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Die Zerbrechlichkeit der Demokratie
oder: Demokratie und Kapitalismus
Text: Lars Distelhorst
Die politische Landschaft kippt nach rechts. Ob Trump in den USA, Erdogan in der Türkei, Duterte in den Philippinen, Bolsonaro in Brasilien oder Le Pen, Orban, Morawiecki, Beatrix von Storch, Alice Weidel und Björn Höcke in Europa. Hatte es eine Zeitlang so ausgesehen, als gehörten die geflügelten Worte „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ der Vergangenheit an, scheint Bertolt Brecht angesichts der aktuellen Verschiebungen des politischen Gefüges Recht zu behalten. Bei näherer Betrachtung des Phänomens muss es jedoch eher verwundern, dass wir vor dem Rechtsradikalismus so lange Ruhe hatten und das Pendel erst mit solcher Verspätung zurückschlägt.
Ich kann mich sehr genau an einen bestimmten Augenblick im Leistungskurs Sozialwissenschaft erinnern. Ich war 18 oder 19 und hatte gerade Erstkontakt mit Karl Marx. Ich war, wie für dieses Alter typisch, nach der Lektüre des ersten Kapitels des Kommunistischen Manifest glühender Marxist. Also sagte ich irgendwann im Unterricht: „Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft.“ Mein Sozialwissenschaftslehrer hob daraufhin mahnend den Zeigefinger und belehrte mich wie folgt: Kapitalismus sei ein ideologischer Begriff und würde die soziale Wirklichkeit entsprechend verzerrt darstellen. Keineswegs würden wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben, wo das Proletariat erbarmungslos verheizt wird und Streiks gemeinsam von Polizei und Schlägertrupps niedergeknüppelt werden.
Die Bedeutung dieser Anekdote liegt in dem Schlaglicht, welches sie auf das politische Bewusstsein wirft. Der Begriff soziale Marktwirtschaft beschreibt eine Überzeugung, die heute fester Bestandteil des politischen Bewusstseins der westlichen Industrienationen ist. Eine auf Privateigentum und Konkurrenz basierende Wirtschaftsweise, so die Überzeugung, findet ihr politisches Komplementärstück in einer demokratischen politischen Ordnung, die eine sozialstaatliche Grundversorgung umfasst, um das Aufkommen sozialer Verwerfungen zu kompensieren. Auf diese Weise kommt die Wirtschaft allen zugute. Den einen, weil sie direkt von ihr profitieren. Den anderen, weil sie auf dem Weg über Transfersysteme an ihren Früchten teilhaben. Klingt logisch, ist es aber keineswegs.
Demokratischer Kapitalismus?
Kapitalismus ist bei näherem Hinsehen keineswegs ein ideologischer Begriff. Er beschreibt eine Gesellschaft, deren Wirtschaftsweise auf Kapital beruht. Unter Kapital wird dabei allerdings weder Geld noch Arbeitskraft oder Maschinen verstanden. Kapital und damit Kapitalismus herrscht erst dort vor, wo Geld, Arbeitskraft und Maschinen zur Herstellung von Waren dienen, deren Zweck nicht in der Befriedigung konkreter Bedürfnisse, sondern in der Realisierung von Profiten liegt, die am Ende des Kreislaufs mit dem Ziel eines kontinuierlichen Wachstums reinvestiert werden. Das Ziel eines Pharmakonzerns besteht ebenso wenig in der Herstellung kostengünstiger Medikamente wie die Landwirtschaftsindustrie gesunde Lebensmittel herstellen möchte. Die Medikamente und die Lebensmittel sind lediglich ein Mittel zum eigentlichen Zweck: der Realisierung des Werts.
Kapitalismus hat mit Moral ungefähr so viel zu tun wie eine Banane mit einer Trompete.
Kapitalismus aus diesem Grund unmoralisch zu nennen, wäre indes vorschnell. In einer kapitalistischen Gesellschaft findet die Produktion um ihrer selbst willen statt. Kapitalismus hat mit Moral ungefähr so viel zu tun wie eine Banane mit einer Trompete. Er ist im vollsten Wortsinn amoralisch. Aus diesem Grund steht er auch keineswegs in einem natürlichen Bündnis zur Demokratie.
