Friedrich Nietzsche: Das radikal Neue | von Tanja Will

Illustration: DMBO

Friedrich Nietzsche

Das radikal Neue

Ein Porträt von Tanja Will

Nietzsche – der Name des Anthropologen, der sich einst verkannt, einsam und ohne Beachtung fühlte, ist heute jedem ein Begriff. Kaum ein Philosoph hat seine Thesen nicht an ihm geschliffen, rechts- und linkspolitisch Orientierte fühlen sich von ihm inspiriert und seine freiheitlichen Ideen prägen unsere westliche Kultur und Wissenschaft sowie unser aufklärerisches Gedankengut. Aber nicht nur im Denken, auch in der Praxis wird Nietzsche „verwendet“: Gläubige kreiden ihm Gotteslästerung an, Liberale preisen ihn als Vordenker des freien Individuums, Unternehmer loben seinen Mut, Risiken einzugehen, Manager kommunizieren im Sinne seiner konfrontativ-produktiven Art und Kreative hören seinen Appell zur ständigen Neuerschaffung der Welt. Nicht unerwähnt, da vielfach getadelt, soll auch die Untermauerung und Radikalisierung manch einer Ideologie durch Nietzsches Worte bleiben. Und selbst Ärzte finden anhand der Krankheitsgeschichte des Philosophen Anlass, Syphilissymptome neu zu deuten.

Die Sprache der Verführung
Das Porträt von Nietzsche ist, in Anbetracht seiner vielfältigen Rezeption, bunt. Der Mensch, der sich selbst für Dynamit hielt, hinterließ uns keine zentrale Aussage, die es zu lernen, behalten und überliefern gilt. Er war kein Lehrmeister im althergebrachten Sinne, der ein Theoriegebäude ausarbeitet, das man erlernen oder befolgen könnte. Er überließ uns vielmehr Fragmente seines Denkens. Darüber, welche seiner Schriften als „Hauptwerk“ zu deuten sind, herrscht große Uneinigkeit. Schlägt man sie auf, ist man erstaunt über die sonderbare Sprache, die man in Zeiten präziser Begriffsbestimmung und eindeutiger Kommunikation nur selten zu lesen bekommt. Gleichnisse und Gedichte verschnörkeln mit kraftvollen Worten die Lehren des Zarathustra, dem berühmten Lehrmeister der Menschen, den Nietzsche entwarf. Durch ihn wollte er zum Leser sprechen. Doch von genauer Informationsübermittlung fehlt hier jede Spur. Vielmehr muss man sich in die melodischen Worte hineinfühlen, sie deuten und über ihren vielschichtigen Sinn Vermutungen anstellen. „Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will, umso mehr muss man erst die Sinne zu ihr verführen.“ Dieser Satz dürfte jedem, der Informationen in Textform vermitteln will, fremd sein. Die Sinne verführen? Das gehört doch nicht in Literatur mit einem ernsthaften Anliegen! Mit Friedemann Schulz von Thun, dem Vordenker effektiver Kommunikation, lassen sich vielleicht vier verschiedene Ohren ansprechen oder die Informationsvermittlungen der Sender für die Empfänger optimieren – aber den Leser zu einer Wahrheit verführen …?

Für Nietzsche folgt aus dem Senden einer Information nicht automatisch auch deren Empfang.

Für Nietzsche folgt aus dem Senden einer Information nicht automatisch auch deren Empfang. Er berücksichtigt etwas, was so mancher Autor gern vergisst, nämlich dass er für Menschen schreibt und nicht für „Empfänger“. Und dass diese Menschen, im besten Fall, nicht nach Sätzen suchen, an die sie glauben können, sondern die sie zum Denken anregen. Überzeugungsarbeit unter dem Deckmantel der Objektivität, die nach wiederkäuenden Anhängern sucht, ist nicht nach Nietzsches Geschmack. Verführung ist eine Kunst, die Feingefühl braucht und eine hohe Kenntnis des zu Verführenden voraussetzt. Sofern sie glückt, wird der Verführte nicht zu einem überzeugten Anhänger, sondern zu einem im Innersten inspirierten Menschen. Sie legt damit den Grundstein für die Entstehung von Neuem, da sie für den Verführten keine Niederlage darstellt wie im argumentativen Schlagabtausch, sondern im Gegenteil seine Vollkommenheit ehrt und sich an ihr berauscht. Nietzsche versuchte mit seinen Worten, den Menschen zu berühren. Hierin liegt die Stärke von Nietzsches Schriften. Man muss kein Kenner sein, um Nietzsche zu lesen – schauen wir also, ob uns einige seiner Worte heute noch verführen können.

