AUFKLÄRUNG | Editorial zu Ausgabe 1/2022 | Frank Augustin

Cover-Illustration der Ausgabe 1/2022Illustration: DMBO – Studio für Gestaltung

 

AUFKLÄRUNG

Editorial zu Ausgabe 1/2022

2009. Gründung der agora42. Weltwirtschaftskrise. Sonnenklar: Wir waren zu weit gegangen; das war die letzte Warnung; Wirtschaft und Gesellschaft müssen radikal umgebaut werden. Doch dann zog Nebel auf. Denn es geschah … nichts. Wie bitte? Ja. Nichts.

2021. Noch immer fragt man sich, was eigentlich los ist. Weshalb nichts passiert und ohne Not der gesellschaftliche Zusammenhalt und unsere Lebensgrundlagen zerstört werden. Jedenfalls kann mir niemand erzählen, dass der Großteil der Bevölkerung bewusst und in böswilliger Absicht sich selbst und kommende Generationen schädigen will. Und es komme mir keine*r mit Unwissen – wir wissen genug.

Wie ist also solch widersprüchliches und selbstzerstörerisches Verhalten zu erklären? Antwort: mit Ideologie. Sie ist der Grund, weshalb es in der heutigen „Wirtschaft“ nicht um sinnvolles, nachhaltiges Wirtschaften geht, ja primär nicht mal um Ökonomie. Produktion, Handel, Konsum – alles meist nur Vorwand. Im Grunde geht es um Bedeutenderes, Eitleres, Erhabeneres: um die Schaffung einer besseren, ja einer heilen Welt durch ewiges BIP-Wachstum, magisch-schöpferisches Geld (Kapital), die Wunder der Technik und die Glücksverheißung materiellen Wohlstands.

Aber warum verfallen wir immer wieder Ideologien? Weil wir das Gute, das Heile so unbedingt wollen. Weil wir gerne eine Welt hätten, die in Ordnung ist. Die also im Prinzip gut und prinzipiell geordnet ist. Es ist paradox: Das Böse entsteht aus der Sehnsucht nach einer heilen Welt. Es ist nichts Monströses, sondern totalitäre Spießigkeit. Es tritt als der Wille zum Guten auf – Stichworte heute: Wirtschaftswachstum, technischer Fortschritt, Arbeitsplätze, Konsum, Freiheit, Sicherheit – und ist deshalb so schwer loszuwerden.

Tja, heile Welt … Dabei gibt es nicht einmal eine Welt, die heil werden könnte – worauf Markus Gabriel, Interviewpartner dieser Ausgabe, nicht müde wird hinzuweisen. Und: Niemand kann sich ganz vom Bösen befreien, jede*r ist immer auch böse. Wenn wir beides akzeptieren und damit umgehen lernen, werden wir deswegen nicht gut, aber wir holen das Beste für uns und andere heraus. Wir wären aufgeklärt.

Ihr Frank Augustin
Chefredakteur

Frank Augustin
Frank Augustin hat Philosophie und Geschichte studiert, dann für das Journal für Philosophie der blaue reiter gearbeitet und ist seit 2009 für agora42 | Das philosophische Wirtschaftsmagazin tätig.
Cover der Ausgabe 1/2022

Ausgabe 1/2022:

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