Ganz im Gegenteil waren zum Beispiel die berühmten „Chicago Boys“ vom Sturz der gewählten Allende-Regierung und der darauf folgenden Diktatur Augusto Pinochets gerade deshalb begeistert, weil ihnen dessen Militärregime die Möglichkeit einräumte, sich nicht mit demokratischen Grundprinzipien wie Menschenwürde oder Demonstrationsrecht herumschlagen zu müssen, während sie ihre wirtschaftsliberalen Vorstellungen in die Praxis umsetzte. Unter Hitler gedieh der Kapitalismus ebenso wie aktuell unter der Diktatur der kommunistischen Partei Chinas, und auch die Dutertes und Bolsonaros dieser Welt haben offensichtlich keinerlei negative Auswirkungen auf das Gedeihen der Wirtschaft. Geschichtlich betrachtet ist die Allianz von Demokratie und Kapitalismus auf wenige Länder begrenzt und zeitlich nicht von langer Dauer gewesen. Wo sie noch existiert, befindet sie sich in der Defensive.
Moderne Mythen
Friedrich Engels bezeichnete den Staat im Kapitalismus als „ideellen Gesamtkapitalisten“. Was er damit zum Ausdruck bringen wollte, war Folgendes: Die Aufgabe des Staates in einer kapitalistischen Gesellschaft besteht weniger in der Vertretung der Bürger und Bürgerinnen als in der Durchsetzung der übergeordneten Wirtschaftsinteressen. Ein gutes Beispiel ist die Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 Prozent auf historisch niedrige 42 Prozent durch die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Schröder. Das dies vor allem ohnehin schon begüterten Menschen zugutekommen würde, ist unter Einsatz des gesunden Menschenverstandes absehbar und seitdem von jeder Armutsstudie erneut bewiesen worden.
Indes stehen natürlich weder die SPD noch die Grünen morgens mit dem Vorsatz auf, die Lebensbedingungen armer Menschen in Deutschland zu verschlechtern oder einen aktiven Beitrag zum Wachstum von Kinderarmut zu leisten. Dass sie (wie alle anderen Parteien auch) trotzdem Entscheidungen dieser Art treffen, geht auf zwei essenziell mit dem Kapitalismus verwobene Mythen zurück.
Der erste Mythos ist die Geschichte von der unsichtbaren Hand des Marktes. Ursprünglich eine weitgehend irrelevante Nebenbemerkung in Adam Smiths Wohlstand der Nationen, ist diese Erzählung (wenn auch in verschieden radikalen Varianten) zu einem Dogma der Wirtschaftswissenschaft geworden. Sie ist schnell erklärt: Wenn die Beteiligten in einer kapitalistischen Wirtschaft ihr jeweiliges Eigeninteresse verfolgen, so pendelt sich dieses auf den ersten Blick chaotische System infolge seiner Eigendynamik auf ein Optimum ein, eröffnet neue Chancen für alle und schafft gesellschaftlichen Wohlstand.
Der zweite Mythos ist die Geschichte vom „Trickle-Down-Effekt“. Auch wenn zunächst nur die wohlhabenden Schichten der Gesellschaft zum Beispiel von der Senkung des Spitzensteuersatzes profitieren, so kommt dies mit einer gewissen Verzögerung doch allen zugute. Denn was oben mehr an Geld ankommt, wird investiert und schafft auf diese Weise Arbeitsplätze, Konsum und steuerliche Mehreinnahmen für den Staat, die wiederum in einer Verbesserung der von allen genutzten Infrastruktur münden, also beispielsweise in besseren Krankenhäusern und Schulen.
Mehr als Wahlen
Eine kapitalistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der Politik von vornherein eine marginale Rolle spielt, weil wesentliche Dinge nicht durch Entscheidungen geregelt, sondern im besten Glauben der Eigendynamik des Marktes überlassen werden. Christian Lindners Ausspruch, um den Klimaschutz sollten sich nicht protestierende Teenager, sondern Profis kümmern, mag vielleicht noch einen politischen Restsinn aufweisen, da es ohne Experten und Expertinnen kaum möglich sein wird, ein Problem dieser Tragweite anzugehen. Wenn er allerdings hinterherschiebt, Umweltschutz ließe sich am besten durch „wirtschaftliche Freiheit und Selbstverantwortung realisieren“, stellt dies nicht mehr dar als den Anruf des Mythos von der unsichtbaren Hand.
Was sich aktuell durchsetzt, ist eine postpolitische Demokratie, die das Politische durch eine Verwaltung des Status quo ersetzt und alles Weitere vom Markt erhofft. Wer oder was auch immer das sein soll.
