Arbeit über alles? – Interview mit David Graeber

Arbeit über alles?

 Interview mit David Graeber

Herr Graeber, mit Ihrem aktuellen Buch „Bullshit Jobs“ scheinen Sie den Nerv der Zeit getroffen haben. Haben Sie dieses Echo der Öffentlichkeit erwartet?

David Graeber
David Graeber, geboren 1961 in den Vereinigten Staaten, war bis zu seiner umstrittenen Entlassung 2007 Professor für Anthropologie an der Yale University. Heute unterrichtet er an der London School of Economics and Political Science. Er ist bekennender Anarchist und Mitglied der „Industrial Workers of the World“. Graeber ist ein Vordenker der Occupy-Bewegung und Autor des Weltbestsellers Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Foto: Wolfram Bernhardt

Das Buch geht auf den Essay „Über das Phänomen der Bullshit-Jobs“ zurück, den ich 2013 für die neue Zeitschrift Strike! geschrieben habe. In diesem Essay bin ich der Vermutung nachgegangen, dass es viele Jobs gibt, die vollkommen überflüssig sind. Fragt man sich nicht bei unglaublich vielen Jobs, die in den letzten Jahren neu geschaffen wurden, wozu sie eigentlich gut sind? Ich spreche von Jobs, bei denen sich selbst diejenigen, die sie ausführen, die Frage nach dem Sinn ihrer Tätigkeit stellen. Aber das öffentliche Echo auf diesen Essay hatten weder ich noch die Magazinmacher von Strike! erwartet: Innerhalb weniger Tage war der Artikel in mindestens ein Dutzend Sprachen übersetzt worden. Zeitungen von der Schweiz bis Australien druckten ihn nach. Die Website von Strike! brach unter dem Ansturm der Anfragen immer wieder zusammen und ich erhielt zahlreiche Zuschriften von mir völlig unbekannten Personen, die meine These bestätigten; die mir in aller Offenheit von der Sinnlosigkeit ihrer Arbeit berichteten. Im Januar 2015 führte dann das Meinungsforschungsinstitut YouGov eine Umfrage durch und das Ergebnis war, dass 35 Prozent der deutschen und sogar 37 Prozent der britischen Arbeitnehmer angaben, dass ihr Job keinen sinnvollen Beitrag für die Welt leistet.

Das Buch ist das Ergebnis des Versuchs, dieses Phänomen strukturierter zu fassen; also eine Definition der Bullshit-Jobs zu erarbeiten und so eine Debatte über Sinn und Unsinn unserer Arbeit zu befeuern. Eine Debatte, die dringend geführt werden muss, leben wir doch in einer Gesellschaft, in der diejenigen, die sinnvolle Arbeit leisten – also beispielsweise Busfahrer, Lehrer, Krankenpfleger etc. – immer schwerer über die Runden kommen, wohingegen diejenigen, die ihre Jobs selbst als sinnlos empfinden, dafür viel Geld bekommen.

Was ist die Definition eines Bullshit-Jobs?

Im Buch habe ich das wie folgt formuliert: Ein Bullshit-Job ist eine Form der bezahlten Anstellung, die derart sinnlos, unnötig oder gefährlich ist, dass selbst die Person, die sie ausführt, ihre Existenz nicht rechtfertigen kann – obwohl sich diese Person im Rahmen der Beschäftigungsbedingungen verpflichtet fühlt, so zu tun, als sei dies nicht der Fall. Oder um es etwas prägnanter zu formulieren: Ein Bullshit-Job ist ein Job, bei dem derjenige, der ihn macht, heimlich denkt, dass dieser Job nicht existieren sollte. Er denkt also, dass es nicht bloß keinen Unterschied machen würde, wenn es seinen Job oder die gesamte damit verbundene Industrie nicht mehr geben würde, sondern dass es der Welt dann wahrscheinlich sogar ein bisschen besser ginge.

Ist das große Echo auch darauf zurückzuführen, dass wir gemeinhin glauben, es könne in unserer auf Effizienz getrimmten Wirtschaft gar keine überflüssigen Jobs geben? Denn das Erste, was Unternehmen gemeinhin machen, um ihre Effizienz zu steigern, sind doch Einsparungen beim Personal. Definiert sich „Bullshit“ also vornehmlich über die Sinn-Komponente und weniger darüber, ob ein Job einen ökonomischen Nutzen hat?

