Die Politik – maßgebend oder maßlos?
von Wolfram Bernhardt
Politik steht für die Regelung von Angelegenheiten, die das Gemeinwesen betreffen. Aber woran kann man die Qualität von Politik bemessen? Hierür spielt das Thema Gerechtigkeit eine zentrale Rolle – oder vielmehr: sollte eine zentrale Rolle spielen. Schließlich steht Gerechtigkeit dafür, dass die Bedürfnisse aller berücksichtigt werden und man einen ausgewogenen Kompromiss im Blick hat. Aber was ist gerecht? Was nicht? Welches Verständnis von Gerechtigkeit legt man zugrunde? Und ab wann fängt Ungleichheit an, unmenschlich zu sein?
Das Thema Gerechtigkeit hat uns von Anfang an beschäftigt. So trug gleich die erste Ausgabe der agora42 im Jahr 2009 den Titel „Ökonomie & Gerechtigkeit“ und auch drei Jahre säter fragten wir erneut, wie es um das gerechte Wirtschaften bestellt ist. Sahra Wagenknecht antwortete:
„Es gibt heute eine völlig falsche Honorierung von Leistungen, die in Wirklichkeit keine sind. Beispielsweise ist es meines Erachtens keine Leistung, wenn jemand ein besonders perfides Finanzprodukt kreiert hat, mit dem reiche Leute Steuern sparen oder Banken Regelungen umgehen können, oder wenn eine Ratingagentur permanent falsche Ratings produziert. Trotzdem verdient man sehr viel Geld damit.“
So sehr man bei der Gerechtigkeitsdiskussion auf der einen Seite die Dominanz des Ökonomischen im Blick haben muss, so wenig heißt das auf der anderen Seite, dass man sich von der Wirtschaft leiten lassen darf. Die Wirtschaft kann in dieser Hinsicht keine Orientierung bieten. Denn eine ewig wachsende Wirtschaft hat kein Maß, das sie akzeptieren könnte – jedenfalls so lange nicht, bis sie an die ultimative Grenze stößt, sprich bis das Maß voll ist.
Umso verwunderlicher ist es, dass sich die Politik in den letzten Jahren mehr und mehr als Instanz verabschiedet hat, die das richtige Maß zwischen Profitstreben und Gemeinwohl, zwischen Umweltschutz und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen vorgibt. Woran liegt das? Sicherlich auch daran, dass in Vergessenheit geraten ist, dass sich Demokratie nur halten kann, „wenn sie nicht direkt vom ökonomischen Wohlstand abhängt“ (Gesine Schwan). Demokratie ist weit mehr, als nur die Bedingung für materiellen Wohlstand: Sie steht primär für eine Gesellschaftsform, die die Freiheit und Selbstbestimmung aller Individuen ermöglicht. Im Gegensatz dazu ist unsere auf Privateigentum aufbauende und auf Gewinne abzielende Wirtschaft immer ausschließend. Ein demokratischer Staat kann sich nicht aussuchen, wem er Rechte zugesteht und wem nicht, ein Unternehmen hingegen kann sich sehr wohl aussuchen, mit wem es zu tun haben will. Also gilt es anzuerkennen, dass die unternehmerische Freiheit – die Nutzung der Ressourcen und die Verteilung des Erwirtschafteten – nur dann gewinnbringend für das Gemeinwesen ist, wenn von der Politik gleichzeitig die Verantwortung definiert wird, die aus diesen Freiheiten erwächst. Darauf verweist auch Robert Habeck im Interview, wenn er sagt, dass die Politik die Rahmenbedingungen für unser Zusammenleben gestalten muss.
Aber noch etwas fällt auf, wenn man sich heute mit Politik befasst: das mangelnde Vertrauen in die heutigen Politiker, ja generell in die Art und Weise, wie Politik gemacht wird. Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn sich ein Politiker aus der Politik verabschiedet, weil er meint, dass gewisse Veränderungen im politischen Ordnungsrahmen derzeit nur erzielt werden können, wenn die Zivilgesellschaft den Druck auf die Politik erhöht – beispielsweise wenn der finanzpolitische Sprecher der Grünen, Gerhard Schick, sich aus der Politik zurückzieht, um die Nichtregierungsorganisation „Finanzwende“ zu gründen. So betrüblich diese Tatsache ist, so verweist dies umgekehrt auch darauf – wie Gerhard Schick selbst betont –, dass man Politik nicht nur auf die institutionalisierte Form reduzieren darf.
Der Ausdruck Politik leitet sich nämlich vom altgriechischen Wort politiká her, mit dem in den Stadtstaaten des antiken Griechenlands all jene Angelegenheiten bezeichnet wurden, die das Gemeinwesen – und das hieß zu dieser Zeit: die Polis – betrafen. Das Erstarken der Zivilgesellschaft ist insofern nicht zwangsläufig eine Bankrotterklärung der heutigen Politik, sondern vielmehr ein Indiz dafür, dass der Bürger sich seiner Verantwortung in einer Gemeinschaft endlich wieder stärker bewusst wird. Dass es nicht heißen kann: „Die da oben verbocken es“, sondern: „Wir alle sind verantwortlich“. Wenn dieses Bewusstsein zur Folge hat, dass die Zivilgesellschaft ihre Interessen wieder stärker und eigenverantwortlich vertritt, kann das dazu führen, dass auch die institutionalisierte Politik wieder den Mut fasst, Entscheidungen zu treffen, die Gewohnheiten und scheinbar Alternativloses in Frage stellen.
Besondern ergriffen hat mich das Treffen mit Jón Gnarr, dem ehemaligen Oberbürgermeister der Stadt Reykjavik, im Jahr 2012. Er demonstrierte, dass man durchaus ernsthafte Politik machen und dennoch ab und an über sich selbst lachen kann. Vielleicht ist es ja genau das, was die Politik heute am Dringendsten braucht: einen neuen Stil. Einen Stil, der Ernsthaftigkeit und Freude am Tun verbindet; einen Stil, der Menschen dabei hilft, den Politiker in sich zu entdecken; einen Stil, der zur Folge hat, dass wir tun, was getan werden muss. Und seien wir mal ehrlich: Welche anderen Optionen haben wir? Oder, um es mit den Worten des verstorbenen Sozialdemokraten Egon Bahr auszudrücken: Nichtstun ist kein Mittel der Politik, „sonst müßten wir auf Wunder warten, und das ist keine Politik.“
Aber lesen Sie selbst!