Was ist der Mensch?
Der Mensch steht bei jedem Anthropologen im Mittelpunkt. Nietzsche wagte nicht weniger, als über den Menschen hinaus zu gehen, und skizzierte den Übermenschen. Dieses Wagnis ist infolge des Nationalsozialismus hitzig angegriffen worden: Die Vorstellung eines „Herrenmenschen“, der in irgendeiner Form hierarchisch über seinen Mitmenschen steht, ja eigentlich gar kein Mitmensch mehr ist, sondern entsolidarisiert und herrschend auf sie herab blickt, erscheint ungeheuerlich und gefährlich. Nun hat diese Interpretation aber nichts mit Nietzsche, sondern mit dem Größenwahn der Nationalsozialisten zu tun. Nietzsche dachte an einen höheren Menschen, der seine Taten und Worte nicht nach größtmöglicher Bequemlichkeit wählt, sondern der mit den Widrigkeiten des Lebens ringt. Er dachte an einen Menschen, der seine destruktiven Ideen nicht aus Scham verbirgt, sondern diese als rechtmäßige Handlungsmotivation anerkennt. Diesen Übermenschen setzte Nietzsche dem Trend entgegen, sich von sich selbst zu entfremden und nach größtmöglicher Gefälligkeit und Anpassung zu streben. Der Hang des Menschen zur Faulheit und Lethargie, so meinte er, verstärke das Verlangen, geführt zu werden und Teil einer gleichförmigen Masse zu sein. Der Übermensch hingegen wird durch seine Singularität lebendig und schafft aus sich selbst heraus eigene Werte und Ordnungen. Genau genommen negiert er alle vorgegebene Form und Ordnung, da er durch seinen berauschten Lebensstil mit sich selbst im Einklang, jeden Moment als persönliche Neuentdeckung feiert. Er ist damit für Nietzsche der lebendigste, weil schaffendste Mensch.

Der Übermensch ist für Nietzsche der lebendigste, weil schaffendste Mensch.

Nun könnte man meinen, dass wir auf dem besten Weg dorthin sind, alle zu Übermenschen zu werden: Nicht nur in Schule und Beruf werden souveräne und individuelle Persönlichkeiten gefördert. Eigene Ziele zu formulieren und diese durchzusetzen, ist bereits Bestandteil der Kleinkind-Pädagogik – etwa in Form von Kindergartenkonzepten, bei denen die Kindern lernen, ihre Aktivitäten jeden morgen selbst zu bestimmen, statt einem Gruppentagesplan zu folgen. Die Kultivierung der individuellen Persönlichkeit hält auch in jungen Konzernen Einzug. Google sucht beispielsweise in der nicht-virtuellen Welt gezielt nach löchrigen, verrückten, überraschenden Lebensläufen zur Personalgewinnung. Die am Leben gereifte Persönlichkeit wird damit zum Hoffnungsträger des wirtschaftlichen Fortschritts und Erfolges. Ein Zahnrad im Getriebe zu sein, ist schon lange out, der persönliche Erfolg ist in – und bringt die Gesellschaft voran.

So weit zu den Träumen einer angeblich liberalen Wirtschaftselite. Nun zurück zu Nietzsche. Dieser würde in unserer selbsternannten individualistischen Gesellschaft eine Menge Konzepte, Theorien und Vorgaben finden, die uns tagtäglich zur Folgsamkeit zwingen. Sei es die Anpassung an Unternehmenskulturen, an Markterfordernisse, an Pfadabhängigkeiten, an den Willen der Mehrheit, an statistische Fakten, an das stärkere Argument, an das Wohl der Allgemeinheit oder an das Gebot der Nachhaltigkeit – das „du sollst“ ist allzeit mächtig, das „ich will“ dagegen noch ein leises Flüstern.

