Über den Sinn des Lebens und den Aufforderungscharakter unvollendeter Tatsachen – Interview mit Alexander Batthyány

Über den Sinn des Lebens und den Aufforderungscharakter unvollendeter Tatsachen

Interview mit Alexander Batthyány

Die Frage nach dem Sinn des (menschlichen) Lebens überhaupt, wie auch nach dem Sinn des jeweils Einzelnen wird oftmals vorschnell zum Verstummen gebracht, indem sie in den Bereich des Beliebigen und rein Persönlichen gedrängt wird. Dort verkümmert sie und verliert mitsamt ihren Bestattern zusehends ihr schöpferisches Potenzial. Herr Batthyány, wie können wir die Sinnfrage aus diesem Zustand der individualisierten Gleichgültigkeit befreien?

Das ist eine interessante Frage – weil sie eigentlich bereits in den Kern der Sinnthematik zielt: Wenn die Sinnfrage ins rein Persönliche getragen wird, sollte sie nämlich gar nicht verstummen oder verkümmern, sondern dort erst richtig aufblühen: Denn genau hier, also da, wo der oder die Einzelne, wo ich „gemeint“ bin, dort findet die Sinnfrage des Lebens statt – sofern sie dann nicht in bloße Befindlichkeitsfragen abgleitet, sondern sich vielmehr an einem Gefühl und Bewusstsein der eigenen Verantwortung festmacht.

Alexander Batthyány ist Inhaber des Viktor-Frankel Lehrstuhls für Philosophie und Psychologie und Autor des Buches „Die Überwindung der Gleichgültigkeit. Sinnfindung in einer Zeit des Wandels.

Die Tatsache, dass man befürchten muss, dass die Sinnfrage ins Beliebige abgleitet, wenn man sie persönlich nimmt, ist so besehen vielleicht eher ein Anzeichen der Pathologie des Zeitgeists, derzufolge alles, was einen persönlich etwas angeht, zugleich das Egoistische, also auf Selbstnutzen Abzielende oder eben etwas komplett Beliebiges ist – als wären wir nicht ganz grundlegend soziale Wesen, die ja immer auch Verantwortung tragen für die Folgen dessen, was wir tun oder zu tun unterlassen. Angesichts der Weltkrise liefe das quasi auf eine Art „Flucht nach innen“ hinaus. Soziologen haben ja bekanntlich tatsächlich ähnliche Verinnerlichungsbewegungen immer wieder beobachtet, und zwar leider just dann, wenn die Abkehr von der Welt katastrophale Folgen hatte: Sei es in den großen Diktaturen des letzten Jahrhunderts, sei es im Rahmen des Bemühens um einen gesellschaftlichen Wandel im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts. Einhergehend mit einer gewissen Ermüdung wurde damals beobachtet, dass viele in eine Art Nabelschau geflohen sind; und diese Flucht in die Innerlichkeit ging damals in der Tat in der Regel mit einer gleichzeitigen Abkehr von der Realität einher.

Aber so spielt die Sinnfrage nicht – denn es geht bei der Sinnfrage gar nicht darum, dass wir uns auf uns selbst zurückziehen und fragen, was wir tun können, damit wir uns gut fühlen; es geht vielmehr darum, wozu wir gut sind. Und diese Frage meint immer auch, dass man sich von der Wirklichkeit nicht abkehrt. Im Gegenteil: Mit der Sinnfrage geht es darum, über den Tellerrand des eigenen Ichs hinauszublicken auf das, was in der Welt zu bewirken, verändern, zu bessern – sprich: was zu tun ist. Um es etwas schlagwortartiger zu formulieren: Was nicht geworden wäre ohne mich, das zeugt von mir – und von meiner Verantwortlichkeit.

Vielleicht dazu noch eine Konkretisierung: Der Wiener Psychiater Viktor Frankl, der als Pionier der existentiellen Psychiatrie und Psychotherapie bereits in den 1920ern als Erster die Sinnfrage sozusagen eigenhändig auf der Landkarte der Psychologie eingezeichnet hat, hat einmal den schönen Satz geprägt: „Auf welche Tatsache auch immer wir treffen, es sind noch unvollendete Tatsachen.“ Und zwar unvollendet auch je nach dem, auf welche Person sie treffen: Ein Kranker hält für den Arzt eine ganz andere Aufgabe bereit als für einen Angehörigen oder Pflegenden. Sinn ist so besehen nichts Abstraktes oder Generisches, sondern etwas sehr Konkretes und eigentlich ganz Intimes zwischen jedem von uns und dem Leben. Und wie bei allen intimen Dingen gibt es hier auch keine Stellvertreter – jede und jeder vons uns trifft täglich und stündlich als Individuum auf unvollendete Tatsachen, die nicht „irgendwie“ vollendet werden wollen, sondern von uns.

Diese Tatsachen warten mit anderen Worten auf meinen Beitrag: Entweder, weil es etwas zu ändern, zu schaffen, oder jemanden zu heilen oder aufzurichten gilt; oder aber, weil es schlichtweg schöne, gelungene Tatsachen sind – aber auch diese bleiben ohne Anerkennung, ohne Dankbarkeit oder zumindest bewusstes Erleben des Gelungenen noch unvollendet. Man kann an beidem schulterzuckend vorübergehen und beraubt damit die Welt um den eigenen Beitrag und sich selbst um die ganz konkrete Erfahrung von Sinn.

Gleichgültigkeit ist daher sozusagen die Antithese: Weder geht einen das Brüchige der Welt viel an, noch freut man sich am Gelungenen. Man muss allerdings sagen: Die wenigsten Menschen fühlen sich in diesem Zustand sonderlich wohl. Wir wissen sogar aus der klinischen Forschung, dass Gleichgültigkeit nicht nur sozial, sondern auch psychologisch ein ziemlich prekärer Zustand ist. Das kann man als Psychotherapeut beklagen; aber rein philosophisch besehen sagt uns das doch etwas recht Tröstliches über den Menschen: Er ist psychologisch gar nicht für die Gleichgültigkeit gebaut – sie entspricht eigentlich gar nicht seinem Wesen. Der Mensch ist vielmehr, anders besehen, immer auch ein Hoffnungsträger, genau genommen sogar das einzige Lebewesen, von dem wir gesichert wissen, dass es Hoffnung in die Welt trägt, das von Anbeginn an Utopien einer besseren Welt entwickelte, weil es eben nicht gleichgültig zuschauen mag, wenn etwas im Argen liegt. Wenn wir diesen Idealismus aufgeben, tut das also weder Welt gut, noch, wie eben die klinische Erfahrung zeigt, uns selbst.

In der Frage nach dem Sinn des Lebens stellen wir immer auch die Frage nach dem Sinn der Welt, in der wir leben. Wie legen Sie dieses Verhältnis aus?

Also die Frage nach dem Sinn des Weltganzen – darauf eine Antwort zu finden, das ist wohl die Lebensaufgabe schlechthin. Von der Psychologie der Sterbenden hören wir dazu aber immerhin etwas relativ Tröstliches, nämlich, dass nicht wenigen Menschen in den letzten Lebenstagen oder –stunden sozusagen der „Sinn aufgeht“. Die Forschung hat allerdings erst seit kurzem begonnen, da genauer hinzuhören: Was sagen uns Sterbende über den Sinn eben jener Welt, die sie bald hinter sich lassen werden? Vielleicht in Kürze dazu nur so viel: Die Wenigsten verabschieden sich von einer als absurd, also sinnlos erlebten Welt. Mir sagte einmal ein Hospizbewohner in schönstem Dialekt, die Welt sei wahrlich kein sehr wirtlicher Ort für ihn gewesen. Aber dass alles, auch das Mühsame und Schwere, einen Sinn gehabt habe, das stehe für ihn jetzt erst (in seinen letzten Tagen) fest wie das „Amen im Gebet“. Was soll man da schon erwidern? Das sind schon recht starke Zeugnisse, vor allem, wenn man sie immer wieder hört oder berichtet bekommt.