An dieser Stelle mag man es bei dem Verweis bewenden lassen, Christian Lindner sei ein Idiot. Was sich in Äußerungen wie diesen spiegelt, legt allerdings ein vielsagendes Zeugnis über das Zusammenspiel von Demokratie und Kapitalismus ab. Denn wo die Politik sich mehr und mehr darauf beschränkt, die Lösung so wesentlicher Probleme wie des Klimawandels von der Dynamik des Marktes zu erwarten, macht sie sich schrittweise überflüssig. Demokratie bedeutet mehr als Wahlen. Sie liegt in der Entscheidung einer Gemeinschaft von Menschen, die Fragen ihres Zusammenlebens öffentlich auszuhandeln und sich dabei auf Rationalität und Vernunft zu stützen, damit sich das beste Argument durchsetzt und nicht das Interesse einiger weniger. Hannah Ahrendt nannte diesen Prozess „acting in concert“. Demokratie bedeutet also vor allem, die Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen nicht von abstrakten Vorstellungen wie der Geschichte oder dem Markt abhängig zu machen. Das ist nicht mit Wahlen getan und sie allein verbürgen keineswegs demokratische Zustände. Was sich aktuell durchsetzt, ist eine postpolitische Demokratie, die das Politische durch eine Verwaltung des Status quo ersetzt und alles Weitere vom Markt erhofft. Wer oder was auch immer das sein soll.
Die Erosion des Diskurses
Eine kapitalistische Wirtschaftsweise unterminiert fortwährend die Grundlagen der Demokratie. Dies kann unter günstigen Voraussetzungen und einem entsprechenden politischen Willen unter Kontrolle gehalten werden. Wo es aber wie heute an beidem mehr und mehr fehlt, läuft die Demokratie Gefahr, zu einem leeren Ritual zu werden. Diese Dynamik wird durch das Phänomen der Postfaktizität wesentlich befeuert.
„Postfaktisch“ wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2016 gewählt und ist in den Feuilletons kurzfristig zu einiger Berühmtheit gelangt. Der Begriff bezeichnet einen politischen Diskurs, dem es vor allem um das Schüren von Emotionen geht, um politische Interessen durchzusetzen. Doch das ist nicht das Wesentliche. Affekte waren schon immer ein wesentlicher Bestandteil der Politik. Neu am Phänomen der Postfaktizität und von immenser Bedeutung ist Folgendes: Sie bezeichnet einen Diskurs, der sich vom Begriff der Wahrheit vollständig emanzipiert hat. Dies bedeutet zugleich eine ebenso vollständige Emanzipation von der Lüge, denn die Lüge erkennt die Wahrheit in ihrem Versuch, sie zu verdecken, vorbehaltslos an. Postfaktische Diskurse sind weder wahr noch falsch, da sie weder dem einen noch dem anderen das geringste Interesse entgegenbringen; sie zielen auf das Kreieren einer Welt, die sich emotional richtig anfühlen soll.
In diesem Sinn ist Donald Trump kein Lügner (wie so oft gesagt wird). Denn um ein Lügner zu sein, müsste er sich in irgendeiner Weise um die Wahrheit scheren, ja, sie vielleicht sogar kennen. Stattdessen bietet er seinen Anhängern und Anhängerinnen eine Welt an, in der sich ihre Existenzängste auf illegale Migration über die mexikanische Grenze und den mangelnden Patriotismus schwarzer demokratischer Abgeordneter zurückführen lassen. Diese Welt ist zwar angstbesetzt und keineswegs schön, besitzt gegenüber der wirklichen Welt aber den Vorteil der Übersichtlichkeit und einer sich deutlich abzeichnenden Lösung: Ausländer raus!
Wenn Demokratie die vernunftbasierte, auf rationalen Argumenten gründende Aushandlung gesellschaftlicher Herausforderungen bedeutet, versetzt Postfaktizität dieser Form des Diskurses den Todesstoß.
Die von einem politischen Diskurs, der sich vom Begriff der Wahrheit lossagt, ausgehende Gefahr für die Demokratie liegt auf der Hand: Wenn Demokratie die vernunftbasierte, auf rationalen Argumenten gründende Aushandlung gesellschaftlicher Herausforderungen bedeutet, versetzt Postfaktizität dieser Form des Diskurses den Todesstoß. Vernunft und Rationalität waren in der politischen Debatte zwar seit jeher deutlich weniger vertreten als es wünschenswert gewesen wäre. Sie zu verabschieden, nimmt den Beteiligten jedoch gar die Möglichkeit, solches festzustellen und öffentlich zu kritisieren. Die Schnelligkeit, mit der die Öffentlichkeit sich an die Existenz der Trumps und Dutertes dieser Welt gewöhnt, legt Zeugnis davon ab, wie weit dieser Verfall schon gediehen ist und mit welcher Geschwindigkeit er sich ausbreitet.
