„Jede*r ist seines Glückes Schmied“, bekommt man einerseits zu hören, wenn es um die Frage nach dem guten Leben geht. Andererseits quellen die Buchladenregale über von Ratgebern für ein erfolgreiches und gelingendes Leben. Warum befasst sich eine kritische Theorie der Gesellschaft mit dem guten Leben?
Ob Kritische Theorie generell über das gute Leben nachdenken muss, da kann man unterschiedlicher Meinung sein. Es gibt Vertreter*innen der Kritischen Theorie, die sagen: „Nein, das soll sie gerade nicht. Kritische Theorie sollte auf das Falsche hinweisen und mehr nicht“ – in Anlehnung an den Adorno-Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Mir wurde vorgeworfen, ich würde die Kritische Theorie um ihr Wichtigstes bringen, nämlich die reine Negativität. Von einer solchen Position versuche ich mich abzusetzen, denn sonst wird Kritik letzten Endes zum wirkungslosen Nörgeln – „Alles ist schlecht und müsste ganz anders sein und der Kapitalismus ist sowieso ganz böse“. Solche Kritik erzeugt überhaupt keine transformativen Energien. Auf den Umwegen entsteht das Leben | Interview mit Hartmut Rosa weiterlesen
Zur Beschreibung des Sozialen verwenden Sie den Begriff der Lebensformen. Was zeichnet Lebensformen aus?
Mit „Lebensformen“ beschreibe ich, ganz ähnlich wie im alltäglichen Sprachgebrauch, eine Reihe sehr unterschiedlicher Formen menschlichen Zusammenlebens. So ist beispielsweise die bürgerliche Kleinfamilie eine Lebensform. Oder es gibt die Lebensform des Städtischen im Gegensatz zu jener der Provinz. Der Lebensformbegriff bezieht sich also – im Gegensatz beispielsweise zum Begriff der Lebensführung – weniger auf individuelle denn auf kollektive Phänomene, also auf sozial geteilte Praktiken.Das Leben – unausweichlich gemeinsam | Interview mit Rahel Jaeggi weiterlesen
In ihrem Buch Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft (Suhrkamp, 2020) zeigt die Juristin Katharina Pistor, wie Gesetze, Gerichte und Anwälte den Kapitalismus in seiner heutigen Form begründet haben, wie über mehrere Jahrhunderte rechtliche Regelungen und Entscheidungen dazu geführt haben, dass man fast alles – Natur, Gensequenzen, Ideen – als privates Kapital codieren und der Allgemeinheit entziehen kann. Pistor beklagt, dass das Recht, das in einer demokratischen Gesellschaft für alle gleich ausfallen und zugänglich sein sollte, die Ungleichheit verschärft und Reichen sowie Kapitalgesellschaften Privilegien verschafft. Es seien zunehmend nicht die demokratisch gewählten Regierungen, die über die Gestaltung der Gesellschaft bestimmen würden, sondern die „Herren des Codes“, die Rechtsanwält*innen. Die rechtlichen Möglichkeiten der Codierung von Gütern zu Kapital haben sich über Jahrhunderte stetig weiterentwickelt und an Attraktivität für Vermögende und große Unternehmen gewonnen, so Pistor. Das Wissen über diese Möglichkeiten und der Zugang zu diesen rechtlichen Instrumenten seien entscheidend für die Sicherung und Bildung von Vermögen sowie für die wachsende Vermögensungleichheit. Die Abschirmung von Vermögen vor Besteuerung gehöre zu den gefragtesten Dienstleistungen der großen Anwaltskanzleien. Der Markt auf Steroiden | Interview mit Katharina Pistor weiterlesen
Frau Bücker, Ihre Kolumne im Magazin der Süddeutschen Zeitung heißt „Freie Radikale“. Brauchen wir heute radikale Ideen und wenn ja, warum?
Auf jeden Fall brauchen wir radikale Ideen! In meiner Kolumne versuche ich, den Begriff „radikal“ ein bisschen zu rehabilitieren, weil er meiner Wahrnehmung nach dazu genutzt wurde, um bestimmte Ideen gleich wieder aus dem Diskurs zu verdrängen – im Sinne von: „Das ist zu groß gedacht, das ist sowieso nicht umsetzbar.“ Das beobachte ich vor allem in der Politik. Dabei wäre es gerade die Aufgabe einer progressiven Politik, genau solche Ideen nach vorne zu stellen und Szenarien zu entwerfen, die 20 oder auch 30 Jahre in die Zukunft gehen und sich nicht nur innerhalb eines Fünf-Jahres-Horizonts bewegen. Man sollte mehr darüber sprechen, was wir uns überhaupt vorstellen möchten und was prinzipiell möglich sein könnte – ohne gleich einzuwenden „das scheitert am Geld“ oder „dann geht die Wirtschaft den Bach runter“. Man muss erst einmal Denkräume aufmachen, die es wieder ermöglichen, über das eigene Leben nachzudenken. (…) Gleichberechtigung, Arbeit und das gute Leben | Interview mit Teresa Bücker weiterlesen
Es fehlt der Raum, in dem experimentiert werden kann
Interview mit Hanna Noller
Frau Noller, Sie sind Gründungsmitglied von Stadtlücken e. V. Mit Ihren Mitstreiter*innen haben Sie in Stuttgart eine urbane Brache – den Österreichischen Platz – ausfindig gemacht und wiederbelebt. Was war dabei das größte Problem? Was sagt das über den Zustand unserer Städte aus?
