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Hoffnung auf unbeschädigte Zukunft
Text: Olivia Mitscherlich-Schönherr | online veröffentlicht am 11. Juli 2025
Angesichts der Unhaltbarkeit unserer gewohnten Lebensform und der Schwierigkeit, Alternativen zu ihr zu finden, scheint Hoffnung in die Sackgasse geraten zu sein. Ist Hoffnung heute nur noch eine Weltflucht in Fantastereien?
In den rasanten Umbrüchen der Gegenwart erscheint der Wunsch nach philosophischer Orientierung als ein heilloses Unterfangen. Wie Stand gewinnen, wenn immer aufs Neue Grundprinzipien und Leitbegriffe fragwürdig werden, an denen man sich lange ausgerichtet hat? Weiterhelfen kann ein Blick auf die frühe Kritische Theorie. In den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts hat sie eine rückhaltlose Orientierung in bewusster Verzahnung von Theorie und Praxis gebahnt. Vom Philosophen und Kulturkritiker Walter Benjamin stammt die pointierte Formel vom „Zeitkern“ der Wahrheit. Gemeint ist nicht nur, dass alle theoretische Selbstverständigung inmitten der Zeit und eingebunden in historische Kontexte stattfindet. Reflektiert wird auch die politische Macht theoretischer Analysen: dass die Art und Weise, wie historisch über menschliches Leben gedacht wird, mitbestimmt, wie de facto gelebt wird. Genau diese Theorie-Praxis-Verbindungen werden von der kritischen Theorie genutzt: um – in Zeiten des Umbruchs – das theoretische Verständnis und die Praxis gelingenden Lebens zu verbessern, indem Defizite gesellschaftlicher Leitbilder aufgewiesen werden.
Ernst Bloch hat diese „Theorie-Praxis“ wie kein Zweiter für eine transformative Hoffnungsphilosophie fruchtbar gemacht. Er hat ein Philosophieren gebahnt, das sich für eine Vervollkommnung gegenwärtiger Hoffnung einsetzt, um eine Zukunft unbeschädigten Gedeihens zu befördern. Hoffnung ist unser „Sinn für die Möglichkeit des Guten“ – so der Theologe Ingolf U. Dalferth. Im Unterschied zum „Wirklichkeitssinn“ des rationalen Urteilens strebt dieser Möglichkeitssinn über die aktuelle Wirklichkeit hinaus: zu bisher noch nicht realisierten Möglichkeiten des Gedeihens. Dabei ist Hoffnung jedoch keine Weltflucht in Fantastereien. Erhofft werden vielmehr Glücksmöglichkeiten für das wirkliche Leben. Hieraus speist sich ihre politische Relevanz: Hoffende Menschen können hier und jetzt Ansatzpunkte neuen Glücks aufspüren – gleichsam in den Zwischenzeilen von Leid, Enttäuschung und Zerstörung.
Bloch macht sich nun eine Kultivierung der zukunftseröffnenden Hoffnungen zur Aufgabe. Nicht alle politischen Neuanfänge, die hoffende Menschen anstoßen, sind nämlich Entwicklungen zum Guten. In den 1940er-Jahren stellt Bloch fest, dass insbesondere faschistische Bewegungen den „Wärmestrom“ politischer Hoffnung zu nutzen wussten. Die glitzernden Versprechungen von MAGA scheinen diese Einschätzung gegenwärtig aufs Neue zu bestätigen. Bloch geht es aber nicht um moralische Kritik, sondern um eine Vervollkommnung konkreter Hoffnungen als Hoffnung.
Kritische Theorie im engeren Sinne ist die Bezeichnung für die sogenannte Frankfurter Schule, also das Projekt einer interdisziplinären, philosophisch fundierten, kritischen Gesellschaftstheorie, wie es am 1923 gegründeten Frankfurter Institut für Sozialforschung betrieben worden ist. „Kritisch“ ist diese von Marx, Hegel, Freud und Max Weber inspirierte Theorie, insofern sie der von ihr so bezeichneten traditionellen Theorie vorwirft, eine geschichtslose, angeblich wertfreie Wissenschaft zu betreiben und einen instrumentellen, nur auf die Umsetzung vorgegebener Zwecke reduzierten Vernunftbegriff zu verabsolutieren. Zu den bekanntesten Vertretern der frühen Kritischen Theorie gehören Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Walter Benjamin und Erich Fromm.