Die Sache mit der Ökonomisierung
Postfaktizität fällt indes nicht vom Himmel. Wie der Hang zum Autoritarismus wurzelt auch sie im Kapitalismus. Wo die Produktion von Waren nicht mit dem Ziel der Bedürfnisbefriedigung geschieht, sondern stattdessen einen Selbstzweck darstellt, wenn also produziert wird, um daraufhin noch mehr produzieren zu können, geht es in der Wirtschaftssphäre, inhaltlich betrachtet, um nichts. Ob ein Unternehmen diese oder jene Ware herstellt, sie so oder so bewirbt, an diesen oder jenen Kundenkreis adressiert, ist allenfalls von strategischem Belang. Unter dem Strich zählt immer die entscheidende Frage: Verkauft es sich?
So wünschenswert eine Ökonomie wäre, die für die Menschen produziert (vielleicht sogar demokratisch von ihnen kontrolliert!) und nicht für sich selbst, lässt sich mit einer solchen Dynamik bis zu einem gewissen Punkt durchaus leben. Dies setzt allerdings voraus, dass es in der Gesellschaft Bereiche gibt, die nicht ökonomisch strukturiert sind. Das Bildungswesen oder der Gesundheitsbereich können hier als Beispiele dienen. Bereits an dieser Stelle werden viele wahrscheinlich Einspruch erheben. Wird das Bildungswesen nicht zusehends von Privatschulen erobert? Und ist der Gesundheitsbereich nicht massivem ökonomischem Druck ausgesetzt? Die Gesellschaft ist einer enormen Ökonomisierung ausgesetzt, in der nach und nach jeder Bereich den Gesetzen der Ökonomie entsprechend neu geordnet wird. Damit wird zugleich alles zu einer Ware. Diese Dynamik macht vor der Persönlichkeit der Menschen keineswegs Halt, wie der Trend zur Selbstoptimierung beweist.
Die Verbreitung postfaktischer Diskurse bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Ausdehnung der Logik des Tausches auf den Bereich des Politischen, wo Zeichen längst zu Waren geworden sind.
Die Frage der Verkäuflichkeit erobert sämtliche Lebensbereiche. In der Schule werden Leistungen gegen Noten getauscht, im Gesundheitswesen Fitness gegen Beitragsnachlässe, die Arbeit am eigenen Körper tauscht sich gegen Erfolg auf dem Partnermarkt und Bildung gegen einen hoch qualifizierten Job. Die Liste ließe sich verlängern. In einer vollständig durchökonomisierten Welt wird die Frage des erfolgreichen Tausches zum alles entscheidenden Kriterium des Erfolgs. Die zunehmende Verbreitung postfaktischer Diskurse bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Ausdehnung dieser Logik auf den Bereich des Politischen, wo Zeichen, wie alles andere auch, längst zu Waren geworden sind. Der universitäre Wissenschaftsbetrieb ist ein gutes Beispiel für diese Dynamik. Aufsätze und Bücher drücken kein Engagement für eine Utopie oder wenigstens eine Überzeugung aus. Stattdessen werden sie mit Blick auf Literaturlisten geschrieben, die bei der nächsten Bewerbung eingereicht, anhand eines genau festgelegten Punktesystems bewertet und anschließend gegen entsprechende Karriereoptionen eingetauscht werden. Als Zeichen sind sie längst zu Waren und damit austauschbar geworden. Nach und nach wird unser komplettes Leben neu arrangiert: Der Körper tauscht sich gegen Sex. Sex gegen Liebe. Liebe gegen Gesundheit. Und das alles zusammen gegen wirtschaftlichen Erfolg. Und so weiter und so weiter.
Zum Schluss
Der Erfolg autoritärer und rechter politischer Kräfte kann vor diesem Hintergrund kaum verwundern. Die fragile Allianz von Demokratie und Kapitalismus gerät mehr und mehr ins Wanken und verschafft all jenen Auftrieb, die das gleichberechtigte Aushandeln von Problemen schon immer für Zeitverschwendung hielten. Um die Demokratie zu schützen und politisch rechten Kräften den Boden zu entziehen, müssen wir über einen Ausstieg aus dem Kapitalismus nachdenken. Wenn dies nicht umgehend geschieht, werden wir irgendwann nicht mehr über das Vokabular verfügen, effektiven Widerspruch auch nur zu formulieren.
Der Text ist in Ausgabe 04/2019 DEMOKRATIE UND WIRTSCHAFT in der Rubrik TERRAIN erschienen. In dieser Rubrik stellen wir Theorien und Phänomene vor, die für unser gesellschaftliches Selbstverständnis grundlegend sind.
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