Demokratie radikal denken | von Aristotelis Agridopoulos

Welches Volk wird konstituiert?

Foto: William MacMahan / Unsplash

Demokratie radikal denken

Warum Demokratien demokratisiert werden müssen

Text: Aristotelis Agridopoulos

Wenn ein demokratisches Miteinander erhalten werden soll, müssen die Formen unseres Zusammenlebens grundsätzlich überdacht und neu geordnet werden. Demokratie hat kein Problem mit autoritären Führern, sie hat ein Problem mit sich selbst: Sie muss demokratischer werden.

Die parlamentarischen Demokratien und ihre politischen Eliten im gegenwärtigen neoliberalen Kapitalismus, allen voran diejenigen, die sich dem Westen zugehörig fühlen, werden durch zwei Ereignisse in der jüngeren Geschichte massiv infrage gestellt. Erstens durch den Crash der internationalen Finanzmärkte im Jahr 2007/08. Er hatte nicht nur zur Folge, das die enormen Verluste auf ganze Bevölkerungen abgewälzt wurden, sondern führte auch dazu, dass die südlichen Eurostaaten von den Kreditgebern und EU-Institutionen dazu gezwungen wurden, ihre sozialen Grundrechte abzubauen, Sozialleistungen massiv zu reduzieren, Staatseigentum zu privatisieren und zu deregulieren, um wieder „auf Linie“ zu kommen. In unseren global vernetzten Finanzregimen ist eine „seigniorale Macht“ am Werk, ein Begriff, den der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl entwickelt hat. Er bezeichnet damit die Macht der internationalen Wirtschafts- und Politiknetzwerke sowie nicht demokratisch legitimierter Akteure, die mit unseren Regierungen – im Namen angeblicher Alternativlosigkeit – Entscheidungen treffen und damit direkten Einfluss auf die Bevölkerung haben. Das Einzige, was zählt, sind Zahlen. Das BIP und die Wachstumsrate müssen stimmen, um das Vertrauen der „Märkte“ und Ratingagenturen zu gewinnen. Die Hilfsorganisation Oxfam und Ökonomen wie Thomas Piketty oder Joseph Stiglitz weisen stetig darauf hin, dass die sozioökonomische Ungleichheit rapide wächst. Die Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen weniger geht mit einem gleichzeitigen Abbau von ehemals erkämpften demokratischen und sozialen Rechten einher.

Keine „Flüchtlingskrise“, sondern eine tiefgreifende „moralische Krise“ unserer demokratischen Systeme.

Aristotelis Agridopoulos
Aristotelis Agridopoulos ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Moderne Politische Theorie der Universität Heidelberg. Er forscht insbesondere zu radikalen und agonistischen Demokratietheorien, politischer Subjektivierung und radikaldemokratischer Bildung sowie poststrukturalistischen Diskurstheorien.

Das zweite „demokratieerschütternde“ Ereignis wird seit 2015 mit dem zynischen Begriff „Flüchtlingskrise“ belegt. Noam Chomsky benennt den eigentlichen Kern dieser Krise, wenn er die Ereignisse, die tagtäglich vor allem an den Grenzen der USA und der EU stattfinden, nicht als „Flüchtlingskrise“, sondern als eine tiefgreifende „moralische Krise“ unserer demokratischen Systeme bezeichnet. Denn diese würden sich nur vordergründig als den universellen Menschenrechten verpflichtete Gesellschaften ausgeben. Tatsächlich flüchten Menschen aus dem globalen Süden aufgrund von Kriegen und Armut, für die der Westen mitverantwortlich ist, und wir lassen diese Menschen an den Grenzen sterben oder in Lager einsperren. Seenotrettungen werden kriminalisiert und autoritäre PolitikerInnen fordern Mauern an den Nationalstaatsgrenzen. Rechtsnationalistische und rassistische Führungsfiguren und ihre Parteien, die den Volksbegriff völkisch aufladen, sind schon längst an der Macht, von Trump über Orban und Erdoğan bis hin zu Bolsonaro; in der Warteschlange stehen Le Pen und Salvini.

Neben diesen beiden historischen Ereignissen könnten hier noch weitere regressive Entwicklungen genannt werden, wie das Blühen von Verschwörungstheorien und hate speeches in den digitalen Medien. Kurzum: Man könnte meinen, die westlichen Demokratien treiben ihrem Ende entgegen. Hat die Demokratie versagt?

Auf keinen Fall, meint der französische Philosoph Jacques Rancière. In seinen Augen schwächeln die Demokratien gerade nur aufgrund ihrer noch undemokratischen Elemente. Er schreibt: „Wir leben nicht in Demokratien. (…) Wir leben in oligarchischen Rechtsstaaten, das heißt in Staaten, in denen die Macht der Oligarchen durch die doppelte Anerkennung der Volkssouveränität und der individuellen Freiheiten begrenzt ist.“ Um einen Ausweg aus diesen oligarchischen Rechtsstaaten zu finden, lohne es sich, Demokratie radikaler zu denken und umzusetzen. Rancière ist damit Teil der DenkerInnen, die sich der radikalen Demokratietheorie zuordnen, wie beispielsweise Wendy Brown, Judith Butler, Cornelius Castoriadis, Bonnie Honig, Oliver Marchart, Chantal Mouffe, Ernesto Laclau, Claude Lefort oder Cornel West. Sie wenden sich gegen das neoliberale TINA-Dogma von Margaret Thatcher – „there is no alternative“ – das weiterhin die antidemokratische Handlungslogik unserer politischen Eliten in einer postpolitischen Gegenwart kennzeichnet. Dabei werden sie von einigen grundlegenden Annahmen geleitet, die ich im Folgenden vorstellen möchte.

Keine Götter, keine Märkte

Vertreter der radikalen Demokratietheorie kritisieren vehement die Entpolitisierung der Gesellschaft und die Verschleierung der menschengemachten (und somit änderbaren) Verhältnisse. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die radikale Demokratietheorie anti-fundamentalistisch ist, denn es benötigt gerade Fundamente, auf denen unser soziales Miteinander zu organisieren ist. Jedoch sind diese Fundamente nie in Stein gemeißelt – es ist also normal und notwendig, dass über sie gestritten wird. Oliver Marchart bringt es mit einem Rekurs auf die Französische Revolution auf dem Punkt: Mit der Französischen Revolution „war durch menschliches Handeln allgemein sichtbar bewiesen worden, dass soziale Ordnung auf keinen unumstößlichen Fundamenten aufruht und Gesellschaft daher auch anders geordnet sein könnte. Der korrekte technische Begriff dafür ist nicht Ungewissheit, sondern Kontingenz. Kontingent ist, was auch nicht oder anders sein könnte.“

Das Kontingenzbewusstsein – also das Wissen darüber, das unsere Welt veränderbar ist und keine Identität, keine soziale Struktur und kein politökonomisches Machtverhältnis von Natur aus gegeben ist – ist die Grundvoraussetzung für demokratisches Denken und Handeln. Es ist die Einsicht, dass wir Menschen unsere Gesellschaften selbst formen und weder Götter noch Märkte die Urheber unseres Miteinanders sind, sondern alle gesellschaftlichen Verhältnisse stets Ergebnisse vergangener Kämpfe und Machtaushandlungen sind.

Gleichheit neu denken

Mit diesen herrschaftskritischen Impulsen plädieren Rancière und Co. für eine Re-Politisierung im Sinne einer „Demokratisierung von Demokratie“. Grundlegend für diese Demokratisierung ist der Gedanke der Gleichheit aller Subjekte, wie ihn etwa Rancière formuliert: „Diese Gleichheit ist einfach die Gleichheit zwischen Beliebigen, das heißt letztendlich das Fehlen einer Arche, die reine Kontingenz jeder sozialen Ordnung.“ Der Begriff der Arche – aus dem Altgriechischen kommend – kann Anfang, Ursprung, Prinzip oder Autorität bedeuten. Rancière will damit aufzeigen, dass keine „natürliche“ Ursache für eine Herrschaft von Menschen über Menschen existiert. Daraus entspringt auch sein Gleichheitsbegriff, der sein Demokratiekonzept entscheidend prägt. Für Rancière ist Demokratie „keine politische Herrschaftsform“, sondern sie widerspricht hierarchischen Ordnungen ebenso wie der Repräsentation und der Expertokratie: „Demokratie und Repräsentation sind zwei ursprünglich klar getrennte Begriffe. Das Grundprinzip der Demokratie ist nicht die Repräsentation oder die Wahl, sondern die Auslosung, die allein die Aneignung der Macht durch eine spezialisierte Klasse verhindert.“ Der Grundsatz der absoluten Gleichheit führt bei Rancière etwa dazu, dass er Wahlen als undemokratisch ablehnt und stattdessen das Prinzip der Auslosung als die demokratische Praxis herausstellt, die der „Gleichheit jedes Beliebigen“ Rechnung trägt.

Welches Volk?

In der radikalen Demokratietheorie spielt der demos, der nach unseren Verfassungen die Souveränität innehat, eine zentrale, aber zugleich ambivalente Rolle. Rancière geht sogar so weit, dass er sagt: „‚Das Volk‘ existiert nicht. Es gibt nur unterschiedliche, ja widerstreitende Gestalten des Volkes, Gestalten, die konstruiert werden, indem bestimmte Versammlungsweisen, gewisse Unterscheidungsmerkmale, gewisse Fähigkeiten oder Unfähigkeiten bevorzugt werden.“ Es gibt jedoch zahlreiche Konflikte um den Begriff des Volkes, und über die Moderne hinweg wurden verschiedene Gruppen aus dem Volk ausgeschlossen. Gehörten beispielsweise Frauen bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht zum demos, sind sie heute Teil des Volkes. Genauso können heute junge Menschen, die unter 18 Jahre alt sind, als Ausgeschlossene gelten. Allen voran trifft diese Ausgrenzung aus dem „Volk“ unzählige Menschen, die nicht die Staatsbürgerschaft der Staaten besitzen, in denen sie leben und arbeiten.

Bei Rancière ist gerade dieser „Anteil der Anteillosen“ das demokratische Subjekt par excellence – Menschen, die im demos nicht dazuzählen. Ihre Worte werden nicht als Worte, sondern als „Lärm“ – wie Rancière schreibt – aufgefasst. Aber gerade weil Marginalisierte und Subalterne ihrem Ungerechtigkeitsempfinden in den meisten Staaten im Namen der radikalen Gleichheit Ausdruck verleihen können, indem sie zum Beispiel zivilen Ungehorsam zeigen, haben sie die Möglichkeit, Herrschaftsstrukturen infrage zu stellen.

Der Begriff des Volkes wird von den Vertretern der radikalen Demokratietheorie also nicht als rechtspopulistisch verworfen, sondern als Teil demokratischer Aushandlungsprozesse verstanden. Zugleich herrscht aber die Ansicht vor, dass ein „Volk“ immer etwas Konstruiertes ist, für das es kein exakt entsprechendes Pendant in der Wirklichkeit gibt. Ernesto Laclau sieht in den populistischen Kämpfen darum, wer als „Volk“ bezeichnet wird, gerade das Politische der Demokratie – und somit einen wichtigen Motor für emanzipatorische Kämpfe in der Geschichte.

Chantal Mouffes Hoffnung wiederum liegt darin, dass die Bürgerinnen und Bürger durch erkennbare Differenzen zwischen Parteien und Bewegungen wieder politisiert werden können: „Eine demokratische Gesellschaft braucht eine Diskussion über mögliche Alternativen und muss politische Formen kollektiver Identifikation mit klar unterschiedenen demokratischen Positionen bieten.“

Populismen sind aus einer radikaldemokratischen Perspektive nicht zu diffamieren. Vielmehr ist zu fragen: Welches Volk wird konstruiert?

Ebenso hat auch Nancy Fraser Bernie Sanders‘ Bewegung als einen progressiven Populismus befürwortet: „Wir müssen eine neue, linke Erzählung bieten. Eine ernsthaft egalitäre soziale Bewegung sollte sich mit der verlassenen Arbeiterklasse verbünden. (…) Es bilden sich gerade beeindruckende linke Koalitionen. Menschen aller Altersklassen politisieren sich. Mit einem progressiven Populismus, wie ihn Sanders betreibt, können sie erreicht werden. Zu dieser neuen Linken gehören aber eben auch Kurskorrekturen, hin zu einer solidarischen Linken. Diese kämpft um soziale Gerechtigkeit und für Emanzipation und Vielfalt.“
Populismen sind aus einer radikaldemokratischen Perspektive nicht zu diffamieren, wie es viele Parteien aus der Mitte mit ihrem Anti-Populismus versuchen. Vielmehr müssten progressive von regressiven Bewegungen unterschieden werden: Welches Volk wird hier konstruiert? Margaret Canovan hat daher gerade den Populismus als konstitutive Ideologie einer jeden Demokratie beschrieben – verschiedene Akteure, ob Bürgerinnen und Bürger, Parteien oder Medien dürfen und müssen den Begriff des Volkes nutzen.

