EU-Ländern begnügen – ein Widerspruch in sich.

Doch Bürger sein heißt nicht, sich lieb zu haben und die gleichen Werte zu teilen. Sondern Bürger sein heißt vor allem, die gleichen Rechte zu haben.

Übersehen wird in dieser Diskussion gerne, dass Rechtsgleichheit für Bürgerinnen und Bürger keine Zentralisierung bedeutet. Zum Beispiel sind heute Korsen und Bretoninnen nicht durch eine gemeinsame Kultur, nicht einmal durch eine gemeinsame Sprache geeint in der République Française, sondern durch gemeinsames Recht. Ebenso wird in der Bundesrepublik auf der Grundlage desselben Rechts von Rügen bis München trotz kultureller Unterschiede und ökonomischen Gefälles das gleiche Arbeitslosengeld gezahlt.

Aus der Wahlrechtsgleichheit ergibt sich der nächste Schritt der großen europäischen Reformation: nämlich dem europäischen Vergesellschaftungsprozess, den die Bürger Europas in den letzten sechzig Jahren gemeinsam durchlebt haben, endlich einen europäischen Staat folgen zu lassen. Damit wäre endlich auch klar, wer das legitime Gewaltmonopol in Europa innehat. Wer entscheidet in Europa? Die EU? Die Mitgliedstaaten? Oder die europäischen Bürgerinnen und Bürger als Souverän? „Ein Markt, eine Währung, eine Demokratie“ – so müsste das Motto lauten, um in den augenblicklichen Niedergang der EU hinein den europäischen Staat von morgen zu bauen. Die Mehrheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger ist schon heute davon überzeugt, dass es die EU 2040 nicht mehr geben wird: Zeit, darüber nachzudenken, was wir danach machen …

Bürger konkurrieren nicht und sollten es auch nicht innerhalb Europas tun!

Die Einführung des Euro ist über ein Jahrzehnt hinweg Schritt für Schritt vorbereitet worden. Innerhalb von zehn Jahren wurden von Lappland bis zur Südspitze der Algarve alle Geldautomaten mit Euros ausgestattet. Alle europäischen Bürgerinnen und Bürger haben daraufhin eine IBAN-Nummer bekommen. Sollte es nicht möglich sein, auf dem gleichen Weg in einem auf fünf, zehn oder fünfzehn Jahre angelegten Prozess dafür zu sorgen, dass wir von Tampere bis Thessaloniki Wahlrechtsgleichheit haben? Und dann eine europäische Steuernummer zu vergeben? Und dann eine europäische Sozialversicherungsnummer einzuführen, sprich eine European Social Security Number (ESSN), die allen die gleiche Arbeitslosenversicherung oder das gleiche europäische Grundeinkommen garantiert? Und schließlich allen Bürgerinnen und Bürgern eine europäische ID zuzuweisen, also einen europäischen Personalausweis? Denn Bürger konkurrieren nicht und sollten es auch nicht innerhalb Europas tun!

Institutionalisierte Solidarität

Im Sinne des französischen Soziologen Marcel Mauss ist eine Nation letztlich nichts anderes als „‚institutionalisierte Solidarität‘ einer Gruppe von Individuen, die sich ihrer wechselseitigen ökonomischen und sozialen Abhängigkeit bewusst wird“. Dies verweist treffgenau auf die aktuelle europäische Debatte: Letztlich ringt Europa – wenn es beispielsweise um die Vorschläge von Emmanuel Macron geht, einen europäischen Finanzminister oder einen Euro-Haushalt einzuführen – um nichts anderes als um die Frage, wie die faktische europäische Vergesellschaftung institutionell umgesetzt werden soll.

Hätten die europäischen Bürgerinnen und Bürger eine europäische ESSN und eine europäische ID-Card, kurz: gälte der allgemeine politische Gleichheitsgrundsatz für alle in Europa gleichermaßen, dann müssten wir unselige Debatten, wie sie gerade wieder geführt werden – ob wir beispielsweise die Italiener aus dem Euro herausschmeißen oder wo ein Seenotrettungsboot im Mittelmeer anlegen darf – nicht mehr führen. Solche Wir-gegen-die-Diskussionen würden aufhören. Die europäische Solidarität wäre institutionalisiert und nicht mehr beliebig. Dies könnte im Rahmen einer Stichtagsregelung, zum Beispiel zum 1. Juli 2025, 2030 oder 2035 geschehen – genauso wie man das beim Euro gemacht hat. Es könnte dabei sogar für eine Bestandssicherung gesorgt werden – beispielsweise dadurch, dass die ESSN ab dem Stichtag nur für Neugeborene gilt und alle anderen europäischen Bürgerinnen und Bürger in ihren nationalen Systemen verbleiben. Damit wäre für einen gleichsam organischen Übergang in einen gemeinsamen europäischen Rechtsraum gesorgt.

Summa summarum: Europa braucht ein klares Ziel, eine klare Richtung, eine konkrete Idee von sich selbst.

Summa summarum: Europa braucht ein klares Ziel, eine klare Richtung, eine konkrete Idee von sich selbst. Dieses Ziel kann nur darin bestehen, das politische System der EU von einer Staatenunion in eine wirkliche europäische Demokratie zu überführen. Der eine europäische Markt und die eine europäische Währung müssen endlich um eine europäische Demokratie ergänzt werden. Dies wäre die große Reformation Europas!


Dieser Artikel ist in der Ausgabe 4/2019 DEMOKRATIE UND WIRTSCHAFT erschienen. Mehr dazu finden Sie hier: