Auf lange Sicht sind wir alle pleite (oder tot? oder beides?)

Kolumnentitel: Finanz & Eleganz

Auf lange Sicht sind wir alle pleite (oder tot? oder beides?)

Schade eigentlich, dass wir nicht in einer Welt der Augenblicksaufnahmen leben. Eine schöne Geste im passenden Bildausschnitt, eine gelungene Detailaufnahme, ein gutes Take im richtigen Moment… Die Stilleben-Welt hätte etwas Übersichtliches und Beruhigendes. Leider jedoch vergeht unausweichlich Zeit und die Abläufe verschmieren alles. In kürzerer oder längerer Zeit drohen Konsequenzen: „aber wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe…“ mahnt schon Wilhelm Busch.
John Maynard Keynes hat einmal auf Einwände, die die langfristigen Folgen der von ihm vorgeschlagenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen anmahnten, geantwortet: „Auf lange Frist sind wir alle tot“. Aber wie lange ist diese Frist? Welchen Anlagehorizont und welche zeitliche Perspektive haben wir? Daran entscheidet sich, ob wir auf ein Wellental blicken oder an einem Gipfel empor. Wann ziehe ich den Schlussstrich und mache die Abrechnung?

Spekulanten und Investoren unterscheiden sich, so sagt man, durch die Zeitspanne, für die sie planen. Der Spekulant will kurzfristig Rendite, der Investor langfristig. Die besonders verantwortlichen Formen des Investments werden als „nachhaltig“ bezeichnet; sie sichern Werterhalt oder Wertsteigerung über längere Zeiten und sind auf Wirtschaftsaktivitäten bezogen, die Raubbau und kurzsichtige Profitinteressen vermeiden. Ist also langfristiges Denken gut? Wird unser Finanzdenken moralisch besser, wenn wir einfach auf größere Zeiträume reflektieren? Unterscheidet den guten vom schlechten Menschen, dass der erste den längeren Zeitausschnitt, die umfassendere Aufmerksamkeitsspanne hat?
Dass das Zeitbewusstsein über den Charakter einer finanziellen Unternehmung entscheidet, das ist eigentlich banal. Keine ROI (Return on Investment)-Berechnung kann ernst genommen werden wenn nicht die betrachtete Periode, der zeitliche Abstand, berücksichtigt ist. Kein Finanzchef wird sagen können: „Es lässt sich ein Gewinn von 20 % unseres eingesetzten Kapitals erzielen – leider weiß ich nicht, bis wann…“

Über den zeitlichen Horizont unserer Anlagen und Erwartungen entscheidet so vieles: Erfahrungen mit meiner Umwelt, religiöse Überzeugungen, mein Lebensalter, das Vertrauen auf gesellschaftliche Stabilität etc. Ein 70-Jähriger wird andere Rendite-Erwartungen und Zeitpläne haben als ein 17-Jähriger. Und Bewohner von Bananenrepubliken investieren anders als diejenigen von Schweizer Kantonen.
Und doch akzeptieren wir in vielen Fällen, dass kein Zeitraum benannt werden kann. Von Tesla, dem visionären Elektroautokonzern, schlucken es die meisten Anleger, wenn er ankündigt, bis 2020 keine Gewinne zu machen – und danach … vielleicht. Das möchten wir von der Deutschen Bank oder BASF allerdings nicht hören! Zu jeder Firma, jedem Produkt, jeder unternehmerischen Innovation oder gesellschaftlichen Entwicklung haben wir einen Zeitindex. Wenn wir durch die Stadt gehen, dann können wir uns alle Häuser, alle Unternehmen mit einem Balkendiagramm darüber vorstellen, das zeigt, in welchen Zeiträumen hier gerade kalkuliert wird: welche Mittel sind für welchen Zeitraum festgelegt? Wer erwartet wann welchen Gewinn? Wird überhaupt Gewinn erwartet?

Kurzfristige Engagements kennen wir (zumal im Zeitalter der Bindungsangst) alle. Aber wie ist es denn mit ewigen Investments? Ja, auch das gibt es natürlich. Damit meine ich weniger die Investition des Hedgefondsmanagers Joon Yun, der Palo Alto Investors leitet und im Silicon Valley Pharma- und Biotech-Ideen finanziert. Mit dem von ihm ausgelobten „Palo Alto Longevity Price“ sollen Forschungen zur menschlichen Unsterblichkeit belohnt werden. Ohne Zweifel eine langfristige Investition.
Ich meine hier Investments, deren Gewinne nie realisiert werden. Viele Kunstwerke oder Sammelobjekte gehören dazu – gelegentlich „rechnet man sich reich“ mit ihnen, aber meist werden sie dann doch vererbt. Wirklichen Gewinn macht man jedoch nur im Augenblick des Verkaufs! Wenn also eine Investition langfristige Wertsteigerung verspricht und der Gewinn immer nur auf dem Papier existiert, dann kann schnell ein „ewiges Investment“ entstehen. So manche Familie sammelt Goldschätze oder Immobilen für schlechte Zeiten an, die nie kommen. Und gelegentlich nimmt man sogar hin (oft für eine „gute Sache“), dass das Geld fest bis sehr fest angelegt ist – in Stiftungen (die der Natur nach unsterblich sind) zum Beispiel.

Das müsste doch dann der Inbegriff des moralisch guten Geldes sein – ganz langfristig angelegt. Nur müssen natürlich auch Stiftungen Monat für Monat Einkünfte erzielen um für ihre Zwecke ausschütten zu können. Das (strategische) langfristige Ziel der Beförderung des Guten, das viele Stiftungen verfolgen wird also immer ergänzt durch die (taktischen) Notwendigkeiten der Erzeugung von Cash. Also ist auch dieses Geld „auf dem Markt“, es fließt weiter – nur dass die realisierten Gewinne anders verwendet werden. Und dann: Soll Geld nicht auch eigentlich fließen und sich immer wieder neu in alle Teile der Wirtschaft und Gesellschaft ergießen? Stiftungen sind also eigentlich (anders als Goldbestände oder die Dollarberge von Dagobert Duck, der „reichsten Ente der Welt“) kein ewiges Investment.
Für die Ewigkeit sind wir einfach nicht gemacht. Wir wollen mit Geld etwas gestalten – und zwar meistens hier und jetzt. Sofortigen Konsum, das sofortige Gefühl der Sicherheit, sofortige Befriedigung der moralischen Bedürfnisse – all das kann uns in verschiedene Zeithorizonte setzen. Denn Zeit ist Geld – aber Geld ist auch Zeit… Und wer denkt, das habe nun aber gar nichts mit „Finanz und Eleganz“ zu tun, der weiß nicht, wie wichtig Timing für jede Form von Eleganz ist. Daran sollte sich jeder und jede gelegentlich erinnern lassen – zum Beispiel durch Genies wie Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Georg Philipp Telemann, Tom Jones, Donald Fagen, Paul Weller, Wolfgang Amadeus Mozart oder Gregory Porter – mit der schönsten Form von Fließgleichgewichten und geordneter Dynamik, der Musik.

Geschrieben bei einer Tasse Tee am 14. Juni 2016.

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In der Kolumne “Finanz & Eleganz” geht Bernd Villhauer, Geschäftsführer des Weltethos Instituts, den Zusammenhängen von eleganten Lösungen, Inszenierungen, Symbolen und Behauptungen einerseits sowie dem Finanzmarkt andererseits nach. Grundsätzliche Überlegungen zu der Kolumne finden Sie in der Einführung.