Was allerdings den Sinn des eigenen Lebens angeht: Da müssen wir wohl nicht bis zum Schluss warten; denn der Sinn des Lebens findet, wie schon sein Name sagt, im Leben statt: also genau hier und genau jetzt. Dieser Sinn hängt vielmehr maßgeblich davon ab, wie viele Sinnmöglichkeiten, im Kleinen wie im Großen, ich heute verwirkliche und nicht einfach verwirke, also ungelebt und ungenutzt verstreichen lasse. Ich denke, manchmal besteht die Gefahr, Sinn als etwas Alltagsfernes, Abstraktes zu sehen. Dann ist Sinn allerdings primär einmal eine theoretische Größe ohne jeden Erlebnisbeweis. Aber Sinn des Lebens, der nicht erlebt wird, ist eigentlich nicht das, was wir gemeinhin vom sinnvollen Leben erwarten würden.

Daher findet der Sinn mitten im Leben, mitten im Alltag statt – oder gar nicht. Und er findet auch nicht nur statt, sondern er bietet sich an in Gestalt von Sinnmöglichkeiten: Da und dort begegnen mir unvollendete Tatsachen. Meine Freiheit ist, dass ich darauf so oder so reagieren kann, sie eben auf diese oder jene Weise vollenden kann: Wohlwollend oder nicht, freundlich, unfreundlich, liebevoll, abweisend, usw. Und die vielleicht noch wichtigere Zutat jenseits dieser Freiheit ist die Frage: Nicht nur: Wie kann und will ich reagieren, sondern: Wie sollte ich reagieren? Was wäre eine schöne, lebensbejahende, zum Guten beitragende Antwort auf diese Frage? Ich kann – und ich glaube auch: soll – darüber entscheiden, ob mein Leben ein Beitrag ist zur ohnehin schon ziemlich verbreiteten Brüchigkeit unserer Welt heute, oder ob es ein Beitrag ist zu ihrer Heilung. Wir tragen mit anderen Worten auch Verantwortung für das, was wir in die Welt hineinschaffen.

Auch davon berichtet die Psychologie der Sterbenden: Die wenigsten fragen, ob es ihnen gut ging im Leben; die meisten fragen vielmehr, wozu sie gut waren – ob sie mit dem, was sie ausgesendet haben, gut leben und schließlich auch gut sterben können. Frage aber: Warum eigentlich bis zum Ende des Lebens warten, um diese Einsichten in die eigene Lebensführung miteinfließen zu lassen? Unser Handeln und Entscheiden verdichtet sich ja fortwährend zu unserer Lebensgeschichte – und da ist es schon eine ganz kluge Idee, sie so zu gestalten, dass man selbst einmal einverstanden sein kann mit dem, was man als Lebensgeschichte und Spuren in der Welt zurücklässt. Soll es eine Spur der Verwüstung, der Gleichgültigkeit, des bloßen Egoismus sein, oder eine des Wohlwollens, der Ansprechbarkeit, der Freundlichkeit? Das entscheidet sich heute – genauer: wir entscheiden das heute. Daher ist die Sinnfrage eine sehr konkrete Lebensfrage.

Die Auswirkungen unseres kollektiven Handelns sind zur Bedrohung unserer eigenen Existenz geworden. Wir selbst sind durch uns selbst zum Problem für uns selbst (und andere) geworden und wir wissen auch noch darum. Wie lässt sich auf Grundlage dieser Einsicht ein sinnvolles Menschenbild entwerfen?

Ja, also ich denke es ist gerade die Tatsache, das so vieles im Argen liegt, die uns davor bewahren kann, in Zynismus, Gleichgültigkeit, usw. abzugleiten und den Menschen aufzugeben. Gerade die Tatsache nämlich, dass die Welt heute so bedürftig nach Wohlwollen ist, sagt uns ja, dass wir aufgefordert sind, etwas Gutes beizutragen.

Manchmal fragen mich auch meine StudentInnen, ob nicht die Gebrochenheit der Welt ein gewichtiges Argument gegen die Sinnhaftigkeit unseres Lebens ist. Und ich antworte aus tiefster Überzeugung, dass sich genau angesichts dieser Gebrochenheit erweist, wie dringend wir gebraucht sind, wie notwendig und eben auch sinnvoll unser Einsatz ist.