Das Interessante an meinem Ansatz ist, dass ich nur die Einschätzung der Beschäftigten selbst wiedergebe. Wenn jemand der Ansicht ist, sein Unternehmen oder seine Behörde tragen zum Wohl der Gesellschaft bei, und er das Gefühl hat, selbst einen Beitrag zum Wohlergehen des Unternehmens beziehungsweise der Behörde zu leisten, dann kann er die Sinnhaftigkeit seines Tuns durchaus rein ökonomisch begreifen. Was aber, wenn diese Person nicht nur ihre konkrete Tätigkeit für Blödsinn hält, sondern sie auch noch als Teil eines – gemessen an den eigenen Wertmaßstäben – sinnlosen Systems begreift? Was ist denn der ökonomische Nutzen vieler Manager, Human-Resource-, Unternehmens-, PR- etc. Berater? Was ist der Nutzen von Telefonverkäufern, Immobilienmaklern und großen Teilen der Finanzindustrie? Würde es der Gesellschaft tatsächlich ökonomisch schlechter gehen, wenn es diese Jobs nicht mehr geben würde, oder wäre dann nicht mehr für alle da? Was für Auswirkungen hätte es auf die Arbeit von Lehrern, Ärzten oder Pflegern, wenn es weniger Leute gäbe, die sich ständig neue Formulare ausdenken, die sie ausfüllen müssen?

David Graeber in Stuttgart
Wir trafen David Graeber in Stuttgart und sprachen mit ihm über frustrierende Bullshit-Jobs, vorgetäuschte Leistung und ineffizientes Arbeiten. Foto: Wolfram Bernhardt

In Ihrem Buch stellen Sie auch die Frage, warum wir noch nicht die 15-Stunden-Woche haben, die Keynes 1930 für seine Enkel und Urenkel prophezeite.

Aus technischer Sicht wären wir dazu allemal in der Lage – und doch kam es nicht so. Warum? Offensichtlich nur deshalb, weil wir Jobs geschaffen haben, die nutzlos sind. Das Tragische ist, dass dies auch viele wissen, die diese Jobs ausführen. Die Konsequenz ist, dass diese Personen über kurz oder lang Schaden davon nehmen – seelischen und moralischen Schaden. Und doch redet darüber kaum jemand.

Wie kommt das?

Weil man sich oftmals gar nicht vorstellen kann, dass es auch anders geht. Meistens ist man doch froh, wenn man einen halbwegs gut bezahlten Job ergattert hat, seine Studiengebühren zurückbezahlen oder seine Familie ernähren kann. Es ist ja kein Geheimnis, dass die Jobs, die einen ganz direkten Nutzen haben – wie Erzieher, Pfleger oder Automechaniker – schlecht bezahlt sind. Wenn man dann die Menschen mit sinnlosen Jobs vor die Wahl stellt, ihr Einkommensniveau zu senken – und somit den Lifestyle aufzugeben, den sie sich aufgrund des Einkommens leisten können – und stattdessen etwas Sinnvolles, aber eben schlechter Bezahltes zu machen, lehnen die meisten dankend ab.

Wenn mehr Geld bevorzugt wird, obwohl es mehr Leid bedeutet, wenn Ineffizienz gefördert wird und auch die Realwirtschaft gegenüber der Finanzwirtschaft immer mehr an Bedeutung verliert, kann man dann überhaupt noch von Kapitalismus sprechen?

 Tatsächlich stelle ich mir auch die Frage, ob „Kapitalismus“ noch die richtige Bezeichnung für unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist – auch vor dem Hintergrund, dass es nicht in das Bild des Kapitalismus passt, dass gewinnorientierte Unternehmen Geld für Mitarbeiter zahlen, die gar nicht gebraucht werden.