Gestartet sind wir in das Projekt als junge Gestalter*innen, die sich für eine lebenswerte Stadt Stuttgart engagieren wollten und Lust hatten, ihre Expertise in die Gestaltung ihrer Stadt einzubringen. Um den Österreichischen Platz als urbanes Experimentierfeld zu nutzen, mussten wir die Fläche von der Stadt Stuttgart pachten. Damit ging die gesamte Verantwortung und Haftung für die Fläche von der Stadt an den gemeinnützigen, bis jetzt rein ehrenamtlich arbeitenden Verein über und damit eigentlich an die Vorstände des Vereins, die im Ernstfall mit ihrem Privatvermögen und dem ihrer Familien für Schäden haften würden. Die größte Herausforderung lag somit in der Klärung der verantwortlichen Zuständigkeiten, Haftungsfragen und Versicherungsmöglichkeiten. Es fehlt der Raum für Experimente | Hanna Noller weiterlesen
Herr Lauer, angesichts einer sich am Alten festklammernden Gesellschaft haben Sie kritisch angemerkt: „Das 20. Jahrhundert ist endgültig vorbei.“ Und: „Die Weltordnung, wie sie mal nach dem Zweiten Weltkrieg entstand (…), die ist jetzt wirklich weg.“ Das hört sich nach Schiller an: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit.“ Ist das Neue schon zu sehen – oder sehen wir gerade nur das Alte zerbröseln?„Wir sind komplett wirtschaftsverwahrlost“ | Interview mit Christopher Lauer weiterlesen
Herr Kerschensteiner, die Sprache der Werbung ist nicht zuletzt aufgrund der Reflexion über ihre Funktionsweise einer beständigen Evolution ausgesetzt. Können Sie einige Abschnitte dieser Entwicklung für uns skizzieren?
Werbesprache hat seit jeher einen appellativen Charakter, das heißt ihre Aussage richtet sich an Empfänger, die in irgendeiner Art und Weise zum Handeln aufgefordert werden. Schon im alten Ägypten warben Schamanen auf Tontafeln für ihre Dienstleistungen und um die Gunst der betuchten Bevölkerung. Aus der Zeit des römischen Reiches gibt es schriftliche Nachweise, dass auf Hauswänden Wahlwerbung betrieben wurde. Die bedeutendste Evolution ging mit dem Buchdruck einher. Es entstanden erste Etiketten zur Warenkennzeichnung, die appellative Sprachfunktion wich der Darstellung. Heraldische Wappen, später Etiketten oder Markenlogos dienten zunächst nur dazu, die Herkunft oder den Produzenten einer Ware oder eines Schriftstücks zu bezeichnen. Da sich Wappen und Schriftzüge schon bald ähnelten wurden die Markenzeichen der Produzenten immer aufwändiger und umfangreicher, kurze Beschreibungstexte wurden zu Fließtexten, Wappen wurden zu Bildern. Wie kommt der Sinn auf die Verpackung? weiterlesen
Im Jahr 2014 führten wir ein Interview mit Richard David Precht für unsere Ausgabe zum Thema Europa. Vor dem Hintergrund der anstehenden Wahl zum Europäischen Parlament am kommenden Sonntag, möchten wir Ihnen gerne Auszüge aus diesem Interview präsentieren.
Herr Precht, von geografischen Definitionen abgesehen: Was bedeutet Ihnen Europa?
Ich habe kein starkes emotionales Verhältnis zu Europa. Ich halte es auch für zwecklos, Europa über einen besonderen Wesenszug definieren zu wollen. Ohne Zweifel wurde Europa durch die Aufklärung geprägt. Aber dieses Erbe ist für mich kein Grund, in Begeisterung auszubrechen, denn es ist genauso wunderbar wie fürchterlich. Europa hat so viel Unheil über sich selbst und die Welt gebracht, dass ich jeder Form von romantischer Verklärung skeptisch gegenüberstehe. Für mich ist Europa, ein geeintes Europa, ein sehr nützliches Werkzeug, um gewaltige Zukunftsprobleme zu lösen. Das ist mein Verhältnis zu Europa. Europa … verzweifelt gesucht – Interview mit Richard David Precht weiterlesen
Herr Loske, welche Bedeutung hat die Natur in der Wirtschaft?
