„Im Herzen bin ich Anarchist“ – Reinhold Messner im Interview

„Im Herzen bin ich Anarchist“

Im Gespräch mit Reinhold Messner über gesellschaftlichen Wandel

Foto: Wolfram Bernhardt

 

Herr Messner, wie definieren Sie Freiheit?

Für mich persönlich ist Freiheit die Möglichkeit, mich nach meinen Vorstellungen entfalten zu können. Aber ich möchte gleich ergänzen: nur in dem Maße, wie ich dabei die Entfaltung der anderen nicht störe. Ich bin im Herzen ein Anarchist, das sage ich ganz offen, und zwar in der klassischen Definition des Anarchismus: keine Macht für niemand! Niemand soll mich von oben herab regieren, genauso wenig wie ich jemanden von oben herab dirigieren will. Wenn ich diesen Freiraum habe, heißt das natürlich auch, dass ich voll verantwortlich bin für mein Tun.

 

Als „alpiner Anarchist“ haben Sie nicht nur die Grenzen des bis dato für möglich Gehaltenen, sondern auch jene der Toleranz Ihrer Zeitgenossen oftmals überschritten: Beispielsweise sind Sie ob Ihres Vorhabens, den Mount Everest ohne künstlichen Sauerstoff zu besteigen, öffentlich als Selbstmörder, Größenwahnsinniger und Spinner beschimpft worden …

Ich habe versucht, an der Grenze meiner persönlichen Möglichkeiten entlangzugehen. Mir ging es um die Frage: Komme ich um – wenn ich einen Fehler mache – oder habe ich Erfolg – wenn ich keinen Fehler mache? Im Zuge dessen ist es mir gelungen, vieles zu widerlegen, was, von wem auch immer, dogmatisch als Wahrheit postuliert wurde. Ich habe Tabus gebrochen. Ich habe immer wieder Grenzen, die allgemein als nicht überschreitbar galten, überschritten – aber nie meine persönlichen Grenzen. Sonst säße ich heute nicht hier.

 

Sind Sie ein Vertreter des freien Markts? In dem Sinne, dass jeder für sein eigenes Tun verantwortlich ist und es keine staatliche Regulierung geben darf?

Wo Betrug möglich ist, braucht es Regeln. Gerade in der Wirtschaft und vor allem in der Finanzwirtschaft. Wir haben ja gesehen, was passieren kann. Leider sieht es gerade nicht danach aus, als ob die Politiker die Kraft beziehungsweise die Macht hätten, diese Regeln durchzusetzen. In Zukunft werden wir weitere Blasen platzen sehen. Meiner Ansicht nach ist das ein Skandal, denn im Grunde war das, was viele Banker gemacht haben, knallharte Selbstbereicherung.

 

Bedeutet das dann nicht, dass eben doch der Staat alles regeln muss?

Aber wer ist denn dieser Staat? Der Staat sind doch wir. Im Grunde sind wir selbst schuld. Umso mehr erstaunt es mich immer wieder, wenn ich feststelle, zu was wir den Staat inzwischen haben verkommen lassen: zu einer riesigen Regulierungsbehörde. Nur, weil niemand Verantwortung will? In Europa gibt es so viele Regulierungen und Regelungen, die von allen akzeptiert werden, dass ich mir die Haare raufe. Ich habe mich dafür eingesetzt, Regeln abzuschaffen, statt neue einzuführen.

Wir besuchten Reinhold Messner im Mai 2011 auf Schloss Sigmundskron in Südtirol. Die Ruine beherbergt heute das vierte Bergmuseum des Südtiroler Extrembergsteigers. Foto: Wolfram Bernhardt

 

Sie haben einmal gesagt, dass Sie davon überzeugt sind, dass wir in einem kollektiven Selbstmord zugrunde gehen werden …

Dass die Menschen auf einen großen Haufen zusammenlaufen und sich aus Verzweiflung ins Wasser stürzen werden, glaube ich nicht. Dafür wären die Behörden nicht verantwortlich. Vielleicht trifft ein riesiger Meteorit die Erde. Viel dramatischer ist, dass wir dabei sind, den in der Bibel postulierten Anspruch „Macht euch die Erde untertan“ in radikalster Form umzusetzen. Auch wenn der Spruch ganz anders gemeint war, drückt er doch die Haltung aus, die unserem System zugrunde liegt: Wir machen uns die Erde untertan, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Haben nicht die neuen Volkswirtschaften China und Indien dieses System für sich entdeckt? Auch sie machen ihre Ansprüche geltend. Den Raubbau, die Zerstörung, die wir seit Beginn der Industrialisierung vor über 200 Jahren vollziehen, haben diese explodierenden Volkswirtschaften noch vor sich. Mit welchem Argument sollten wir diesen Ländern auch verbieten, unsere Fehler zu wiederholen? Wie es ausgeht, wissen wir nicht …

 

Wenn die Ursache dieser selbstzerstörerischen Entwicklung in unserem Wirtschaftssystem liegt, haben Sie dann nicht auch Anteil an ihr? In Managerseminaren geben Sie Menschen Ratschläge, deren vorrangiges Ziel es ist, Profite zu erwirtschaften. Sind Sie da nicht Öl im Getriebe des Systems?

