Rationalität: Europäische Herkunft, globale Geltung – von Johannes Weiß

Rationalität – Europäische Herkunft, globale Geltung

Von Johannes Weiß

Worin liegt die weltgeschichtliche Bedeutung Europas? Wenn man auf diese Frage eine Antwort sucht, kommt man um den Historiker, Ökonomen und Soziologen Max Weber (1864–1920) nicht herum. Eine seiner zentralen Fragen lautet: Wie erklärt es sich, dass bestimmte Kulturerscheinungen, die unter sehr besonderen Bedingungen in Europa aufgekommen waren, es nicht nur zu weltweiter Verbreitung, sondern auch zu (fast) allgemeiner Geltung gebracht haben? Flughäfen, Einkaufszentren oder Universitäten, aber auch Verwaltungsapparate, demokratisches Gedankengut, mediale Aufklärung und effiziente Arbeitsorganisation sind längst zu globalen Gegebenheiten geworden. Dies bloß mit der Durchsetzung ökonomischer und politisch-militärischer Interessen zu erklären, reicht nicht aus.

1. Das Problem

„Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen“ (Max Weber 1947, 1)?

Johannes Weiß
Johannes Weiß ist Professor für Soziologische Theorie, Sozialphilosophie und Kultursoziologie an der Universität Kassel.

Der Satz ist bekannt und viel zitiert. Aber ist auch hinreichend geklärt, was er besagt und was wir heute davon zu halten haben? Der Philosoph Jürgen Habermas spricht in seinem Buch Theorie des kommunikativen Handelns von der „vorsichtig universalistischen Position“ Max Webers, die in diesem Satz und den nachfolgenden Erläuterungen zum Ausdruck komme. „Vorsichtig“ ist Webers Position tatsächlich, weil er die „universelle Bedeutung und Gültigkeit“ der gemeinten „Entwicklungsrichtung“ nicht geradehin behauptet und auch nicht, nicht einmal ansatzweise, begründet, sondern einem Vorstellungskomplex zurechnet, der „uns“, das heißt wohl: uns Europäern, angenehm ist.

Aber unbezweifelbar ist doch, dass die Frage nach der besonderen, ja singulären „Verkettung von Umständen“, die bestimmte „Kulturerscheinungen“ hervorgebracht hat, für jeden (wie für jeden „Sohn der modernen europäischen Kulturwelt“) nur deshalb so außerordentlich dringlich ist, weil sich mit diesen Kulturerscheinungen nicht nur ein universeller Anspruch, sondern auch eine nachweisbare universelle, das heißt globale Wirksamkeit verbindet.

Im Übrigen sagt Weber sehr deutlich, was die von ihm im Einzelnen genannten Kulturerscheinungen, von der Wissenschaft bis zum modernen Kapitalismus und Sozialismus, gemeinsam haben, was es also nahelegt, sie in eine bestimmte „Entwicklungsrichtung“ einzuordnen: ein „spezifisch gearteter ‚Rationalismus’ der okzidentalen Kultur“ (Max Weber 1947, 11).

Allerdings hebt Weber hier wie auch sonst hervor, wie vieldeutig der Begriff der Rationalität ist: Was von einem der „höchst verschiedenen Gesichtspunkte und Zielrichtungen“ rational sei, könne, aus einer anderen Perspektive betrachtet, durchaus irrational sein. Deshalb sei es von höchster Wichtigkeit „die besondere Eigenart des okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen, Rationalismus zu erkennen und in ihrer Entstehung zu erklären“ (Max Weber 1947, 12).

Mit der Eigenart der besonderen Bedingungen, unter denen dieser spezielle Rationalismus in einigen seiner Ausprägungen entstehen und sich entfalten konnte, hat Weber sich eingehend beschäftigt. Nirgendwo aber hat er sich der – davon streng zu trennenden – Aufgabe unterzogen, diesen Rationalismus selbst in seiner Eigenart zu bestimmen und zu erläutern. Weil er aber eine zwar vorsichtige, aber doch vorsichtig universalistische Position einnahm, wird man das Spezifische des „spezifisch gearteten Rationalismus der okzidentalen Kultur“ paradoxerweise gerade in seinem universellen oder, wieder vorsichtiger, universalisierbaren Charakter zu suchen haben.

Nur wenn man nicht zwischen dem historisch spezifischen Kontext der Entstehung und dem globalen Kontext der Geltung und Wirkung einer „Kulturerscheinung“ unterscheidet, kann man den Erfolg des modernen („okzidentalen“) Kapitalismus in asiatischen Gesellschaften gegen die sogenannte „Weber-These“ ins Feld führen.