Das „du sollst“ ist allzeit mächtig, das „ich will“ dagegen noch ein leises Flüstern.

„Es gibt kein öderes und widrigeres Geschöpf in der Natur als den Menschen, welcher seinem Genius ausgewichen ist und nun nach rechts und nach links, nach rückwärts und überall hin schielt. Man darf solchen Menschen zuletzt gar nicht mehr angreifen, denn er ist ganz Außenseite ohne Kern, ein anbrüchiges, gemaltes, aufgebauschtes Gewand, ein verbrämtes Gespenst, das nicht einmal Furcht und gewiss auch kein Mitleiden erregen kann.“

Dieses „öde Geschöpf“, für Nietzsche ein jeder Mensch seiner Zeit, verwandelt die Welt in eine Wüste. Diese ist ein häufig wiederkehrendes Gleichnis in Nietzsches Denken. In einem verwüsteten Ort kann nichts Neues mehr entstehen, weil die Voraussetzung dafür fehlt – das Lebendige. Der chaotische, unberechenbare, irrationale, impulsive Moment, der jedem Menschen eigen ist, solange er noch Kind ist, wird unterdrückt, um fremde Anforderungen, die man als höhere Anforderungen empfindet, zu erfüllen. Nietzsche ist sich sicher: „Alle geordnete Gesellschaft schläfert die Leidenschaften ein.“ Die Wüstenzeit, so könnte man Nietzsche folgend zur Moderne sagen, unterdrückt die menschliche Lebendigkeit und ist für ihn deshalb nicht von Dauer.

„Wenn man mit Recht vom Faulen sagt, er töte die Zeit, so muss man von einer Periode, welche ihr Heil auf die öffentlichen Meinungen, das heißt auf die privaten Faulheiten setzt, ernstlich besorgen, dass eine solche Zeit wirklich einmal getötet wird: ich meine, dass sie aus der Geschichte der wahrhaften Befreiung des Lebens gestrichen wird. Wie groß muss der Widerwille späterer Geschlechter sein, sich mit der Hinterlassenschaft jener Periode zu befassen, in welcher nicht die lebendigen Menschen, sondern öffentlich meinende Scheinmenschen regierten; weshalb vielleicht unser Zeitalter für irgend eine ferne Nachwelt der dunkelste und unbekannteste weil unmenschlichste Abschnitt unserer Geschichte sein mag.“

Wie entsteht Neues?
Der Mensch ist für Nietzsche ein Tier, das auf einmal sich selbst entdeckt. Statt eins zu sein mit sich und seinem Willen, kommt er plötzlich auf die Idee, sich selbst durch die Augen seiner Mitmenschen, eines Gottes, einer Natur zu betrachten und zu maßregeln. Er schämt sich seines fremdschädigenden und egoistischen Verhaltens und bekommt ein schlechtes Gewissen. Diese Perspektivübernahme zähmt den Menschen und wird im Allgemeinen auch als Zivilisationsprozess bezeichnet, durch den das Gefällige, Umgängliche und Liebliche des Menschen ausgeprägt wird. Was hat dies nun mit der Entstehung von Neuem zu tun? Nietzsche folgend gründet in dem schlechten Gewissen, der Parteinahme gegen sich selbst, der Wunsch nach Veränderung. Der Mensch „erweckt für sich ein Interesse, eine Spannung, eine Hoffnung, beinahe eine Gewissheit, als ob mit ihm sich etwas ankündige, etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein großes Versprechen sei“.

„… als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein großes Versprechen sei.“

Der Mensch beginnt also über sich selbst nachzudenken, um aus sich etwas Höheres zu machen.