Offenbar gibt es im Augenblick besonders viele unvollendete Tatsachen – nicht nur in der Umweltfrage, sondern auch in der Tatsache, dass nach wie vor Millionen Menschen an Hunger und Durst sterben, während nur wenige Flugstunden weiter der größte Überfluss herrscht und sich Menschen überlegen, wie sie ihre Gewichtsprobleme in den Griff bekommen können. Dieses Ungleichgewicht ist zum Beispiel eine klare unvollendete Tatsache – hier rebelliert und ruft alles – das eigene Gewissen, die Zivilisiertheit, die Hoffnung: Das soll nicht nur unvollendete, sondern gar keine Tatsache mehr sein. Und die zweite Frage lautet dann: Was kann ich tun? Was soll ich tun? Wie kann mein Beitrag aussehen?

Also jemand, der sich einmal wirklich mit dem auseinandersetzt, was da draußen jenseits des Tellerrands des eigenen Ichs in der Welt geschieht – von der Altersarmut und –einsamkeit bis hin zum globalen Elend –, der wird sich wohl kaum mehr wirklich fragen, ob er oder sie gleichgültig bleiben will oder, ob es noch irgendetwas gibt, was man selbst beitragen soll und wozu man gut sein könnte.

Zugleich sollte man Realist bleiben und die Latte nicht zu hoch hängen: Es ist vom Einzelnen nicht mehr, aber auch nicht ein Iota weniger, verlangt, als sein oder ihr jeweils Bestes und Mögliches zu geben, also den jeweils eigenen Beitrag zu leisten. Und vor allem: Die Hoffnung nicht aufzugeben – denn, das sagte ich am Anfang – wir Menschen scheinen die einzigen Lebewesen zu sein, die Hoffnung in die Welt tragen. Das ist schon ein sehr signifikantes Indiz über unser Wesen und damit auch über das Wesen der Welt. Irgendwie scheint, trotz aller Zweifel, Hoffnung da auch hineingewoben zu sein – durch uns! Wenn wir die Hoffnung aber aufgeben, verschwindet sie spurlos von der Erdoberfläche – und das nun kann nun wirklich nichts Gutes zur Folge haben. Nein – ich glaube, wenn wir als Realisten das Leben (und auch den Menschen) nehmen wie sie sind, und zugleich als Idealisten daran gehen, unser jeweils Bestes beizutragen und zu teilen – dann dürfte diese Hoffnung gut begründet und auch vor dem baren Zynismus geborgen sein.

Nur: Wir müssen diese Hoffnung selbst erfüllen und nicht nur auf andere warten. Die eigentlich schönste Botschaft unserer Sinnforschung ist daher eine im Grunde recht unerwartete Einsicht: Wir verarmen seelisch und geistig weniger durch das, was wir nicht bekommen, sondern durch das, was wir zu geben und beizutragen verabsäumt haben. Umgekehrt formuliert heißt das aber auch: Wir müssen nicht warten, bis andere den ersten Schritt tun; wir können ihn auch selbst wagen. Und sich dann vielleicht davon überraschen lassen, wie gut Wohlwollen der Welt und einem selbst tut… Was sonst kann man denn tun, als selbst anfangen?

Ja, und allen, denen das zu sehr nach „heiler Welt“ (oder zumindest „heilbarer“ Welt)  klingt und die bezweifeln, dass das funktioniert, will ich ein kleines philosophisches Experiment ans Herz legen: Nämlich nur eine Woche so zu leben, zu entscheiden und zu handeln, als wären eben dies einige der Spielregeln sinnvollen Lebens – selbst, wenn man das zunächst nicht recht glauben mag. Mir ist noch kein Mensch begegnet, der nach einer Woche zurückkehrte und sagte, dass sich das nicht gelohnt hätte. Es hängt eben doch viel mehr von uns ab, als wir manchmal wahrhaben; und wenn das so ist, warum nicht gleich ans Werk gehen und etwas Sinnvolles und Gutes in die Welt aussenden – statt lediglich darüber zu klagen, dass da so wenig Gutes ist?