 

2. Rationalität als Kommunikabilität

Nicht irgendein Interpret, schon gar nicht Jürgen Habermas, sondern Max Weber selbst hat gelegentlich die Bedeutung von „Rationalität“ in einem sehr elementaren Sinne mit „Kommunikabilität“ zusammengebracht. „Rational“ wird demnach etwas (eine Behauptung oder Erklärung, eine normative Erwartung, aber auch eine Institution) in dem Maße genannt, in dem es faktisch intersubjektiv verständlich und in seiner Begründung nachvollziehbar ist. Ein Höchstmaß an Rationalität ist, so gesehen, dann gegeben, wenn etwas in seinem Sinn und in seiner Begründung als allgemein verständlich gilt und deshalb auch mit allgemeiner Zustimmung rechnen kann.

 

Ein Höchstmaß an Rationalität ist dann gegeben, wenn etwas in seinem Sinn und in seiner Begründung als allgemein verständlich gilt und deshalb auch mit allgemeiner Zustimmung rechnen kann.

 

Der spezifische Rationalismus der von Weber genannten Schöpfungen der okzidentalen, insbesondere modernen Kultur scheint mir nun genau darin zu liegen, dass ihnen nicht nur ein besonders hohes Maß an „Kommunikabilität“ eignet, sondern dass sie sich mit großem Erfolg als Medien einer globalen Kommunikation etabliert haben. Wenn, wie der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) sagt, die Grenzen einer Gesellschaft durch die Grenzen der „kommunikativen Erreichbarkeit“ definiert werden, dann haben sich diese Grenzen in der „Weltgesellschaft“ so ausgeweitet, dass, jedenfalls im Prinzip, alle Menschen, und zwar als Menschen, in einen einzigen Kommunikationszusammenhang einbezogen, „inkludiert“ sind – jedenfalls als Subjekte und Objekte der Wissenschaft und der Technik, der (kapitalistischen) Ökonomie und einer auf universalistischen Prinzipien gründenden Ordnung der Moral und des Rechts (respektive der Politik). Und dieser Prozess einer globalen Inklusion ist, so scheint es, dadurch charakterisiert, dass er sich nicht nur faktisch – etwa als Folge ökonomischer oder politisch-militärischer Machtkonstellationen – vollzieht, sondern von starken, womöglich konkurrenzlosen Begründungen unterstützt und vorangetrieben wird, sodass ihm nicht nur de facto, sondern auch de jure (von Rechts wegen) eine „universale Bedeutung und Gültigkeit“ zugeschrieben wird beziehungsweise zugeschrieben werden kann.

 

3. Globale Verbreitung versus universelle Geltung

Eine an Weber anschließende, „vorsichtig universalistische Position“ steht und fällt mit der Möglichkeit, begrifflich und in der Sache zwischen der Globalisierung als factum brutum (bloßer Tatsache) und einer Universalisierung zu unterscheiden, die „gute Gründe“ auf ihrer Seite hat. Und „gut“ wären genau solche Gründe, die nichts voraussetzen als das, was bei allen Menschen (als Menschen) vorzufinden oder allen Menschen zuzuschreiben ist. Genau diese Überlegung hatte den englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679) bei seiner Konstruktion des Leviathan geleitet, und das erklärt, warum seine Konstruktion bis auf den heutigen Tag den Minimalkonsens im modernen Staatsdenken sichert.

Das heute übliche Verständnis von „Globalisierung“ überspielt diese notwendige Differenzierung ebenso wie die vorhergehende Rede von „Europäisierung“ oder „Verwestlichung“ und die neuere Kritik der
„Amerikanisierung“. Durchgehend bleibt genau die Frage ausgeblendet, die Weber beunruhigte und bewegte: Wie kann eine kulturelle Schöpfung, die, wie alle übrigen, nur unter besonderen, ja singulären Bedingungen in die Welt zu kommen vermochte, eine „Bedeutung und Gültigkeit“ gewinnen, welche von allen besonderen Bedingungen unabhängig ist? Für die Geschichtsteleologien (gr. telos = Ziel, Zweck, Sinn) des 18. und 19. Jahrhunderts war, wie für ihre theologischen Vorgänger und Muster, diese Frage sinnlos, weil sie allem Geschehen einen Ort und eine Funktion in der einen universalen Geschichte zuwiesen. Diese Möglichkeit hatte sich für Weber erledigt – wegen der Unabweisbarkeit des Historismus und wegen der darüber hinausgehenden, von Weber ausdrücklich vertretenen Auffassung, dass es in der Geschichte überhaupt keinen objektiven, also allgemein verbindlichen Sinn gebe. Trotzdem konnte Weber sich nicht mit einer historistischen, also strikt relativistischen Position abfinden, und gewiss wäre er auch mit deren neuen postmodernen respektive konstruktivistischen Varianten unzufrieden gewesen.

 

Zitierte Literatur:

Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Band 1 (Verlag von J.C.B. Mohr, Siebeck, 1947)

Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1 (Suhrkamp Verlag, 1981)

Dieser Artikel von Johannes Weiß ist erstmals in der Ausgabe zum Thema EUROPA erschienen:

Was ist Europa? Eine Wirtschaftsunion? Eine Festung? Mit Beiträgen von Dieter Schnaas, Richard David Precht, Barbara Zehnpfennig, Srecko Horvat uvm.