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Teil 2: Die Finanz und ihre Fehler: Der Sozialrevolutionär als Investor
Mit Friedrich Engels in Eastbourne
Text von Bernd Villhauer | Kolumne Finanz & Eleganz | veröffentlicht am 3. April 2025
Zu meinen Sommerbelustigungen gehörte eine Reise nach Eastbourne. Das ist ein traditionsreiches englisches Seebad an der Südküste. Anders als manche dieser Küstenorte in „Merry Olde England“ ist es nicht runtergekommen und vermüllt, sondern sauber rausgeputzt und tadellos in Stand gesetzt, auch weil hier viele wohlhabende Rentnerinnen und Rentner ihren Lebensabend verbringen. Daher britisch-humorig die launige Beschreibung als „God’s Waiting Room“, das Wartezimmer Gottes.
Verstehen kann man, dass hier geduldig auf den letzten Schnaufer gewartet wird – eine tolle Küste mit wunderbaren Aussichtspunkten und windigen Sea Walks, ein breites Angebot an Restaurants und Kultureinrichtungen, der bemerkenswerte Eastbourne Pier mit allerlei Amusements und vor allem dem besten Cream Tea der Stadt… Das hat schon immer Menschen angezogen, die Erholung und Gewichtszunahme suchten. So auch Friedrich Engels (1820-1895). Ja, genau: Engels, der Freund von Kalle Marx, Mitbegründer der wichtigsten Tradition des linken Denkens. Es lohnt sich, dem Mann etwas Aufmerksamkeit zu schenken, auch wenn einem die Umsetzung Marx-Engelscher Ideen in den kommunistischen Diktaturen nicht recht sympathisch ist.
In Eastbourne hat er viele Ferien verbracht und dort wurde nach seinem Tod sogar seine Asche ins Meer gestreut. Der Ort war ihm lieb – auch weil er selbst mit einem Teil seiner Existenz ganz dem Bild des viktorianischen Gentlemans entsprach. Denn das war Friedrich Engels, der Fabrikant, der die Weltrevolution plante, in der Tat: „upperclass“ und nicht „common people“. Der Autor von Die Lage der arbeitenden Klasse in England war begeistert von Fuchsjagden (wofür er auch ein eigenes Pferd hielt), guter Kleidung, luxuriösen Hotels und teuren Alkoholika. Er berichtet in seinen Briefen freimütig darüber, spricht ironisch-stolz, aber auch selbstkritisch von seinen Wohlstandsprivilegien und lässt auch nicht aus, dass er durchaus bei Bordellbesuchen von der prekären Lage des weiblichen Teils der arbeitenden Klasse profitierte. Das gehört zu Engels ebenso wie sein lebenslanges Engagement für soziale Verbesserungen, seine Empathie für die Ärmsten der Armen wie es sich in beeindruckenden Sozialreportagen und soziologischen Darstellungen ausdrückt. Er war ein „Mann in seinem Widerspruch“, ambivalent – um das Mindeste zu sagen. Wir wollen den Ambivalenzen hier einmal nachgehen und vor allem sein spekulatives Tun im Finanziellen beleuchten. Sich Engels in Eastbourne vorzustellen, das hilft dabei sehr. Am besten beginnen wir im Astor House, No. 4 Cavendish Place: „near to the promenade and opposite of the pier”, also nahe an der Küstenspaziermeile und gerade gegenüber vom Pier. Das Haus existiert noch heute und brave südenglische Linke wollen schon lange eine Gedenkplakette anbringen. Es gab mal eine, die aber zuerst beschmiert und dann geklaut wurde…
Engels wohnte in Eastbourne natürlich mit Haushälterin, vor allem mit Helena Demuth, die zuvor bei der Familie von Marx gearbeitet hatte und nun ihn betreute. Hier könnten wir einen interessanten Seitenpfad beschreiten, da „Lenchen“ Demuth auch einen Sohn von Marx bekommen hatte, um den sich Engels kümmerte… Aber wir bleiben bei Engels großbürgerlichem Leben im Urlaub und beobachten ihn, wie er seinen Lieblingsweg in Eastbourne abschreitet, die Küste entlang nach Beachy Head, wo sich über den Felsen ein großartiger Ausblick auf das Meer bietet. Die Restaurants in Eastbourne wurden auch frequentiert, wenn ihm Frau Demuth etwas Leckeres gemacht hatte. Engels suchte an seinem Ferienort kaum Anschluss an die lokale Oberschicht, wich dieser aber auch nicht aus. Gesellschaftliche Pflichten nahm er ernst – solange es diese Gesellschaft eben noch gab… Er war ohnehin in hohem Maße fähig, im Alltag Unternehmer und Bürger, aber in der Freizeit Revolutionär zu sein.