Das Problem ist nun, dass sich dem änderungswilligen Menschen das Neue nicht unmittelbar als das Erstrebenswerte zu erkennen gibt. Wahrhaft Neues erscheint ihm immer zunächst als etwas Böses, Bedrohliches, Zerstörendes. Die altbekannte Welt, von der er weiß, wie sie funktioniert, ist die gute Welt. Dort erlebt er keine Überraschungen. Das Potenzial des Neuen verbirgt sich zunächst hinter seiner zerstörerischen Kraft und ist deshalb von geordneten (Wirtschafts-)Systemen zurückgedrängt, statt befördert worden. Der Widerspruch, das Gewagte, das Unerprobte und der Umsturz finden bis heute nur schwer Anhänger, da ihre Wirtschaftlichkeit und ihr Nutzen nicht sicher vorhersagbar sind. Deshalb streben liberale Märkte auch nach Beständigkeit, nicht nach unkontrollierbaren Schocks. Der gern gepriesene kreative Unternehmer ist kaum an radikal Neuem interessiert, sondern eher an Produktweiterentwicklung und marktkonformer Innovation.

Der Widerspruch, das Gewagte, das Unerprobte und der Umsturz finden bis heute nur schwer Anhänger, da ihre Wirtschaftlichkeit und ihr Nutzen nicht sicher vorhersagbar sind.

Das Streben des Menschen nach Harmonie nennt Nietzsche nach dem griechischen Gott Apollon das Apollinische. Doch diese Seite hat, wie sollte es anders sein, auch ihren Gegenpart: das Dionysische. Dionysos ist ein vertriebener Halbgott, der in der Ferne umherirrt und in Rausch und Wahnsinn nicht zur Ruhe kommt. Der Mensch vereint das Apollinische und das Dionysische in sich und birgt neben dem „Herdentier“ einen Rest an Impulsivität und Unberechenbarkeit. Gerade in Letzterem sieht Nietzsche das Lebendige, welches das Potenzial hat, uns zum „Übermenschen“ zu machen. Erst wenn wir aus den Alltagskonventionen ausscheren und die gewohnte Normalität zerfällt, öffnet sich die Welt des Unvorhergesehenen und Überraschenden. In dieser Welt des Rausches fühlen wir uns eins mit uns selbst, vergessen alle theoretische Erkenntnis und Moral, kurzum gesellschaftlich auferlegte Zwänge. Im Dionysischen gelangen wir mit unserem Wollen, Fühlen, Denken, also mit uns selbst in Einklang. Die Kluft zwischen dem Menschen, wie er sein soll und wie er ist, ist überwunden. Die Wirtschaft pickte sich diese Idee des Dionysischen heraus und nennt diesen Zustand „Flow“. Unternehmen versuchen seither, für ihre Mitarbeiter ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das sie in diesen Flow versetzt, damit sie durch ekstatisches Arbeiten noch größere Leistungen erbringen. Dies mag kurzfristig die Arbeitsgeschwindigkeit tatsächlich anheben; Neuerungen, welche die menschliche Existenz betreffen (für Nietzsche die einzig wertvollen Neuerungen), werden so aber nicht geschaffen. Seine Hinweise, wie er sich die Erschaffung von radikal Neuem vorstellt, sind spärlich gesät und widerstreben unserer Moral zutiefst:
„Der Mensch hat allzu lange seine natürlichen Hänge mit ‚bösem Blick’ betrachtet, so dass sie sich in ihm schließlich mit dem ‚schlechten Gewissen’ verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch wäre an sich möglich (…) nämlich die unnatürlichen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Tierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesamt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern.“ Nietzsche denkt letztlich an nichts anderes als an ein permanentes Krisenexperiment: Aggressionen nicht zurückhalten, Tod nicht vermeiden, auf Vernunft und Argumente verzichten oder körperliche Scham und Ekel ablegen. Dies klingt wahnsinnig und in der Tat war der Wahnsinn für Nietzsche mit dem Genius, der Schaffenskraft verbrüdert. Wer das Lebendige als Ziel allen menschlichen Schaffens erhebt, dem ist der Wahnsinn eine Hilfe, alle Zaghaftigkeit und Zurückhaltung abzulegen. Der Wahnsinnige verkörpert lebendige Leidenschaft. Während meines Studiums wurde ich vor der Radikalität in Nietzsches Denken gewarnt; es ist so mancher Nietzsche-Leser dem Wahnsinn anheim gefallen.