Lernprozesse politischer Hoffnung
Dafür nutzt er die Radikalität menschlicher Glückssehnsüchte: dass man auf Dauer nicht glücklich wird, wenn man immer die Augen vor fremdem Leid verschließen muss – etwa: um das Leid von Migrant*innen zu vergessen, die die eigene Regierung ohne rechtsstaatliche Verfahren außer Landes schafft. Durch philosophische Kritik treibt Bloch konkrete Formen der Hoffnung über ihre Defizite hinaus – um philosophisch für eine Zukunft ungetrübten Glücks zu streiten.
In den aktuellen Umbrüchen lassen sich mit Bloch Lernprozesse politischer Hoffnung befördern. Vor einem halben Jahr habe ich in einem Artikel für die vorliegende Zeitschrift die Erneuerungen politischer Hoffnung nachgezeichnet, die sozio-ökologische Bewegungen in den letzten Jahren durchlaufen haben. Meine These war: Grüne Bewegungen haben die politische Hoffnung auf allgemeinen Wohlstand durch ökonomisches Wachstum, die über Jahrzehnte von Linken und Rechten geteilt wurde, angesichts ihrer ökologischen Nebenkosten aufgegeben. Gewonnen haben sie transformierte Hoffnungen, die ökologische Krise für eine emanzipatorische Politik zu nutzen: die zerstörerische Wachstumsgesellschaft zu überwinden und neue Formen eines sozialen Miteinanders zu bahnen, in denen alle menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen auf Erden gedeihen.

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Die politischen Umbrüche der vergangenen Monate legen einen weiteren Lernschritt in der „Theorie-Praxis“ politischer Hoffnung nahe. Nun geht es darum, die blinden Flecke der grünen Politiken zur Realisierung der öko-emanzipatorischen Hoffnungen auszuleuchten. Denn die emanzipatorischen Hoffnungen auf allgemeine Selbstbestimmung geraten nicht etwa durch die Wahlerfolge der Rechten in Bedrängnis. Im Gegenteil ist es oft so, dass reale Widerstände die Hoffnungen auf unausgeschöpfte Möglichkeiten des Glücks gerade befeuern können. Vielmehr geraten die grün-emanzipatorischen Hoffnungspolitiken durch innere Widersprüche bei ihrer Umsetzung unter Druck. So wurden, um die Selbstbestimmung aller im Kampf gegen die kapitalistischen Praktiken der Aneignung, Vernutzung und Zerstörung zu schützen, überbordende Regelwerke erlassen. Der Soziologe Ingolfur Blüdorn diagnostiziert eine doppelte „Unhaltbarkeit“ der Spätmoderne: die Unhaltbarkeit einer zerstörerischen kapitalistischen Lebensform und die Unhaltbarkeit des „öko-emanzipatorischen Projekts“ einer politisch-kulturellen Elite, die sich im Kampf für Emanzipation zunehmend von denjenigen entfremdet, um deren Selbstbestimmung es ihr eigentlich geht.
In den aktuellen Sackgassen politischer Hoffnung verbieten sich allzu einfache Lösungen wie zum Beispiel eine optimistische Lebenshaltung, die sich gegen die skizzierten Unhaltbarkeiten abpuffert. Strategien der Selbstimmunisierung nehmen politischer Hoffnung ihre transformative Kraft. Sie wird zur Weltflucht. Nicht besser ist es um die Versuche bestellt, beim Hoffen etwas zurückzufahren und sich mit den kleinen Privathoffnungen zu begnügen. Denn die Hoffnung auf einen entspannten Sommerurlaub bekommt leicht etwas Verbissenes, wenn insgeheim nicht mitgehofft wird, dass ein Krieg zwischen Europa und Russland abgewendet und die globale Klimakatastrophe doch noch bewältigt wird.