Sie sind bekennender Anarchist, lehnen also jegliche Form von Herrschaft ab. Muss ein solcher Gesellschaftsentwurf nicht schon deshalb scheitern, weil viele Menschen sich Jobs aussuchen, die sie kaputt machen – obwohl sie andere Möglichkeiten hätten? Bräuchte es in dieser Situation nicht eher eine Instanz, welche die Menschen davor bewahrt, in ihr eigenes Unglück zu laufen?

Die Menschen, die beispielsweise in Bullshit-Jobs landen, sind ja nicht frei von Herrschaft, von äußeren Zwängen. Und Anarchie heißt ja nicht, dass es nicht auch Regeln gäbe. Wie eine anarchistische Gesellschaft in der westlichen Welt im Detail aussähe, kann ich auch nicht sagen. Aber mir geht es um die Idee der Selbstbestimmung, um den Grad der Autonomie und um einen gesellschaftlichen Grundkonsens, der mir im Zweifel hilft, zu meinen Überzeugungen zu stehen, anstatt mich zu verkaufen.

Würde es im Sinne eines solchen Grundkonsenses helfen, wenn man kleinere gesellschaftliche Einheiten etablieren würde? Sollten wir also, statt immer die Weltgesellschaft im Blick zu haben, zunächst auf unser unmittelbares Umfeld schauen, auf die Region, in der wir leben?

Lassen Sie mich ein Beispiel anführen, anhand dessen ich verdeutlichen kann, worum es mir geht; ein Beispiel für eine gelungene Selbstverwaltung, ja eines der größten demokratischen Experimente der heutigen Zeit. Im Norden Syriens haben sich in den letzten Jahren die kurdischen Gebiete zu einer demokratischen Konföderation zusammengeschlossen, die 2016 ihre Unabhängigkeit erklärt hat. Diese Konföderation besticht jedoch nicht durch eine starke Zentralverwaltung, sondern durch ein großes Maß an Selbstverwaltung, das an die anarchistische Selbstverwaltung in Katalonien im Jahr 1936 erinnert. So wurden in Rojava Volksversammlungen geschaffen, die als höchstes Entscheidungsgremien fungieren und die zudem ein sorgfältiges ethnisches Gleichgewicht repräsentieren. In jeder Gemeinde müssen in den höchsten Gremien ein Kurde, ein Araber und ein assyrischer oder armenischer Christ vertreten sein – und mindestens eine von diesen drei Personen muss eine Frau sein.

Sie haben in dem Artikel „Why is the world ignoring the revolutionary Kurds in Syria?“ für den britischen „The Guardian“ geschrieben, dass Rojava der einzige Lichtblick in der ganzen syrischen Tragödie sei. Was genau kann man da beobachten?

Im Grunde geht es um die Frage, wie die Kurden, die als Volk keinen eigenen Staat haben – ihr Siedlungsgebiet umfasst Teile von Syrien, der Türkei, des Iran und des Irak – sich dennoch eine Form der Selbstverwaltung geben können. Ungefähr zur Jahrtausendwende hat ein Umdenken in der PKK eingesetzt. Glaubte man lange Zeit, die Unabhängigkeit mittels des bewaffneten Kampfes erringen zu können, so war nun das Ziel – teilweise inspiriert durch die Vision des Sozialökologen und Anarchisten Murray Bookchin –, freie, selbstverwaltete Gemeinschaften auf der Grundlage der Prinzipien der direkten Demokratie zu schaffen. Dieses Vorgehen war mit der Hoffnung verbunden, dass so die nationalstaatlichen Grenzen nach und nach an Bedeutung verlieren würden; dass man also parallel zu jeweils offiziellen Strukturen andere Strukturen aufbaut, die man als vorrangig erachtet und die man statt der offiziellen Stellen konsultiert, wenn es darum geht, bestimmte Dinge zu regeln.

Der kurdische Kampf könnte auf diese Weise zum Modell für eine weltweite Bewegung hin zu echter Demokratie, kooperativer Wirtschaft und der allmählichen Auflösung des bürokratischen Nationalstaates werden.

Herr Graeber, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führten Frank Augustin und Wolfram Bernhardt.

Das Ganze denken, um das eine zu verstehen.

agora42 ist das philosophische Wirtschaftsmagazin. Seit 2009. Aus Stuttgart.

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