Gegenwärtige radikaldemokratische Bewegungen

Die radikale Demokratietheorie zeigt, dass die Formen unseres Zusammenlebens grundsätzlich überdacht und neu geordnet werden können und müssen – sofern wir ein demokratisches Miteinander erhalten wollen. Die Krise der westlichen Demokratien ist aber nicht nur eine Verfallsgeschichte, sondern hat auch neue Bewegungen auf den Plan gerufen, die entschlossen zum Umdenken auffordern. „Fridays for Future“ kann etwa als eine breitenwirksame Bewegung betrachtet werden, die antielitäre, antikapitalistische und radikaldemokratische Motive in sich vereint. Dabei ist den TeilnehmerInnen völlig klar, dass es beim globalen Klimawandel um eine menschenverursachte Umweltkatastrophe handelt – und zudem um etwas, das nicht erst kommt, sondern längst da ist. Man könnte mit Rancière von Anteillosen sprechen, die zwar gut ausgebildet sind und nicht aus schlechten Elternhäusern stammen, aber von denen – so zumindest die Reaktion der meisten Politiker – erwartet wird, lieber still zu sein und die Schule nicht zu schwänzen, statt auf der Straße für sich und kommende Generationen zu demonstrieren.

Außerdem ist der Widerstand der Frauenbewegungen zu benennen, von dem oft gar nicht in den Medien berichtet wird. Selbst in unseren privilegierten Gesellschaften führen die neoliberale Politik und der dazugehörige Neokonservatismus immer mehr Menschen ins gesellschaftliche Abseits. Frauen sind diejenigen, die mit am meisten unter dieser Politik leiden, da Haus-, Familien- und Pflegearbeit sowie generell billige Lohnarbeit weltweit weiterhin von Frauen geleistet wird. Auch ist in vielen Teilen der Welt, einschließlich unserer Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen nach wie vor hoch. Trotzdem kann von einer neuen globalen feministischen Bewegung gesprochen werden: So besetzten zum Beispiel Studentinnen im Jahr 2018 Universitäten in ganz Chile und protestierten gegen sexuellen Missbrauch und sexistische Erziehung in Bildungseinrichtungen. Am 8. März 2019, dem Internationalen Frauentag, gingen in Chile in diesem Jahr mehr als 200.000 Frauen auf die Straße. Am selben Tag führten fast fünf Millionen Frauen in Spanien einen erfolgreichen Generalstreik durch. Und in den USA kam es in zahlreichen Städten zu enormen Mobilisierungen der Women‘s Marches, die sich gegen Trumps sexistische Aussagen und seine autoritäre Wählerschaft wenden. In Indien protestierten junge Studentinnen im vergangenen Jahr für mehr Selbstbestimmungsrechte und gegen sexuelle Gewalt. Alle kämpfen gegen das Patriarchat, den Sexismus, gegen wirtschaftliche Ausbeutung und für Freiheit und Selbstbestimmung.

Aber nicht nur Bewegungen, sondern auch Projekte, die der Rettung von Menschenleben, einer nachhaltigen Lebensweise oder der Selbstverwaltung dienen – wie beispielsweise die zahlreichen Seenotrettungs-NGOs im Mittelmeer, die Umweltaktivsten am Hambacher Forst oder das Mietshäusersyndikat –, können als radikaldemokratische Experimente bezeichnet werden.

Der Mensch ist ein poetisches, imaginations- und utopiefähiges Wesen.

Der Mensch ist ein poetisches, imaginations- und utopiefähiges Wesen. Wir benötigen Orte, Räume und Institutionen, in denen Menschen ihre sozialen und gestalterischen Fähigkeiten ausbilden können, statt weiterhin als narzisstische, konsumorientierte und passiv-apolitische Subjekte dahinzuvegetieren. Anderenfalls wird die Rückkehr des Verdrängten nicht auf sich warten lassen – sie zeigt sich bereits heute im Gewand der neoautoritären und rassistischen Bewegungen. Angesichts der hier skizzierten Lage unserer oligarchisch-kapitalistischen Systeme stellt sich weiterhin die entscheidende Frage, die Slavoj Žižek im Jahr 2011 im New Yorker Zuccotti Park an die Occupy-Bewegung gestellt hat: „Remember that our basic message is ,We are allowed to think about alternatives.’ If the taboo is broken, we do not live in the best possible world. But there is a long road ahead. There are truly difficult questions that confront us. We know what we do not want. But what do we want? What social organization can replace capitalism? What type of new leaders do we want?“ Radikaldemokratisches Denken könnte ein erster Schritt in Richtung einer emanzipatorischen Zukunft sein.

Der Text ist in Ausgabe 04/2019 DEMOKRATIE UND WIRTSCHAFT in der Rubrik TERRAIN erschienen. In dieser Rubrik stellen wir Theorien und Phänomene vor, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.

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