Spirituelle Hoffnungskultur
Einen echten Lernschritt in Sachen Hoffnung drücken dagegen Menschen aus, die es angesichts der Unhaltbarkeiten der Spätmoderne vermögen, religiös oder spirituell zu hoffen. Zu denken ist nicht nur an all die Menschen, die aus der ganzen Welt nach Rom gepilgert sind, um dem neu gewählten Papst zuzujubeln. Ergänzen ließe sich dieses Bild mit Blick auf jüngste Entwicklungen in Frankreich: dass sich unter den verwunderten Blicken kirchlicher Würdenträger plötzlich sehr viele junge Erwachsene taufen lassen. Man sollte aber auch all diejenigen nicht vergessen, die in vielfältigen religiösen Traditionen unterschiedliche Praktiken des Gebets, der Meditation und der leiblichen Achtsamkeit einüben. Gelebt werden können selbstkritische Formen von Hoffnung, die vom Wissen um eigene Unzulänglichkeiten geprägt ist – dies ist etwas, was emanzipatorischer Politik oft fehlt. Angesichts von aktueller Gewalt und Zerstörung wird eine Zukunft unbeschädigten Glücks erhofft – ohne dabei der Versuchung zu erliegen, diesen Zustand innerweltlich durch politische Regelwerke herstellen zu wollen.
Eine spirituelle Hoffnungskultur muss nicht mit der Zumutung einhergehen, „das Selbstdenken an der Garderobe abzugeben“ – wie Verfechter einer dogmatischen Aufklärung allzu gerne unterstellen. In Meditationspraktiken aus unterschiedlichen religiösen Traditionen kann vielmehr eine Hoffnungskunst ohne metaphysische Rückversicherungen gelebt werden. Mit Meister Eckhart gesprochen geht es gerade um konsequentes „Entbilden“. Zur Erläuterung benutzt Eckhart die Begriffe „Nicht-Wissen“ und „Nicht-Wollen“ und meint: nicht nur alle metaphysischen Bilder des Absoluten, sondern auch alle willentlich-begehrenden Festlegungen loszulassen. Fürs Hoffen wird in solchen Entbildungsprozessen eine schwebende Haltung der Zuversicht gewonnen, die darauf verzichtet, die Zukunft unbeschädigten Glücks „auszupinseln“ – wie es Theodor W. Adorno später ausdrücken sollte. Genau hieraus speist sich ihre Aktualität in der Spätmoderne, in der öko-emanzipatorische Utopien fragwürdig werden.
Zugleich lässt sich von all den Menschen, die dem neuen Papst entgegenhoffen, lernen, dass es sich bei dieser schwebenden Zuversicht keineswegs um einen bloß luftig-erbaulichen Gefühlszustand handelt. Es geht um praktizierte Hoffnung: in Akten der Nächstenliebe, in Politiken der Solidarität und der Versöhnung sowie im Einsatz gegen Ausbeutung, Krieg und Zerstörung daran mitzuwirken, dass unbeschädigtes Gedeihen stattfinden kann. In der Rede zu seiner Amtseinführung hat der neue Papst dies genauso unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wie bereits sein Vorgänger auf dem Stuhl Petri. ■
Dieser Text ist auch in der agora42 3/2025 zum Thema HOFFNUNG erschienen. Das ganze Heft können Sie in unserem Shop bestellen.

Olivia Mitscherlich-Schönherr ist Privatdozentin für Philosophie an der Universität Potsdam und Distinguished Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in der Erforschung von Grenzsituationen des Lebens. Neben dem Lebensende, dem Lebensanfang und neuartigen Formen der Mensch-Maschine-Interaktion setzt sie sich mit den krisenhaften Naturverhältnissen der Gegenwart auseinander. Gemeinsam mit Mara-Daria Cojocaru und Michael Reder ist sie Herausgeberin des Sammelbandes Kann das Anthropozän gelingen? Krisen und Transformationen der menschlichen Naturverhältnisse im interdisziplinären Dialog (De Gruyter, Berlin/Boston 2024).
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