In der Ideengeschichte der Ökonomie gibt es ganz verschiedene Naturvorstellungen. Die Physiokraten waren der Meinung, dass die Natur der einzige produktive Faktor ist: Nur Grund und Boden können der Ursprung des Reichtums eines Landes sein. Demgegenüber ist die Natur im Marxismus wie auch im Kapitalismus auf die Funktion der Quelle und der Senke reduziert, wird also bloß als Ressource oder als Aufnahmemedium für Abwässer, Abgase und Abfälle begriffen. Der Gedanke, dass die Wirtschaft auf die physischen Grundlagen bezogen ist, ist also bei den Physiokraten viel stärker ausgeprägt. Der Marxismus und der Kapitalismus neigen systematisch dazu, die Rolle der Natur bei der Wertschöpfung zu reduzieren oder gar auszublenden. Man kann also von einer Naturvergessenheit der ökonomischen Theorie der Moderne sprechen.
Ist es dann zu begrüßen, wenn die ökonomische Bewertung der Natur immer mehr an Bedeutung gewinnt?
Das ist ein schmaler Grat. Auf der einen Seite ist es zu begrüßen, wenn man sich bewusst macht, dass die Natur uns zahlreiche Güter und Dienstleistungen gratis zur Verfügung stellt – stabiles Klima, gutes Wasser, saubere Luft, produktive Böden, biologische Vielfalt etc. Doch man läuft auch Gefahr, dass man sich in diese instrumentelle beziehungsweise utilitaristische Sichtweise verrennt. Dann geht das Unwägbare in der Natur verloren, all das, was eine besondere Saite in uns zum Schwingen bringt. Das ist ein echtes Defizit. Insofern braucht es eine umfassendere Ökonomie, die auch dieses Unwägbare miteinbezieht, ohne es direkt in Wert zu setzen oder ihm eine Dienstleistungsfunktion zuzuschreiben. Natur, Kapitalismus und das Neue – Reinhard Loske im Interview weiterlesen
Herr Wallraff, der Begriff der Arbeit ist eng mit der Vorstellung von gesellschaftlichem Zusammenleben, von Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie verbunden. Hängt in einer Gesellschaft letztlich alles davon ab, welche Rolle der Arbeit zugesprochen wird, wie sie definiert und praktiziert wird? Was ist Ihre Definition von Arbeit?
Günter Wallraff ist durch diverse Reportagen über deutsche Großunternehmen bekannt geworden. Nach der zehnten Klasse verließ er das Gymnasium und begann eine Buchhändlerlehre, die er 1962 abschloss. Aufgrund seiner beharrlichen Weigerung eine Waffe in die Hand zu nehmen, wurde er beim Militärdienst zehn Monate lang schikaniert. Wallraff führte Tagebuch, aber die Bundeswehr verlangte von ihm, jegliche Veröffentlichung zu unterlassen. Als er das ablehnte, wurde er in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie des Bundeswehrlazaretts Koblenz eingewiesen. Nach einigen Wochen wurde er, wie er sagt, mit dem „Ehrentitel abnorme Persönlichkeit, für Frieden und Krieg untauglich, Tauglichkeitsgrad 6” wieder in die Freiheit entlassen. Die Veröffentlichung seiner Tagebücher aus der Zeit beim Militär war seine erste Enthüllungsgeschichte.
Arbeit sollte kein Selbstzweck sein – wie es in unserer Gesellschaft inzwischen leider Realität geworden ist. Das endet in Arbeitszwang, in „Arbeit um jeden Preis“ und führt dann dazu, dass diejenigen, die keine Arbeit haben, jede Arbeit verrichten, um dazuzugehören. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die den Menschen danach beurteilt, was er leistet und nicht, was er erleidet. Zugleich hat sich die Bewertung von Leistung und Arbeit ins Gegenteil verkehrt, so dass die Menschen, die oftmals am meisten leisten, die größten Entbehrungen auf sich nehmen, die eigentlichen Dienste an der Allgemeinheit leisten, dafür auch noch verachtet und in der gesellschaftlichen Rangordnung nach unten gedrängt werden – dies betrifft zum Beispiel die Pflegeberufe. Das ist eine Schieflage, die die ganze Gesellschaft ruiniert, die die Demokratie unterhöhlt. Wir leben in einer Situation, in der sich eine schmale Gesellschaftsschicht über die anderen erhebt, sich selbst Vorbildcharakter zuspricht, sich selbst feiert und mit dem Rest der Gesellschaft nichts mehr zu tun hat. Sie definieren Arbeit nur als wertvoll, wenn sie ihnen die Taschen füllt – den Gebrauchswert, den Gehalt, den sinnstiftende Charakter von Arbeit kümmert sie nicht.
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