Nietzsche konnte die Menschen nur als unbegreifliche Vielheit, als Chaos denken, das sich selbst überlassen ist. Sein Versuch war es daher, Bilder im Kopf zu wecken: Das Bild der lebensfeindlichen Wüste, der Ödnis, der Totenstille – des Herdenmenschen. Und diese Bilder, so hoffte er, würden Einzelne zu neuen Taten inspirieren. Welche dies sein könnten, ließ er offen, ja musste er offen lassen. Denn eine Formel für die sichere Erschaffung von Neuem würde dem kreativen Chaos des Menschen keinen Respekt zollen. So schrieb er über seinen Stil: „Es ist sehr artig und klug, seinem Leser es übrig zu lassen, die Quintessenz unserer Weisheit selber auszusprechen.“

Friedrich, der Mensch
Der Vollständigkeit halber darf in einem Porträt – warum eigentlich? – die Darstellung von Nietzsches Lebensweg nicht fehlen. Nietzsche hätte es für überflüssig gehalten, seine Gebrechen, Lebensdaten und gescheiterten Beziehungen zu überliefern, denn die Historie ist „doch nur zum dem Zwecke gut, dass sie uns inspiriert“. Die sogenannten historischen Fakten folgen in diesem Porträt daher, falls es Sie inspiriert, eingeklammert am Ende.

(Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 in Röcken geboren, einem preußischen Dorf im heutigen Sachsen-Anhalt. Sein Vater war gemäß der Familientradition evangelisch-lutherischer Pfarrer, was häufig zu Spekulationen über Nietzsches Rednerkunst sowie seine Auseinandersetzung mit der Gläubigkeit des Menschen Anlass gibt. Nach dem frühen Tod des Vaters wuchs Nietzsche in einem Frauenhaushalt mit seiner Mutter, Schwester und seinen Tanten auf. Der Einfluss der Frauen in Nietzsches Familie wird seinerseits ursächlich für Nietzsches spätere Schwierigkeiten gesehen, eine private Bindung einzugehen. Seine Bekanntschaft mit Louise von Salomé, die seine Heiratsanträge mehrfach abwies, veranlasste Autoren, Regisseure und Wissenschaftler außerdem zu den waghalsigsten Vermutungen über Nietzsches Psyche. Er blieb bis zu seinem Tod unverheiratet, obgleich er mehrmals darum bemüht war, eine Ehefrau zu finden.
Unter für heutige Verhältnisse kaum vorstellbaren Bedingungen erfolgte Nietzsches Ruf nach Basel als Professor für klassische Philologie – mit 24 Jahren, ohne abgeschlossene Promotion und Habilitation, direkt nach dem Studium. Nach seinem Umzug auf eigenen Wunsch staatenlos geworden, lehrte Nietzsche zehn Jahre lang in halb leeren Hörsälen und ohne große Anerkennung. Da sich seine Bücher schlecht verkauften und er als Redner nur wenig verdiente, wurden seine finanziellen Probleme bald existenziell. Außerdem plagten starke Kopfschmerzen, Sehstörungen und Magenschmerzen den Mittdreißiger. Bereits nach zehn Jahren legte Nietzsche seine Professur nieder, um seine zunehmenden gesundheitlichen Probleme auszukurieren. In der Hoffnung, dass seine körperlichen Beschwerden durch milde Klimaeinflüsse gelindert werden könnten, bereiste er neben Süddeutschland und der Schweiz auch Frankreich und Italien. Mit 45 Jahren wurde der selbsternannte Philosoph und Freidenker arbeits- und geschäftsunfähig und infolge einer schweren psychischen Krankheit von seiner Mutter und Schwester betreut. Der Ruhm Nietzsches setzte in den 1890er-Jahren ein. Aufgrund seiner geistigen Apathie nahm er diesen jedoch nicht mehr wahr und starb 1900 in dem Glauben, seiner Zeit voraus gewesen zu sein. Als Ursache für seinen raschen körperlichen und geistigen Abbau wird eine syphilitische Erkrankung vermutet, deren Spätfolgen nach und nach durchbrachen. Dies ist jedoch umstritten und bis heute Bestandteil medizinischer Forschungen. Sein früher ungeklärter Tod mit 55 Jahren befeuerte seine Rezeption stark. Mittlerweile ist Nietzsche in die Riege der einflussreichsten Denker aufgestiegen.)


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