RESILIENZ – Editorial zu Ausgabe 2/2022 | Frank Augustin

Cover-Illustration zur Ausgabe 2/2022Illustration: DMBO – Studio für Gestaltung

 

RESILIENZ

Editorial zu Ausgabe 2/2022

Mitten in die Erstellung dieser Ausgabe hinein platzte die Meldung vom Krieg in Europa. Überraschend? Nur für jene, die seit der Annexion der Krim und dem Syrien-Konflikt geschlafen haben, in dem sich Putin und seine Führungsriege mit unverzeihlicher Brutalität zu politischer Bedeutung zurückgebombt haben. Dass es so weit kommen konnte, sagt einiges aus über den Zustand westlicher Demokratien. Wachsamkeit und Entschlossenheit sehen anders aus – und verhindern die Eskalation von Konflikten.

Mit dem Krieg in der Ukraine wurde die nächste Stufe des allgemeinen Niedergangs erreicht, der mit der Finanzkrise 2007/08 an Fahrt aufgenommen hatte. Ein allgemeiner Niedergang setzt etwas Allgemeines voraus – vieles spricht dafür, dass es sich dabei um den Kapitalismus handelt.

Denn spätestens mit dem Ende des Ostblocks ist Kapitalismus nicht nur weltweit die dominierende Weltanschauung geworden – von einer „Neuen Weltordnung“ hatte gar der damalige US-Präsident George Bush senior gesprochen; das war paradigmatisch für den Westen: Arroganz statt Weltbefriedung, Konsumismus statt demokratischer Schulung –, sondern er bemächtigte sich zunehmend auch unseres Alltags. Denken Sie an Lohn- und Preisentwicklungen, Effizienzkriterien, Leistungsdenken in allen Bereichen des Lebens, an die Produkte und Konzerne des Plattformkapitalismus, zahllose technische Weiterentwicklungen im Sinne des vermeintlichen Fortschritts, die Konditionierung auf verhaltenskapitalistische Belohnungssysteme etc. pp. Die kapitalistische Logik ist total geworden.

Die zunehmende Reduzierung menschlichen Denkens und Handelns auf eine einzige Logik führt aber unweigerlich zu einer Verengung des Lebens, des menschlichen Spielraumes, der persönlichen Entwicklung, zum Verlust der Freiheit. Die zerstörerischen Folgen dieser Totalität offenbaren sich heute vor allem in einem globalen Wachstumsdogma, das die Vernichtung der Lebensgrundlagen zur Folge hat – hier sprechen wir von Hunderten Millionen Menschen, die dem Tod geweiht sind, wenn weiter dem Gott des Wachstums gedient wird. Sie offenbart sich auch in der Übermacht der Finanzmärkte, die sinnvolles, nachhaltiges und sozial gerechtes Wirtschaften nahezu unmöglich gemacht hat. Sie offenbart sich in Despoten wie Putin und zahlreichen Oligarchen rund um den Globus, die vom unersättlichen Energiehunger des Kapitalismus getragen werden, in zahlreichen Stellvertreterkriegen um Rohstoffe, befeuert durch unsere Waffenlieferungen. Kaum ein „normales“ Leben im Westen, das nicht auf der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und/oder Ausbeutungsverhältnissen beruht und direkt oder indirekt auf die Konten von Neofeudalisten wie Putin einzahlt.

Da aber ohne quantitatives Wirtschaftswachstum und billige Energie, ohne Umweltzerstörung und Ausbeutung der Großteil unserer Wirtschaft implodieren und entsprechend erst mal nicht mehr viel funktionieren wird, ist die Zeit reif, dass sich radikal emanzipatorische, üblicherweise als „links“ bezeichnete, und konservative Haltungen verbinden. Denn der radikale Abschied von der alten Lebenswelt, ihren Werten und Gewohnheiten – normalerweise ein rotes Tuch für Konservative und Job der revolutionären Linken – ist hier und heute die ultimative Bedingung dafür, dass konservative Lebensformen künftig überhaupt noch existieren können. Alle müssen über ihren Schatten springen, wenn der Niedergang aufgehalten werden soll. Der Kapitalismus ist unser innerer Schweinehund, den wir überwinden müssen. Das wäre resilient. ■

Das Wort Resilienz (von lateinisch resilire: zurückspringen, abprallen) kommt ursprünglich aus der Psychologie und bezeichnet die Fähigkeit, sich trotz belastender Umstände gut zu entwickeln bzw. Extremsituationen durchzustehen, ohne bleibenden seelischen Schaden zu nehmen. Doch längst wird es auch auf gesellschaftliche Systeme, Ökosysteme, Unternehmen, technische Systeme etc. angewendet, um deren Widerstandsfähigkeit und Krisenfestigkeit zu beschreiben.

Ihr Frank Augustin
Chefredakteur

Frank Augustin
Frank Augustin hat Philosophie und Geschichte studiert, dann für das Journal für Philosophie der blaue reiter gearbeitet und ist seit 2009 für agora42 | Das philosophische Wirtschaftsmagazin tätig.
Cover der Ausgabe 2/2022

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