Vielleicht kam ihm da Eastbourne ganz besonders entgegen, denn der Ort hatte immer schon einen besonderen Charakter – als Anlageobjekt des 7. Duke of Devonshire. Dieser ist der größte Immobilienbesitzer vor Ort gewesen und auch heute noch gehört der Familie so einiges. Eastbourne als Erholungsort war eben vor allem auch ein Investment des Duke, der den Ort gezielt zum Servicepoint für wohlhabende Seegäste entwickelte, ganz an der Nachfrage der mittleren und oberen Schichten orientiert. Er kannte den Geschmack von Menschen wie Friedrich Engels…
Dieser hatte selbst wenig Interesse an Immobilien; seine Aufmerksamkeit galt den Aktienmärkten und Beteiligungen. Anteile an der eigenen Firma spielten eine Rolle, aber auch noch vieles mehr. Er war ein Spekulant. „Wir sind jetzt hier in vollem Schwung der Prosperität und der flotten Geschäfte“, so eine Beschreibung in einem Artikel: „Kapital ist im Überfluss auf dem Markt und sucht überall nach profitablem Unterkommen.“ Engels war durchaus bereit, für profitables Unterkommen Kapital zur Verfügung zu stellen – schon damit er die materiellen Grundlagen für seinen Freund Marx erhalten konnte, der zur gleichen Zeit Das Kapital schrieb. „Ich habe auch Papierches, kaufe und verkaufe zuweilen“, schrieb Engels. Und er war dabei recht geschickt, vermehrte sein Vermögen beträchtlich; bei seinem Tod hinterließ er ein Aktienpaket im Wert von immerhin 22.600 Pfund (heute etwa 2,7 Millionen Euro), darunter Anteile an der Northern Railway Company, der South Metropolitan Gas Company, der Channel Tunnel Corporations Ltd. oder der Foreign & Colonial Government Trust Company (eine börsennotierte Investmentgesellschaft, aktiv vor allem in den britischen Kolonien). Besonders die letzte Position zeigt, dass Engels sich nicht an ESG-Kriterien bei seinen Anlagen hielt, es lag ihm fern, ökologische, soziale oder governance-orientierte Investmentkriterien in den Vordergrund zu stellen (was natürlich damals auch noch überhaupt kein Thema war – außer bei den tiefreligiösen Quäkern, die schon früh Deinvestment-Kampagnen gegen die Sklaverei lancierten). In der sehr lesenswerten Engelsbiografie von Tristram Hunt finden wir die Charakterisierung: „Engels gehörte zu dieser kolonial-kapitalistischen, mit Aktien spekulierenden Welt“. Und zwar so richtig! Die Börse sah er sogar positiv, da sie die Zentralisierung und Kapitalkonzentration fördere, also zur Vorbereitung der kommunistischen Weltrevolution beitrug. Er empfahl, man solle das Börsengeschäft „sich recht frei entfalten … lassen, damit auch dem Dümmsten klar werde, wozu die heutige Wirtschaft führt“. Tipps fürs Investment bezog er aus dem 1843 gegründeten liberalen Economist, den auch Marx sehr schätzte: „So kindlich bin ich nicht, mir bei meinen Operationen in der sozialistischen Presse Rat zu holen“. Das internationalistische Denken der Arbeiterbewegung verkörpert sich in Engels also auch als Kosmopolitismus der internationalen Renditejagd. Er war ein Globalist in jedem Sinne. Kein Wunder, dass er die Küste in Eastbourne suchte und die Weitsicht übte.
Ich stelle mir vor, wie Engels bei seinen Spaziergängen auf das Meer hinausschaut, sich über den Bart streift, über seine Erfolge und seine Fehler nachdenkt. Können wir sagen, dass er sich „keine Illusionen“ über die Finanzmärkte machte? Oder versuchte er – bei allen theoretischen Unzulänglichkeiten – ein übergreifendes Bild der Wirtschaftsprozesse zu beschreiben, das die Hoffnung nicht ganz außer Acht ließ?
Geschrieben bei einer Tasse Tee am 26. September 2024

Dr. Bernd Villhauer ist Geschäftsführer des Weltethos Instituts Tübingen.
In der Kolumne „Finanz & Eleganz“ geht Bernd Villhauer den Zusammenhängen von eleganten Lösungen, Inszenierungen, Symbolen und Behauptungen einerseits sowie dem Finanzmarkt andererseits nach. Grundsätzliche Überlegungen zu der Kolumne finden Sie in der Einführung.