Es ist schwierig, aus der Wachstumsspirale herauszukommen. Die Frage aber ist: Was mache ich besser? Ich investiere nicht in abstrakte Finanzprodukte, verantworte beispielsweise drei Bauernhöfe in den Bergen, die allesamt kaputt waren. Ich habe sie wieder zum Leben erweckt. Diese Bauernhöfe, die sehr hoch liegen, waren in einer globalisierten Welt schlichtweg nicht mehr rentabel. Ich habe ein Modell entwickelt, bei dem nicht mehr für den Weltmarkt produziert wird, sondern für den Ort. Die Produkte auf diesen Höfen werden veredelt und dort auf dem Teller verkauft. Das heißt, ich halte die Wertschöpfungskette – jetzt rede ich wie ein Ökonom – in einer Hand und garantiere somit auch die Landschaftspflege. Alle Höfe sind verpachtet und wirtschaftlich autark. Ich zeige also, dass man mit der ursprünglichsten Wirtschaftsform in unserer Region, der Landwirtschaft in den Bergen, überleben kann. Auf einem der Höfe leben zehn Leute, vorher hat dort niemand mehr leben können. Das ist Nachhaltigkeit und Ausstieg aus der Spirale zugleich.

 

Das Problem ist ja tatsächlich, dass viele gute Ideen heutzutage sofort ins Gegenteil verkehrt werden – Nachhaltigkeit ist zum reinen Marketinginstrument verkommen. Viele junge Menschen glauben nicht mehr daran, Positives bewirken zu können, weil alle Veränderungen letztlich wieder den großen „Global Playern“ in die Hände spielen. Sind die jungen Leute zu skeptisch?

Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich sehe, wie viel weniger Hoffnung die jungen Leute heute haben im Vergleich zu uns damals: Da ist so viel Skepsis – leider durchaus berechtigt. Ich habe mit 28 mein erstes Haus gekauft – als Grenzgänger, als der „absolute Spinner“. Heute undenkbar! Als ich anfing, mein Leben in die Hand zu nehmen, ging – obwohl ich nie etwas geerbt oder geschenkt bekommen habe – alles so selbstverständlich, einfach und schnell. Ich konnte mir im Grunde sicher sein, nie unterzugehen. Viel schwieriger war es, lebendig von einer Expedition nach Hause zu kommen. Da ich mir bezüglich der alltäglichen Lebensfragen keine großen Sorgen machte, nahm ich mir die Freiheit, immer wieder aufs Neue Abenteuer zu riskieren.
Heute höre ich zu 99 Prozent die Jungen sagen: „Ob ich das schaffe? Ob ich je eine eigene Wohnung mieten kann? Ob ich das Leben meistern kann?“ In Italien leben 60 Prozent der jungen Männer bis 35 bei ihrer Mama, und dies, obwohl viele von ihnen einen Job haben oder verheiratet sind. Das heißt, sie teilen sich ein Haus, damit die Spesen für alle Beteiligten geringer ausfallen. So schaffen sie es. Die existenzielle Frage wird bald also wieder wesentlich. Auch in Bezug auf die Rente: Heutzutage müssen viele Söhne und Töchter ihren Eltern finanziell unter die Arme greifen, damit es für alle zum Leben reicht.

 

Ist das Problem unserer heutigen Gesellschaft ein Zuviel an Freiheit, ein Zuviel an Optionen? Und das Verzweifeln an diesem Zuviel?

Im Gegenteil: Die allermeisten Menschen unterliegen im Grunde einer Pseudofreiheit. Sie haben gar nicht so viele Möglichkeiten beziehungsweise keine echten Wahlmöglichkeiten. Der Konsum stellt den äußersten Horizont ihrer Wahlmöglichkeiten dar, weshalb die allermeisten schon an den Konsum verloren gegangen sind. Die Möglichkeiten, sich wirklich zu entfalten, sind oft gleich null. Es wird immer schlimmer.
Nehmen wir einmal einen anderen Blickwinkel auf dieses Thema ein: Der Bergbauer galt einst als freier Mensch – deshalb kommt in Schillers Wilhelm Tell der Satz vor: „In den Bergen wohnt die Freiheit“. Die Bergbauern lebten damals völlig unkontrolliert. Hoch oben am Berg hatten sie eine Alm mit ein paar Kühen und Schweinen, eine Frau und ein paar Kinder und haben wie ein Hahn auf dem Misthaufen regiert. Nach unseren heutigen Maßstäben allerdings waren sie die unfreisten Menschen, die man sich vorstellen kann. Sie konnten abends nicht ins Dorf gehen – da musste die Kuh gemolken werden; sie konnten sich morgens nicht in die Sonne setzen – da musste das Heu eingefahren werden. Sie waren also völlig abhängig von der Natur und ihrer kleinen Welt. Sie waren lediglich frei von äußeren Mächten.

Sind wir heute freier? Mobiler vielleicht: Wir können im Supermarkt A oder B einkaufen, Preise vergleichen und alles kritisieren. Über den Konsum hinaus aber ist der Freiraum relativ klein. Ein Familienvater mit zwei Kindern und einer 100-Quadratmeter-Wohnung muss sehr fleißig sein und kann sich keine Krankentage leisten, da er ansonsten schnell den Job verliert – und dann hat er gar nichts mehr außer Sorgen.

 

Das vollständige Interview lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der agora42.

Die aktuelle Ausgabe versammelt Gespräche, die wir in den letzten neun Jahren mit unterschiedlichen Persönlichkeiten geführt haben.

Mit dabei sind u.a.:

RICHARD DAVID PRECHT  – MARGARETE MITSCHERLICH – ULRIKE HERRMANN – GÜNTER WALLRAFF – SAHRA WAGENKNECHT – HEINZ BUDE – GESINE SCHWAN

 

Sie ist hier versandkostenfrei erhältlich.